Wo die Fahrt zu Ende geht
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Wo die Fahrt zu Ende geht

  1. 300 Seiten
  2. German
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Wo die Fahrt zu Ende geht

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Dora und Hannes lernen einander kennen, als sie noch an die Utopie der klassenlosen Gesellschaft glauben. Im studentischen Umfeld der 70er Jahre bahnt sich eine verquere Liebesbeziehung mit Komplikationen an. Die unerwartete Wiederbegegnung nach mehr als dreißig Jahren schwemmt viele Erinnerungen an die Oberfläche, und beide sehen sich mit den ramponierten Idealen ihrer Vergangenheit konfrontiert. Einem sanften Aufglühen ihrer gemeinsamen Geschichte im "Nachsommer der Revolution" stehen abermals Hindernisse, Verwirrungen und offene Fragen über bislang unbekannte Bedürfnisse entgegen. Sie stören jene Lebensruhe, die Hannes mittlerweile so sehr schätzt.Auf pointierte, unterhaltsame Weise erzählt Christian Schacherreiter Lebensgeschichten, die geprägt sind von der Suche nach Sinnstiftung und Zugehörigkeit.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783701362318
II
LISA
1
Der Herr Landeshauptmann selbst habe das Projekt vorgeschlagen, sagte Franz Xaver, nicht nur vorgeschlagen, sondern gewissermaßen angeordnet. Wenn er den Herrn Landeshauptmann richtig verstanden habe, dann sei es dessen Absicht, die segensreiche Wirkung der Ordensklöster für das historische Werden unseres schönen Landes stärker im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern, als dies bislang gelungen sei. Wie wären denn Bildung und soziales Gewissen ins Land gekommen ohne Klosterschulen, ohne Ordensspitäler! Der mediale Mainstream sei einseitig kirchenkritisch, die Verdienste der katholischen Kirche würden konsequent ignoriert.
Franz Xaver, der während dieser wortreichen Einleitung in seinem Büro auf- und abgegangen war, beugte sich zu mir herunter und legte seine linke Hand auf meine rechte Schulter wie ein gütiger Vormund, eine seltsam anmutende Geste, wenn man bedenkt, dass ich um sieben Jahre älter bin als mein Chef: „Hannes, ich habe dich als Projektleiter vorgeschlagen. Der Herr Landeshauptmann war sofort einverstanden. Guter Mann, der Doktor Rettenpacher, hat er gesagt, sehr solide! Dem können wir das anvertrauen. Natürlich kannst du für die Dauer des Projekts die eine oder andere Routinearbeit abgeben, und es besteht kein Zweifel, dass die Klöster selbst Interesse an der Sache haben. An deinen Einsatzorten wirst du bestens unterstützt werden, beziehungsweise – ha, werdet ihr unterstützt werden! Der Herr Landeshauptmann bewilligt uns nämlich eine wissenschaftliche Assistentin, eine junge Historikerin. Ein Angebot, das wir nicht ablehnen können. Ich weiß, was du sagen willst, Hannes, da hat wahrscheinlich der Herr Landeshauptmann irgend einem guten Freund einen kleinen Gefallen getan. Mag schon sein, das heißt aber nicht, dass die junge Dame unfähig ist. Betrachte es als Win-win-Situation.“
Nicht alle Mitarbeiter des Landesarchivs mochten unseren Direktor. Manche hielten ihn für arrogant und zynisch, andere für einen überschätzten Parteigünstling, wieder andere für beides. Das eine ist so falsch wie das andere – oder zumindest allzu vereinfachend. Franz Xaver Jungreithmayer kommt zwar aus dem bürgerlichen Establishment, sein Großonkel war Landesrat, sein Vater ein ranghoher Beamter der Landesregierung. Natürlich gehen da die Türen leichter auf als für unsereinen, aber Franz Xaver – davon bin ich überzeugt – hätte seinen Weg auch ohne familiäre Trumpfkarte gemacht. Ich habe seine Dissertation und ein Dutzend Aufsätze aus seiner Hand gelesen. Das bewegt sich alles auf hohem Niveau. Er war bis vor fünf Jahren Universitäts assis tent in Graz. Nach seiner erfolgreichen Bewerbung um die Direktorenstelle übersiedelte er nach Linz und brachte eine Vorzeigefamilie mit, seine Frau Maria, aus einer südsteirischen Weinbauernfamilie stammend, attraktiv, sympathisch, Gymnasiallehrerin für Sport und Biologie, und seine Söhne Heinrich und Josef, der eine neun, der andere zwölf Jahre alt.
