Leuchtende Schatten
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Leuchtende Schatten

  1. 328 Seiten
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Leuchtende Schatten

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Über dieses Buch

Mit einem Unfall am See beginnt die Freundschaft zwischen Ella und Harriet. Die beiden Mädchen, unterschiedlich aufgewachsen und erzogen, sind sich auf unmittelbare, sinnliche Weise vertraut - doch Harriet hat ein Geheimnis, das sie selbst ihrer besten Freundin lange verschweigt. Neben der Wahrheit um Harriets Vergangenheit wird Ella mit einem tiefgreifenden Verlust konfrontiert. Die politischen Ereignisse der Jahre 1943 und 1944 im siebenbürgischen Hermannstadt zwingen die Mädchen zu einem schnellen und unsanften Abschied von der Kindheit.Die Familiengeschichte mit ihren lebendig gezeichneten Figuren ist bestimmt durch Gegensätze: Die Verführungskarft einer zerstörerischen Ideologie, Traditionsbewusstsein und Sehnsucht nach Stabilität. Häuser, Straßen und Natur sind Zufluchtsorte und Identitätsräume und spiegeln doch das Ende einer Epoche. Der beginnenden Auflösung einer jahrhundertealten Kultur wird Lebensmut, humorvoller Pragmatismus und der Wille zum Glück entgegengesetzt. Letztlich bleibt Ella die Zeit mit Harriet in bildhafter Intensität gegenwärtig, denn "Glück wird durch Leid nicht aufgehoben", und die Erfahrung des Verlusts lässt die Erinnerung umso leuchtender werden.Poetisch und mit beeindruckender Leichtigkeit erzählt Iris Wolff in ihrem zweiten Roman von der Unantastbarkeit der Freiheit, von Freundschaft und Liebe in der Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783701362288
II
Licht und Schatten
Man kann sich immer entscheiden, welche Geschichte man erzählen will. – Diesen Satz hörte ich oft von meinem Vater. Erzähl dem Kind keinen Unsinn, entgegnete Mutter darauf. Man soll immer bei der Wahrheit bleiben und nirgendwo sonst.
Mutters Grundsatz bestimmte ihre Worte und Handlungen. Sie entschied sich für die Wahrheit, blieb, wo immer es ging, bei den Tatsachen. Es sah so leicht aus, und doch konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, als kenne ich nur ein Bruchstück, den Saum der Wahrheit. Ich wunderte mich, wie selbstverständlich sich alle an sie hielten, nach ihr strebten, sie als Richtschnur nahmen, als Kompass und als Wünschelrute.
Vater wusste, dass die Wahrheit noch findiger, beweglicher, wandelbarer, unbeständiger ist als die Lüge. Sie hat mehr Macht als jene, man konnte sich immer auf sie berufen, sie zum Zeugen erheben und sich bei ihr aufgehoben fühlen. Man konnte sie für sich beanspruchen, sich hinter ihr verstecken und aufhören, Fragen zu stellen, aus Angst, Bequemlichkeit, Vermessenheit. Jeder Wunsch kennt seine eigene Wahrheit. Und manche Glaubenssätze werden nur aufgestellt, um dem Unbehagen zu entfliehen, über die Natur der Wirklichkeit rein gar nichts sagen zu können.
Es gibt geschichtliche Gewissheit, eine Unwiderlegbarkeit, die sich nicht aufweichen lässt. Zahlen, an denen es kein Vorbeikommen gibt, Ereignisse, die unangreifbar sind. Doch das, was wir nicht wissen, ist so groß, dass es immer mehrere Wege gibt, von einer Begebenheit zu sprechen, und jede neue Erzählung macht all die anderen vor und nach ihr nicht verzichtbar. Manches lässt sich nicht zu Ende erzählen, manches wird nie vergangen sein, auch wenn es zeitlich noch so weit zurückliegt.
