Unvergessen
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Unvergessen

Option, KZ, Kriegsgefangenschaft, Heimkehr. Ein Sarner erzählt.

  1. 260 Seiten
  2. German
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Unvergessen

Option, KZ, Kriegsgefangenschaft, Heimkehr. Ein Sarner erzählt.

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Über dieses Buch

Verzeihen ja, vergessen nein. Diesem Grundsatz verpflichtet erzählt Franz Thaler, Jahrgang 1925, von den schlimmsten Jahren seines Lebens: Bei der Option 1939 entschließt sich sein Vater für das Dableiben in Italien und gegen die Auswanderung ins Deutsche Reich, der junge Franz sieht sich plötzlich den Schikanen der einheimischen Nationalsozialisten und deren Mitläufer ausgesetzt. Obwohl Dableiber und somit italienischer Staatsbürger, erhält er 1944 den Befehl zum Einrücken in die Hitler-Armee, flüchtet aber in die Berge. Erst als seiner Familie die Sippenhaft droht, stellt er sich. Sein Leidensweg führt ihn durch mehrere Gefängnisse ins Konzentrationslager Dachau und zweitweise ins Außenlager Hersbruck. Zwanzigjährig kommt er im August 1945 seelisch und körperlich gebrochen wieder nach Hause.Franz Thaler schildert seine Erinnerungen in schlichten, aber eindringlichen Worten. Sein Buch, bereits mehrmals neu aufgelegt, ist ein Klassiker der neuen Südtiroler Geschichtsschreibung.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9788872835296
Wer von uns wacht hier
und warnt uns,
wenn die neuen Henker kommen?
Haben sie wirklich
ein anderes Gesicht als wir?
Irgendwo gibt es noch Kapos,
die Glück hatten,
Prominente,
für die sich wieder
Verwendung fand,
Denunzianten,
die unbekannt blieben –
gibt es noch all jene,
die nie daran glauben wollten
und dann nur von Zeit zu Zeit
.
Jean Cayrol / Paul Celan
Paris 1955/56 (Nacht und Nebel)
Im Mai 1985 besuchte ich das ehemalige Konzentrationslager Dachau, in dem sich genau vor vierzig Jahren, am 29. April, für mich und meine Freunde das Tor zur Freiheit geöffnet hatte. Im Lager ging ich gleich ins Museum, in dem verschiedene Dokumente und Fotos aus den Jahren 1933–45 zu sehen sind. Beim Anblick mancher Bilder stiegen mir noch einmal Tränen in die Augen. Mit mir waren noch viele Besucher aus den verschiedensten Ländern erschienen, darunter eine besonders große Zahl von Jugendlichen. Aus deren Gesichtern konnte man Entsetzen ablesen. In dem großen Raum war es beinahe ganz still. Man konnte nur ein leises Murmeln hören. Am Nachmittag besichtigte ich die zwei noch erhaltenen Baracken und den Platz, auf dem so viele gehenkt worden waren, den sogenannten Blutgraben, wo so viele ihr Leben durch Genickschuss lassen mussten, und schließlich das Krematorium, in dem Tausende bis zum Skelett Abgemagerte, Erschlagene, Erschossene oder Verhungerte in den Verbrennungsofen „durch den Kamin gingen“, wie man sich in Dachau ausdrückte. Die Gaskammern sind noch zu sehen, doch wurden sie nie in Betrieb genommen. Die Dachauer Todeskandidaten wurden in andere Lager überstellt. Schließlich besuchte ich noch die drei später erbauten Sühnekapellen: die evangelische, die jüdische und – in der Mitte – die katholische, die „Todesangst-Christi-Kapelle“. Hinter diesen liegt das Karmeliterkloster, in dessen Kirche ich für meine toten Kameraden betete. Während des Besuches dachte ich viel an die vergangenen Tage und Jahre.