Das erste Mitarbeitergespräch, das der damals neue Direktor mit mir führte, erwies sich als Beginn einer für beide Seiten glücklichen Zusammenarbeit. Franz Xaver fragte mich ohne Umschweife, warum ich mich nicht um den Leiterposten beworben hätte. Ich sei doch als mehr oder weniger logischer Nachfolger im Gespräch gewesen. Ich antwortete überzeugungsgemäß, dass ich für eine Führungsposition dieser Art ungeeignet sei. Meine Selbsteinschätzung teile er zwar nicht, entgegnete Franz Xaver, aber es sei für ihn wichtig abzuklären, ob sich dieser, wie er sich ausdrückte, um sieben Jahre ältere, als Fachkapazität geachtete Doktor Rettenpacher nicht insgeheim für den besseren Direktor hielte. Ganz offen gesagt, solche Mit arbeiter könnten zum Problem werden. Ich konnte meinen Chef davon überzeugen, dass er von meiner Seite nichts zu befürchten habe. Das Problem der Führungsposition bestehe für mich darin, dass man immerzu für die Flausen und Schwachstellen der Mit arbeiter verantwortlich und obendrein den Zwängen der Beamtenhierarchie ausgesetzt sei. Wenn ich hingegen nur für meine eigene Arbeit verantwortlich bin, weiß ich genau, mit wem ich es zu tun habe und was ich erwarten kann. Ich wolle auch in Zukunft meine Arbeit zu meiner und seiner Zufriedenheit erledigen, so wie ich sie bislang zur Zufriedenheit seiner beiden Vorgänger erledigt hätte.
Das Wort Freundschaft wäre damals noch unpassend gewesen, etwas zu pathetisch, aber spürbare Sympathie, die über das rein Berufliche hinausreicht, war zwischen Franz Xaver Jungreithmayer und mir von Anfang an da. Ich war nicht nur sein Stellvertreter im Fall seiner Abwesenheit, eine Funktion, die ich glücklicherweise nur selten ausfüllen musste, wir tranken auch ein- oder zweimal im Quartal miteinander ein Glas Wein. Ich erkundigte mich dann nach seinen Söhnen. Er fragte nach meinem Wochenendhaus. Und wenn wir uns voneinander verabschiedeten, deuteten wir sogar eine Umarmung an. Mittlerweile – doch dazu später.
Die schlichteren Mitarbeiter fühlten sich von Franz Xavers Sprechweise verunsichert. Er befleißigte sich der traditionellen Beamtenrhetorik, spielte aber gleichzeitig mit diesem formelhaften, konservativ anmutenden Duktus. So lag immer etwas Ironisches in seiner Sprache, und wenn er der Herr Landeshauptmann sagte, wusste man nicht, ob es respektvoll oder satirisch gemeint war, vielleicht beides, denn auch mit seiner betont saloppen Art, maßgeschneiderte Trachtenanzüge zu tragen, provozierte Franz Xaver Jungreithmayer die Frage: Meinen Sie das ernst, Herr Direktor?