Man kann sich immer entscheiden, welche Geschichte man erzählen will. Ich möchte von der Liebe erzählen und weiß, dass sie Leid enthält. Ich will von Freundschaft sprechen und erzähle von Verrat. Ich berufe mich auf Mut und Mitgefühl und kann unser Scheitern nicht verschweigen. In der Erinnerung ist alles für immer aufgehoben, doch Gegensätze liegen so nah beieinander, dass sie manchmal, selbst wenn man sich mit bestem Gewissen auf die Wahrheit beruft, nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.
Es war Ende November, die Bäume hatten ihr Laub verloren. Nur wenige Blätter hielten sich in den Ästen wie schwarze, erstarrte Vögel.
Bei dem Kälteeinbruch Anfang des Monats hatte Mutter die eingemotteten Wintersachen hervorgeholt, Mäntel zum Lüften hinausgehängt, Pelzkrägen gebürstet und Handschuhe geflickt. Doch nach zwei Wochen war alles wieder vorbei wie ein unwirklicher, verfrühter Spuk. Wolken mit langen Regenschleppen zogen vorüber, Wind wirbelte das Laub in den Gärten auf, und eines Morgens glänzte das Dächermeer der Stadt unter einem klaren Himmel, als stünde der Frühling bevor. Die Sonne löste den Geruch von welkem Blattwerk und feuchter Erde aus den Höfen, an manchen Stellen war dieser Duft so intensiv, überkam einen so unmittelbar, als würde er sich in unsichtbaren, fest umrissenen Becken sammeln. Die Beete waren geharkt, Laubfeuer brannten, und die Kälte, die sich an den Brunnen einzunisten begonnen hatte, war fort.
Großmutter saß jeden Nachmittag eine Stunde in der Sonne.
„In der Ruhe liegt die Kraft“, sagte sie blinzelnd, wenn man fragte, was sie da eigentlich mache. Sie stellte einen Stuhl in den wandernden Sonnenstreifen, schloss die Augen und verfiel in eine Art Starre, die nicht einmal lautes Vorbeigehen (übermäßig geräuschvoll und dazu bestimmt zu prüfen, ob sie nicht doch aus der Ruhe zu bringen sei) stören konnte. Ihre Hände lagen im Schoß, die erschlafften Züge nahmen ihr jede Strenge und verliehen ihr etwas Mildes, Nachsichtiges.
Mutters Bauch hatte sich gerundet, längst wusste die Familie von ihrer Schwangerschaft. Mir hatte sie es gleich nach Vaters Abreise erzählt, in einem Ton, als sei sie nicht sicher, wie ich die Nachricht aufnehmen würde. Ich freute mich aufrichtig und sagte, dass ich mir eine Schwester wünschte. Doch es versetzte mir einen Stich, wann immer ich daran dachte. Ich war davon überzeugt, dass meine Eltern nun etwas verband, das tiefer reichte als ihre Liebe zu mir. Sie hatten sich ein zweites Kind gewünscht, dass dies so lange nicht geklappt hatte, führte Großmutter darauf zurück, dass meine Mutter zu mager war. Schmugeritzig war ihr Wort dafür. Es gehörte zu unserem Familienwörterbuch und sie sprach es in drei Silben unterteilt aus, sowohl tadelnd wie spöttisch. Man brauche am Leib immer ein wenig Reserven, wovon solle man sonst in schlechten Zeiten zehren?
„Du findest immer etwas zu bekritteln“, sagte Mutter. „Die einen sind dir zu dick, die anderen zu dünn. Wer ist denn überhaupt richtig?“
„Niemand ist richtig. Das ist es ja gerade“, antwortete Ursula-Oma im Brustton tiefster Überzeugung.