Mein Weg nach Dachau war schon 1939 vorgezeichnet. Im Juni desselben Jahres hatten das nazistische Deutschland und das faschistische Italien die Umsiedlung der Südtiroler eingeleitet. Man bescherte uns die sogenannte Option. Die Leute wurden vor die Entscheidung gestellt, entweder für die deutsche Staatsbürgerschaft zu optieren, mit der ausdrücklichen Verpflichtung, in das Großdeutsche Reich abzuwandern, oder die italienische Staatsbürgerschaft beizubehalten, mit der Drohung, dass man dann keinerlei Minderheitenrechte mehr beanspruchen dürfe. Wer überhaupt keine Erklärung abgab, blieb italienischer Staatsbürger. Mit der Durchführung des Abkommens wurde der berüchtigte SS-Gestapo-Chef Heinrich Himmler betraut. Doch von all dem wusste und verstand ich als fünfzehnjähriger Bauernbub noch überhaupt nichts. Ich erinnere mich nur, dass die Leute furchtbar erschraken, als sie von dieser Vereinbarung erfuhren. Die meisten wollten sie gar nicht glauben. Das könne doch nicht wahr sein!
Das war die Stimmung im Juli und auch noch Anfang August im Sarntal, und wohl auch in ganz Südtirol. Dann hörte man immer öfter von geheimen Zusammenkünften und Versammlungen. Bayrische Singgruppen kamen ins Tal. In der Fraktion Unterreinswald fanden sie gute Aufnahme. Die Sänger erschienen bald auch in Durnholz, wo ich wohnte. Sie sangen auf dem Kirchenchor deutsche Lieder. Da die Ankunft vorher angekündigt worden war, erschienen viele Leute. Der Pfarrer machte einmal eine spitze Bemerkung, weil die Kirchengänger oft zum Chor hinaufschauten. Er sagte: „Sind da oben etwa die größeren Heiligen als am Altar?“ Ich glaube, er ahnte bereits, was auf uns zukommen sollte. Im September und Oktober sprach man immer öfter von Wahl und dass man natürlich „deutsch“ wählen müsse. Eine wilde Propagandawelle brach los. Sie wurde vom „Völkischen Kampfring Südtirols“ (VKS), einem nationalsozialistisch ausgerichteten Bund, geführt, der überall im Lande seine Leute sitzen hatte. Aber was wusste ich damals von einem VKS. Auch er war ursprünglich fest für das Bleiben eingetreten. Nach mehreren Gesprächen mit Himmler änderte er seine Gesinnung um hundertachtzig Grad. Jetzt wollte er ein hundertprozentiges Ergebnis für die deutsche Staatsbürgerschaft und die Abwanderung erreichen, um damit in Berlin Staat machen zu können. Eine gewisse Vorarbeit für dieses Resultat war allerdings schon in der Schule geleistet worden. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir Schulbuben oft sagten: „Vater unser, der Du bist, der Mussolini auf dem Mist, der Schuschnigg daneben und der Hitler soll hochleben.“ Die „Option“, die „Wahl“, riss eine tiefe Kluft im Volke auf. Der Riss ging auch im Sarntal durch viele Familien. Ein Teil entschied sich für das Dableiben, der andere begeisterte sich für das „Deutschwählen“. Die Propaganda für das Dableiben äußerte sich nur schwach. Aber es gab noch genug Leute, die beim Vorsatz vom Juni blieben, sich lieber erschießen zu lassen, als für die Auswanderung zu optieren. Ich wohnte damals nicht bei meiner Familie in Reinswald, sondern bei meinem Onkel in Durnholz. Dort wurde ich wie ein Familienmitglied behandelt.