„Ich gehe davon aus“, sagte Franz Xaver, „dass es dir eine besondere Ehre und Freude ist, dass dir der Herr Landeshauptmann diese Projektleitung überträgt. Es geht immerhin um ein Kern- und Zukunftsthema unseres schönen Bundeslandes.“
Ich musste meine Erheiterung über Franz Xavers Formulierung nicht verbergen und nahm mit angedeuteter Verneigung sein Sprachspiel auf: „Davon kannst du ausgehen, sehr verehrter Herr Direktor. Du siehst mich sogar tief ergriffen.“
Franz Xaver blickte mir eindringlich in die Augen, drückte mit Festigkeit meine Hand und sagte: „Ich danke dir, mein lieber Doktor, ich habe nichts anderes von dir erwartet.“
„Unklar ist mir noch, was am Ende des Unternehmens herauskommen soll.“
„Wir denken an zwei Schienen, einerseits die wissenschaftliche, andererseits die volksaufklärerische. Das heißt: ein prominent besetztes Symposium mit anschließender Fachpublikation, aber auch was Lehrhaftes und Vergnügliches für die Untertanen, pardon, für die Bürgerinnen und Bürger, also etwas mit vielen bunten Bildern, damit die Analphabeten unter den mündigen Wählerinnen und Wählern was zum Anschauen haben. Sollte sich nebenher noch das eine oder andere ergeben, können wir darüber reden. Das Projekt ist gut dotiert, in Zeiten wie diesen ein Glücksfall!“
Hildegard Niederhammer, die Direktionssekretärin, war eine der wenigen im Haus, die mit dem sprachlichen Niveau ihres Chefs mithalten konnte. Behutsam hatte sie an die Tür geklopft, vorsichtig dieselbe einen Spalt geöffnet.
„Verzeihung, Herr Direktor, das Fräulein Binder ist jetzt da. Sie wollten, dass ich Ihnen ihr Eintreffen melde, solange der Herr Doktor Rettenpacher noch da ist.“
„Danke, Frau Niederhammer, aber befleißigen Sie sich, bitte, künftig einer gendermäßig korrekten Amtssprache. Die Vokabel Fräulein ist aus emanzipatorischen Gründen ersatzlos gestrichen worden. Un ab hängig vom Familienstand der jungen Dame haben wir es mit Frau Magistra Lisa Binder zu tun. Selbige bitten Sie jetzt mit gebotener Höflichkeit herein.“
„O pardon, Herr Direktor, selbstverständlich“, sagte Frau Niederhammer mit wirkungsvoll gespieltem Schuldbewusstsein und verschwand.
„Das ist sie“, sagte Franz Xaver zu mir. „Lisa Binder, deine Novizin.“
„Das geht aber schnell, fast bedrohlich schnell.“
„Ich weiß, du alter Solipsist. Am liebsten würdest du alles alleine machen, aber diesmal hast du keine Chance, der Teamarbeit zu entkommen. Der Herr Landeshauptmann in seiner Weisheit und Güte gewährt dir eine Mitarbeiterin und du bist, bitteschön, dankbar. Witz beiseite, Hannes, du wirst noch froh sein, sie zu haben. Sie bringt hervorragende Zeugnisse mit, hat höfliche Umgangsformen und ist hochmotiviert. Wie ich den Unterlagen entnommen habe, ist Lisa Binder einfacher Leute Kind, eine Aufsteigerin sozusagen, so wie du. Das sind ja immer die Besten. Ehrgeizig. Fleißig. Zuverlässig. Die haben noch was zu gewinnen.“
„Frau Magistra Binder“, tönte Hildegard Niederhammer.
„Kommen Sie zu uns, liebe Frau Binder. Da kann ich Ihnen gleich Ihren unmittelbaren Chef vorstellen, den Doktor Rettenpacher, unsere Koryphäe für regionale kulturwissenschaftliche Forschung. Sie werden viel lernen bei ihm.“
„Das Gegenteil wird der Fall sein“, entgegnete ich. „Sie kommen frisch von der Universität, Frau Kollegin, Sie sind auf dem neuesten Stand der Forschung. Ich werde von Ihnen profitieren.“
„Immer charmant, unser Herr Rettenpacher“, sagte Franz Xaver, „tut so, als hätten wir ihn für dieses Projekt aus der Pension zurückgeholt.“
Die junge Frau gab mir die Hand und wusste offensichtlich nicht so recht, wie sie auf mein Kompliment reagieren soll. Mir fiel ein Anflug von Unsicherheit auf, von abwartender Vorsicht und lauernder Zurückhaltung. Sie war in Räumen wie diesen noch nicht heimisch. Aber sie lächelte mich aus schönen graublauen Augen an, die in reizvollem Kontrast zu ihrem halblangen, glatten, schwarzen Haar standen. Ein sympathisches, kluges Gesicht, dachte ich. „Setzen wir uns doch“, sagte Franz Xaver und zeigte auf den freien Polstersessel. Auf dem saß sie jetzt. Lisa Binder, in engen Jeans und lila T-Shirt. Hübsch? Ja, hübsch.