Mitte September hatte das neue Schuljahr begonnen. Harriet, Daggi und ich gingen jetzt in die Quarta, die letzte Klasse des Untergymnasiums. Der Schulhof war mit Fahnen geschmückt worden und die Schulleiterin hielt eine Rede, in der sie ihren Schülerinnen ins Gewissen sprach. Sie verlangte, dass wir unserer Pflicht nachgingen und uns anständig verhielten, nicht nur, wenn das Auge eines Vorgesetzten auf uns ruhte. Dabei wanderte sie die Reihen von Mädchen ab, und es kam mir vor – wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein –, als bliebe ihr Blick vorübergehend an meiner Cousine hängen, die ihre Worte mit unbewegtem Gesicht aufnahm. Zuletzt appellierte sie an unseren Gemeinschaftssinn, der in diesem Schuljahr unentbehrlich sei. Es fehlten die Lehrer, die an der Front waren, und die Lehrerinnen, die sich zu Verwandten aufs Land hatten versetzen lassen, um auf den Bauernhöfen auszuhelfen. Prima und Sekunda teilten sich ein Zimmer, und der Unterricht der anderen Klassen konnte nur aufrechterhalten werden, da einige Fächer in den Zeichen- und Physiksaal verlegt wurden.
Es verging keine Woche, ohne dass mehrere Klassen vom Unterricht befreit waren. Bereits im Oktober wurde die Quarta, gemeinsam mit zwei anderen Klassen, zur Kartoffelernte ins nördlich von Hermannstadt gelegene Hahnbach abgezogen. Wir wurden in einer Turnhalle untergebracht, jedes Mädchen hatte sich seine Schlafstelle aus Stroh selbst hergerichtet, und obwohl nur kratzige Felddecken und Kopfkissen zur Verfügung standen, hatte ich nie Probleme einzuschlafen. Die Feldarbeit war ungewohnt, ich lag am Abend im Stroh, hörte auf das Flüstern, das Murmeln und Lachen, das so lange von Bett zu Bett ging, bis eine der Lehrerinnen, die als Aufsichtspersonen in der Turnhalle schliefen, uns zur Ordnung rief.
Harriet war für die Ernteeinsätze entschuldigt. Es betrübte sie, doch ihr Vater ließ nicht mit sich reden – ihre Konstitution tauge nicht für harte körperliche Arbeit. Bei den anderen Mädchen verursachte ihr Fehlen Unmut. Ihre ganze Erscheinung, ihre Neigung, mit Worten sparsam umzugehen, auf der Stuhlkante zu sitzen, diese zurückhaltende Art, alles beobachtend und wenig preisgebend, hatten nicht dazu beigetragen, dass sie in der Klasse akzeptiert wurde. Mädchen sollten sportlich und kräftig sein, nicht zimperlich und verzärtelt. Sie war auch äußerlich nicht der nordische Typ, dem ich, das wusste ich, seit wir vor anderthalb Jahren von einer Forschergruppe aus Deutschland untersucht worden waren, aufgrund meines Knochenbaus, der Haar- und Augenfarbe zur Zufriedenheit der Wissenschaftler entsprach.
Ich hatte versucht, sie zu verteidigen, zu erklären, dass es weniger ihrem Willen als dem ihres Vaters entsprach, dass sie sich nicht für zu fein hielt, sondern im Gegenteil gerne Teil unserer Gemeinschaft sein würde. Inzwischen musste ich einsehen, dass ich das Misstrauen, das sich ihr gegenüber erhärtet hatte, nicht auflösen konnte, und manchmal fing ich an, selbst an der Rechtmäßigkeit ihres Fehlens zu zweifeln. In die Villa Löw hatte der Krieg noch keinen Einzug gehalten, keine Opfer verlangt. Im efeubewachsenen Haus, in dessen Herbstgarten Chrysanthemen und Astern blühten, ging alles seinen gewohnten Gang. Das Dienstmädchen stand an der Tür des Esszimmers, immer bereit, etwas aufzutragen oder abzuräumen, wenn wir uns zum Mittagessen eingefunden hatten. Asta Weissenberg folgte aufmerksam, doch zumeist schweigend unseren Gesprächen, Harriets Vater, stets im Anzug und mit vollendeten Manieren, war bei Tisch um leichtere Themen bemüht als den Krieg.