Im späteren Oktober erfuhr ich, dass ein Kanonikus Gamper beim Hofmann in Reinswald eine Versammlung abgehalten habe, bei welcher er sich gegen die Option und fest für das Dableiben ausgesprochen hätte. Der junge Bauer, bei dem ich wohnte, sowie zwei Töchter und der Knecht vom Nachbarn waren auch zu dieser Versammlung gegangen. Sie kamen am frühen Morgen ganz aufgeregt nach Hause und erzählten beim Frühstück, was sie alles gehört hätten. Gamper, sagten sie, habe die Leute über das wahre Wesen des Nationalsozialismus aufgeklärt, über die Verfolgung von Kirche und Religion. Hitler habe das deutsche Volk bereits in den Krieg getrieben, und man wisse nicht, wie das ende. Die Leute sollten doch unbedingt an ihrer Heimat festhalten. Sie würden eine solche nie mehr erhalten. Die Versprechungen der Nazipropagandisten, dass in Deutschland ein ganz gleiches Durnholz und Reinswald wie im Sarntal errichtet würde, sei doch ein glatter Blödsinn. Die Lügen, dass jeder Abwanderer dasselbe Haus und den gleichen Hof bekäme, könne man doch mit den Händen greifen. Damals hatte ich natürlich keine Ahnung, wer dieser Kanonikus Gamper war. Erst nach meiner Heimkehr erfuhr ich, dass er das geistige Haupt des Widerstandes gegen Faschismus und Nazismus gewesen ist. Gamper konnte nach dem deutschen Einmarsch in Italien im September 1943 nur mit knapper Not den Gestapo-Häschern entkommen und sich nach Florenz absetzen. Der junge Bauer erzählte auch, dass während der Versammlung ein Nazi-Propagandist in die Stube hereingerannt sei und gerufen habe: „Was der da sagt, ist alles erlogen, glaubt ihm nicht!“ Der Mann wollte sogar auf Gamper losgehen, aber ein paar Männer packten ihn und zerrten ihn zur Tür hinaus. Ein paar Tage später gingen wir abends zum Nachbarn, um Karten zu spielen. Dort trafen wir einen Hausierer, der dort übernachtete und der bei der Versammlung am Hofmanhof alles miterlebt hatte. Unter anderem erzählte er auch, was nach der Rede Gampers passiert war. Dieser hatte gesagt, dass die Zuhörer, die dableiben wollten, die Möglichkeit hätten, sich jetzt schon zu erklären, weil er die erforderlichen Formulare bei sich habe. Da habe sich der alte Uhrmacher gemeldet und unterschrieben. Dieser habe sich an seinen Bruder gewandt und gesagt: „Stanis, du wirst wohl auch unterschreiben?“ Und der Stanis ging auch hin und unterschrieb für sich, seine Frau und für seine sechs minderjährigen Kinder. Als der Hausierer das erzählte, lief es mir ganz kalt über den Rücken. Alle Anwesenden starrten mich an, ich schaute nur auf die Tischplatte. Der Stanis war nämlich mein Vater und der Uhrmacher mein Onkel. Irgendjemand sagte zu mir: „Dein Vater hat ‚walsch‘ gewählt, du bist jetzt ein ‚Walscher‘.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und fühlte mich schon jetzt fast wie ein Ausgestoßener. Da sagte die Bäuerin, um mich zu trösten: „Den Franz packen wir einfach in eine Kiste und schmuggeln ihn nach Deutschland.“ Alle lachten, nur mir war nicht zum Lachen zumute. Wir gingen heim. Für mich war das der erste Schlag, den mir der Nazismus versetzt hatte. Auf dem Hof wurde über die Sache nicht viel geredet. Der Bauer war eher für das Dableiben, seine Geschwister aber fürs Auswandern. Am nächsten Sonntag ging ich zu meinen Eltern nach Reinswald. Ich wollte hören, was sie mir zu sagen hatten. Sie erklärten mir, warum sie „walsch“ gewählt hätten. Warum sie den Ratschlägen Michael Gampers gefolgt wären und nicht freiwillig auf die Heimat verzichten wollten. Sie hätten, erinnerten sie mich, schon einmal ihr eigenes Heim der schlechten Zeiten wegen verloren. Jetzt hätten sie sich mit Mühe und Not ein dürftiges Häuschen erbaut. Mein Vater hatte sieben Jahre Militärdienst geleistet. Davon drei Jahre aktiv und vier im Krieg. Er war genug in der Welt draußen gewesen und wollte nicht ein zweites Mal von zu Hause fort. Die Eltern sagten: „Mach dir nichts draus, wenn sie dich den ‚Walschen‘ nennen. Das Gerede, dass wir nach Sizilien geschafft würden, haben nur die Deutschen erfunden, weil sie uns das Dableiben nicht vergönnen.“ Die Eltern überzeugten mich, und ich fand ihre Entscheidung richtig. Natürlich durfte ich das meinen Optantenkollegen in Durnholz nicht erzählen. So vergingen die ersten Dezemberwochen 1939. Die Propaganda und die Begeisterung für das „Deutschwählen“ schwollen immer mehr an. Der „Wahltag“ sollte zu einem Fest werden. Die Durnholzer sollten alle geschlossen, von der Musikkapelle begleitet, in das Gemeindeamt nach Sarnthein wählen gehen. So planten und wollten es die Großen in Durnholz. Sie erreichten auch zum Großteil ihr Ziel. In Durnholz gab es nur drei Familien, von denen man wusste, dass sie sich fürs Dableiben entschieden hatten. Manche verheimlichten es, weil sie sich nicht den Spötteleien und der Verachtung aussetzen wollten. Die „Walschen“ verspottete man überall, sogar in der Kirche wurde hinter ihrem Rücken gelacht und getuschelt. Auf dem Kirchplatz und auf dem Kirchweg wurden sie mit einem lautstarken „Buongiorno“ begrüßt. In manchen Gasthäusern durften sie sich nicht mehr blicken lassen. In anderen wurde der Stuhl abgewischt, auf dem ein „Walscher“ gesessen hatte.