Aber mehr als Lisa Binder und die kulturelle Potenz oberösterreichischer Klöster beschäftigten mich an diesem Tag Dora und der sirrende Nachklang, den der Vorabend bei mir hinterlassen hatte – unser Zusammensein in Doras Wohnung, unser Herumräumen in ausgepackten Erinnerungsstücken, das überraschend Vertraute, die Nähe, die Anziehung. Es hatte nicht viel gefehlt, und wir wären im Bett gelandet, eine ebenso irritierende wie reizvolle Vorstellung. Schon am Vormittag hätte ich Dora gerne angerufen. Was mich davon abgehalten hatte, wusste ich nicht. Als ich nach dem Gespräch bei Franz Xaver in mein Büro zurückgekehrt war, gab es aber kein Zögern mehr. Es war fünfzehn Uhr. Ich wollte Dora an diesem Abend wiedersehen. Was sollte ich ihr vorschlagen? Schon wieder Abendessen? Unter anderem vielleicht, aber der fortgeschrittene Stand unserer Wiederannäherung verlangte nach Steigerung. Was für das Mädchen Disco und Kino sind, sind für die kultivierte Frau Konzerthaus und Theater. Ich suchte auf der Homepage der Landesbühne nach einem geeigneten Angebot, fand eine Komödie von Molière und sicherte sofort zwei Karten. Dann rief ich Dora an, erreichte sie aber nicht. Ich versuchte noch zu arbeiten, wurde aber immer wieder von der Erin nerung an unseren Abschiedskuss abgelenkt. Ich trieb mein Gedankenspiel mit einem frivoleren Verlauf dieses Abends, kam dabei aber nicht weit, weil ich mir Doras Körper, den ich vor dreiunddreißig Jahren zum letzten Mal nackt gesehen hatte, nicht mehr vorstellen konnte. Wieder griff ich zum Telefon, wieder ergebnislos. Ich hinterließ eine Nachricht, halb Wahrheit, halb Lüge: Hallo, Dora, hier Hannes, ich habe für heute Abend zwei Theaterkarten, „Tartuffe“ von Molière, aber meine Schwester fällt wegen Migräne aus. Wenn du Zeit und Lust hast mitzukommen, würde ich mich freuen. Ruf mich bitte so bald wie möglich zurück.
Mittlerweile war es siebzehn Uhr geworden, ich hatte soeben meinen PC heruntergefahren und die Hoffnung auf einen gemeinsamen Theaterabend mit Dora aufgegeben. Etwas verdrossen stellte ich zwei abgegriffene Handbücher ins Regal, als mein Handy summte. Dora. Ich sei jetzt ihre Rettung. Sie habe nämlich eine furchtbar schwierige, im Grunde missglückte Paarmediation hinter sich, habe obendrein mit der Kollegin, mit der sie sich die Praxis teile, einen ärgerlichen Konflikt gehabt – und meine Nachricht, meine Einladung zur Komödie, die habe ihre Stimmung jetzt schlagartig aufgehellt. Ich schlug vor, eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn einen Aperitif zu nehmen. Dora war einverstanden – und kam mir zwei Stunden später im Foyer der Kammerspiele in einem Sommerkleid entgegen: hellblau und weiß, gut gelaunt und schwungvoll – in anmutiger Einheit Trägerin und Kleid. Begrüßungskuss und Umarmung fächelten mir den Apfelduft ihres Haares zu – und ich behaupte, dass es diese schönen Augenblicke sind, für die es sich lohnt, den bisweilen etwas anstrengenden Zustand menschlicher Inkarnation auf sich zu nehmen.