Ich schämte mich solcher Gedanken und redete mir ein, dass ich es schlicht bedauerte, das Leben auf dem Land nicht mit Harriet teilen zu können. Dass wir nicht gemeinsam auf dem Feld waren, sangen und am Lagerfeuer saßen. Dass es schade war, dass ich nicht neben ihr im Stroh lag. Keine andere Stimme kam ihrer Stimme gleich, kein anderes Lachen steckte mich so sehr an. Bei den Ernteeinsätzen wurde offenbar, wie sehr ich mich in den letzten Monaten abgeschottet hatte. Harriet war mir immer genug. Wenn sie da war, war alles andere unwichtig. Fehlte sie, fiel es mir schwer, mich auf andere einzulassen, und so zog ich es oft vor, allein zu bleiben. Die Begeisterung für den Krieg, das Gefühl, Teil eines großen, ruhmreichen Ganzen zu sein – Vaters Fortgehen und meine Freundschaft zu Harriet hatten mich davon entfernt, auf eine seltsam kompromisslose Weise.
Daggi war in den letzten Monaten schweigsamer gewesen als sonst. Sie verzichtete immer häufiger auf ihr morgendliches Ritual auf dem Weg zur Schule. Sie betrat das Schulgebäude ungeschminkt, und ihr Rock hatte die vorgeschriebene Länge. Die Kniestrümpfe waren hochgezogen, ihre widerspenstigen Locken mit Klammern aus dem Gesicht gesteckt. Ich suchte sie manchmal an der Turnhalle auf, wo sie in der großen Pause rauchte. Doch sie lächelte nur, wenn ich sie fragte, was los sei, auf jene rätselhafte und überlegene Art, wie nur sie es konnte. Sie hatte angefangen, sich mit zwei Mädchen aus der Sexta, Mika und Rosa, zu treffen und kam in der Pause kaum noch zu Harriets und meiner Bank.
Erst ein unliebsamer Besuch führte uns eines Nachmittags wieder zusammen. Melitta und ihr missratener Sohn Gregor waren aus Agnetheln angereist. Großmutter hatte Buchteln gebacken und mit Kaffee aufgewartet, den ihr Herr Weissenberg erneut hatte zukommen lassen. Da es nach schier endlosen Stunden aussah, als würden sie auch zum Abendessen bleiben, flohen Daggi und ich kurzerhand in unsere Kemenate.
Im Schuppen, hinter Schaufeln, Schlitten und Gerätschaften, gab es, für jeden Uneingeweihten unsichtbar, ein Versteck. Einen Unterschlupf, begrenzt durch eine ausgemusterte Tür und einen schweren Holztisch, der hochkant an die Wand gelehnt war. Für Licht und Belüftung sorgte ein Loch an der Rückseite des Schuppens, das entsprechende Holzstück konnte passgenau eingesetzt werden. Wir hatten uns dieses Versteck als Kinder eingerichtet und über die Jahre alles zusammengetragen, was wir brauchten, um hier einige Stunden verbringen zu können. Nützliche Dinge wie Decken, Werkzeug, Gläser, Papier und Stifte, ein Klappmesser, Streichhölzer und Kerzen, teils aufbewahrt in einem Arztkoffer, den Großmutter vor Jahren im Schuppen abgestellt und vergessen hatte. Seit kurzem auch ein Aschenbecher und Bierflaschen, die Ferdi gebunkert hatte.
Daggi saß mit einer Strickjacke um die Schultern auf der Decke, die wir als Schutz vor Bodenkälte ausgebreitet hatten. Die Sonne ging unter, ein rötlicher Schein drang durch das Lüftungsloch, überglänzte ihre Haare, ein Flammenmeer aus Locken. Sie hatte geistesgegenwärtig eine Kanne Tee aus dem Haus geschmuggelt.
„Armer Ferdi“, sagte ich mitfühlend und nahm eine Tasse entgegen. Er hatte den Zeitpunkt zur Flucht verpasst.