Nach der Option 1939 kam ein deutscher Lehrer nach Durnholz. Früher hatte es nur italienische Lehrer gegeben, die ausschließlich italienisch unterrichteten. Der neue Lehrer sollte die Jugendlichen jetzt in deutscher Sprache unterrichten. An einem Sonntagnachmittag versammelten sich die Kinder und Jugendlichen in der Schule. Ich ging auch hin, ohne etwas zu ahnen. Der neue Lehrer schrieb jeden Namen auf. Als die Reihe an mir war, wollte ich natürlich meinen Namen sagen. Andere kamen mir aber zuvor und schrien: „Das ist ja ein Walscher.“ Alle lachten. Der Lehrer schaute mich eine Weile an und sagte, ich solle heimgehen, er wolle nur Deutsche unterrichten. Ich saß verdattert da, stand dann auf und ging ganz schwindlig zur Tür hinaus. Ich war sehr, sehr traurig. So ging es ein paar Jahre weiter. In den Jahren 1942–43 wurden ziemlich viele zum Militärdienst in der deutschen Wehrmacht einberufen. Es dauerte auch nicht lange, bis die ersten Meldungen von Gefallenen kamen. Jetzt wurde öfter auch von denen, die vorher „Heil Hitler“ geschrien hatten, über denselben Hitler geschimpft. Die große Begeisterung für Hitler ging ziemlich rasch vorbei. Man redete auch schon davon, dass dieser Hitler den Krieg verlieren könnte.

FLUCHT IN DIE BERGE

So ging es weiter bis zum September 1943. Nach der italienischen Kapitulation besetzten die deutschen Truppen den Großteil Italiens und natürlich auch Südtirol. Die Provinzen Bozen, Trient und Belluno wurden zur „Operationszone Alpenvorland“ zusammengelegt. Zum Obersten Kommissar für dieses Gebiet wurde der nazistische Gauleiter von Innsbruck, Franz Hofer, ernannt. Jetzt erhielten die Nazibonzen wieder Oberwasser. Die Dableiber waren allen nur möglichen Schikanen ausgesetzt. Ihre Führer wurden wie die Verbrecher gejagt. Allen Dableibern wurden die Radioapparate und die Jagdgewehre weggenommen. (Mein Freund Friedl Volgger hat nach Kriegsende im „Volksboten“ die Liste der Naziopfer veröffentlicht. In der Zeit vom September 1943 bis Kriegsende im Mai 1945 wurden einundzwanzig Südtiroler hingerichtet, hundertvierzig machten mit dem Gefängnis Bekanntschaft und hundertsechsundsechzig wurden in Konzentrationslager eingeliefert.) Der Oberste Kommissar stellte Polizeiregimente auf, zu denen auch Dableiber einberufen wurden, obwohl sie italienische Staatsbürger waren. Heute weiß ich, dass die Einberufung der Dableiber zu deutschen Militäreinheiten eine grobe Verletzung des Völkerrechts darstellte.