Als würden sich die Schauspieler unseretwegen ganz besonders ins Zeug legen, so kurzweilig und unterhaltsam verlief die Vorstellung, und als wir die Kammerspiele verließen, waren wir heiter, durstig und hungrig. Rasch einigten wir uns auf ein kleines Spätabendessen in einem Stadtrandlokal. Auf dem Weg zum Auto griff ich nach Doras Hand, und sie ließ es zu. Plötzlich blieb sie stehen.
„Ach, du meine Güte! Ich hab was vergessen. Ich hätte in dieser Woche Bernhards Zimmerpflanzen gießen sollen. Wenn da was eingeht, erwürgt er mich.“
„So schlimm wird’s wohl nicht sein.“
„Doch, mein Sohn liebt seine Pflanzen mehr als seine Mutter. Das lässt mir jetzt keine Ruhe. Bernhards Wohnung liegt auf unserem Weg. Ich brauche nur zehn Minuten.“
„Daran soll’s nicht scheitern.“
„Bist sehr lieb“, sagte sie und küsste mich auf den Mund.
Wenige Minuten später standen wir in Bernhards Wohnung, drei Zimmer mit kleiner Küche und noch kleinerem Badezimmer. In einem Raum hatte sich Bernhard ein Labor eingerichtet. Beruf und Freizeit gingen ineinander über, wie ja dies oft bei Menschen der Fall ist, die ihren Beruf aus Neigung ergriffen haben und mit Leidenschaft ausüben. Kurios nahm sich der Hauptraum aus. Eine bequeme Couch, zwei Sessel, ein Tischchen, so weit, so normal, aber über der Couch lag auf zwei solide in der Wand verankerten Aluminiumstützen ein Surfbrett, umgeben von großformatigen Fotos, die wahrscheinlich die schönsten Surfstrände des Planeten zeigten. An der gegenüberliegenden Wand standen technische Geräte, vor allem eine ausgezeichnete Hifi-Anlage mit einem echten Plattenspieler aus dem vorigen Jahrhundert. Bernhard war ein Anhänger der guten alten Langspielplatte. Seine Sammlung, vor allem Rockmusik, aber auch Sym phonien des 19. Jahrhunderts, umfasste, grob geschätzt, weit über tausend Stück. In den verbliebenen Freiräumen standen Topfpflanzen, von regional bis exotisch. Ob das in zehn Minuten zu bewältigen ist? Dora war emsig mit der Gießkanne unterwegs. Ich folgte ihren Bewegungen im hellblau-weißen Sommerkleid mit dem größten Vergnügen. „Du bist schön“, sagte ich.
Da drehte sich Dora zu mir um, stellte das Kännchen auf den Tisch, verschränkte ihre Hände an meinem Nacken, flüsterte „Dankeschön“ und küsste mich. Die Wohnung ihres Sohns wurde – vielleicht nicht ganz passend – unser Venusberg. Es träfe die Sache nicht, würde ich sagen: Wir liebten uns wieder so, wie wir uns als junge Menschen geliebt hatten, nein, es war weniger und mehr, wiedererkennen und neuentdecken, milder und leidenschaftlicher, und jede noch so angestrengte Metapher bleibt hinter der sanften Wucht dieser Stunde weit zurück.
Wir lagen noch lange auf dem Fußboden, aneinander, ineinander, in schweigsamem Minutenglück. Erst nach Mitternacht verließen wir das Haus.
„Hunger?“, fragte Dora, als wir schon im Wagen saßen.
„Und wie!“
„Würstlstand“, sagte sie, „Besseres ist jetzt nicht mehr zu kriegen.“
2
Spontan hatte ich Doras Einladung zu diesem Abendessen im kleinen Verwandten- und Freundeskreis angenommen, aber im selben Augenblick hatte ein unangenehmes Körpergefühl Einspruch erhoben. Dieses Gefühl hatte keine Vernunftgründe vorzubringen, aber es verließ mich in den folgenden Tagen nicht mehr und erwies sich am Einladungstag als zutreffende Vorahnung. Man soll nicht zusammenzwingen, was nicht zusammenpass...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. I: Dora
  6. II: Lisa
  7. III: Monika