„Ach, bedaure ihn nicht. Ferdi findet noch am ehesten etwas, worüber er mit unserem goldigen Gregor sprechen kann.“
Ich wiegte unentschlossen den Kopf. Gregor, der schon als Kind Freude daran gehabt hatte, Spinnen die Beine auszureißen, Katzen am Schwanz zu packen und im Kreis zu schleudern, hatte heute Sprüche von sich gegeben, die mir Übelkeit verursachten.
„Er hat gesagt, dass für ihn jedes jüdische Mädel Freiwild sei. Sie seien Sünde wider das Blut, doch ein wenig Spaß sollte man mit ihnen haben dürfen.“
„Gregor muss sich doch nur großtun. Das war schon immer so und wird sich auch nicht ändern.“
Ich bezweifelte das. Die Zeiten, in denen Gregors Charakterlosigkeit gemaßregelt wurde, waren vorbei. Ich hatte schon öfter beobachtet, dass diejenigen, die Freude daran hatten, andere zu unterdrücken, geschützt, geradezu gefördert wurden. Sie verpflichteten sich der höheren Sache, doch sie verfolgten nur umso rücksichtsloser ihre eigenen Ziele.
Am Kaffeetisch waren die neuesten Meldungen von der Front besprochen worden. Marga-Tante blühte auf, da sie in Melitta eine Verbündete fand. Nachdem das Gespräch eine Weile von einer vermeintlichen Erfolgsmeldung zur nächsten gesprungen war, stellte Mutter ihre Tasse ab und sagte: „Soweit ich weiß, erzielen die Sowjets tiefe Einbrüche in die Verteidigungslinie am Dnjepr. Nichts hat bislang den Vormarsch der Roten Armee gen Westen aufhalten können.“
„Die diesjährige Ansprache des Führers in München war voller Zuversicht“, erwiderte Melitta mit einer Stimme, als müsse sie einem Kind etwas erklären. „Wenn er die Hoffnung nicht verliert, so sollten wir es auch nicht.“
Es war gerade dieser Ton, der Mutter reizte. Ihre Schultern strafften sich, sie rückte mit dem Stuhl nach hinten, als brauche sie einen größeren Bewegungsradius: „Die Wehrmacht musste Afrika räumen, die Alliierten sind auf Sizilien gelandet, und es scheint, als ob sie Schritt für Schritt die Lufthoheit in Europa zurückgewinnen. Und alles, was euch einfällt, ist, Durchhalteparolen zu verbreiten, eine Wende zu beschwören, die immer unwahrscheinlicher wird, und statt von Sieg, von Endsieg zu sprechen.“
Ich sah, wie Gregors Augen sich verengten, und wünschte, Mutter würde von ihren Widerworten ablassen. Es kursierten Nachrichten aus Russland, Italien und Ungarn. Wir wussten nicht, was wir glauben sollten. Marga-Tante war überzeugt, dass der Krieg siegreich beendet werden würde, Mutter hoffte nur, dass er so plötzlich vorbei war, wie er begonnen hatte.
Melittas Mann hatte sich im Sommer ebenfalls freiwillig gemeldet und diente als Waffenmeister in Offenburg. Es war ihr erster Besuch ohne ihn. Die große, ein wenig verhärmt aussehende Frau, immer im langen Mantel – einem Fledermausmantel, wie Daggi spottete – sah Marga-Tante an, als habe sie die Worte ihrer Schwester zu verantworten. Gregor hingegen musterte meine Mutter mit unverhohlener Feindseligkeit.
„Meta, du vergisst dich“, sagte Marga-Tante mit einem beunruhigten Blick auf die Gäste.
Gregor hatte damit begonnen, seine Serviette zu falten. Er klappte sie zusammen, falzte die Kante mit seinem Daumennagel und faltete sie dann wieder auf. Wenn mich vorher sein Blick beunruhigt hatte, so war es jetzt die Tatsache, dass ich seine Augen nicht sehen konnte.
„In der G...

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