Im März 1944 wurde ich mit anderen Dableibern im Alter zwischen sechzehn und fünfzig Jahren zur Musterung geladen. Ich wurde für tauglich befunden und wusste, dass ich bald einrücken müsste. Ende Mai kam auch der Stellungsbefehl, laut dem ich mich am 1. Juni in Schlanders beim Polizeiregiment zu melden hatte. Ich suchte verzweifelt nach einem Ausweg, denn ich hatte schon zu viel von den Gräueltaten gehört, die das Hitler-Regime vollbrachte. So entschloss ich mich, dem Rat einiger Freunde zu folgen und in die Berge zu flüchten. Sie versprachen mir, mich mit Lebensmitteln zu versorgen. Bei einem von ihnen durfte ich mir in der Nacht Milch holen. Der Tag, an dem ich einrücken musste, kam. Ich packte den Koffer. Dabei durfte mir aber niemand zusehen, weil ich nur den Rucksack und eine Kleinigkeit zum Essen darin verstaute. Am Morgen ging ich nach Sarnthein. Dort wartete schon ein Nazispitzel, der mir dabei behilflich sein wollte, richtig nach Bozen zu kommen. Er begleitete mich und erklärte mir in Bozen noch genau, wo und wann der Zug nach Schlanders abfahre. Endlich wurde ich ihn los. Ich versteckte den Koffer beim Rösslwirt in der Bindergasse und ging mit dem Rucksack zum Bahnhof. Ich hatte mich schon vorher erkundigt, wann ein Zug in Richtung Brenner abfahre. Ich fuhr bis Freienfeld vor Sterzing und ging von dort nach Maria Trens, wo ich um eine glücklichere Zukunft betete. Später fuhr ich mit dem Zug zurück bis Vahrn bei Brixen und ging auf dem Schalderer Weg Richtung Heimat zu. Da passierte mir das erste Malheur. Ich begegnete im Wald, in einer engen Kurve ohne Ausweichmöglichkeiten, einem bekannten Nazi aus meiner Ortschaft. Wir grüßten einander und gingen weiter, er abwärts und ich aufwärts. Da war nun guter Rat wirklich teuer. Ich wusste, dass er mich verraten würde, wenn vom Militär die Meldung käme, dass ich in Schlanders nicht eingetroffen wäre. Ich musste mir irgendetwas einfallen lassen. Mir kam der Gedanke, dass ich noch auf eine unbestimmte Zeit heimgehen sollte. Also kehrte ich wieder zum Hof zurück, wo ich früher gewesen war und erzählte dort, was mir passiert war. Eine Woche arbeitete ich noch auf dem Hof.
An einem Samstag sagte ich zu den Leuten, ich hätte Post bekommen und müsste am Montag wieder gehen. Denn für die Bauersleute wäre es zu gefährlich gewesen, mich noch länger zu behalten. Am Montag um drei Uhr früh stieg ich mit den nötigen Lebensmitteln, einer Pfanne, einer Schüssel und einem Löffel im Rucksack auf den Berg. Dort wollte ich das Kriegsende abwarten. Der erste Tag erschien mir unendlich lang. Ich dachte noch einmal richtig darüber nach, auf was ich alles verzichten müsste und welchen Gefahren ich mich aussetzte. Ich durfte mich von niemandem sehen lassen. Niemand durfte wissen, dass ich nicht eingerückt war, mit Ausnahme der wenigen Freunde, denen ich es vorher gesagt hatte. Ich konnte nur nachts zu bestimmten Leuten gehen, um mir Lebensmittel zu holen. Die Mahlzeiten fielen sehr bescheiden aus. Warmes Essen gab es höchst selten, denn ich musste mit dem Feuer sehr vorsichtig sein. Der Rauch durfte nicht mein Versteck verraten. Meistens kochte ich Knödel, die wohl etwas hart gerieten, da mir viele Zutaten fehlten. Wenn etwas übrig blieb, aß ich es am nächsten Tag. Später im Sommer, als die Waldfrüchte reiften, kochte ich Mus oder Polenta mit Heidel- oder Himbeeren. Mit Butter und Käse versorgte mich meistens mein Bruder Flor, der auf der anderen Seite des Berges als Senner arbeitete. Ein anderer „Versorger“ war mein Vetter Luis (Alois Brugger vom Bachmannhof) und viele andere. Nicht vergessen darf ich einen Freund aus dem Eisacktal, Felix Oberrauch (Latzfons), der damals auf der Alm, auf der ich mich aufhielt, als Hirte angestellt war. Er stand mir mit Rat und Tat zur Seite.
Meinen Aufenthaltsort musste ich oft wechseln. Es wäre zu gefährlich gewesen, immer am gleichen Ort zu schlafen. Ich benützte deshalb abwechselnd Heuschuppen und die leer stehende Latschenbrennerei. So verging Monat um Monat. Ich gewöhnte mich an vieles. Als ich einmal so durch den Wald schlenderte, sah ich zu meinem Schrecken zwei Männer hinter einem Baum stehen. Ich versuchte, mich sofort aus dem Staub zu machen. Doch da rief mir einer schon nach: „Halt, Franz, vor uns brauchst du keine Angst zu haben.“ Ich erkannte die Stimme. Es handelte sich um den „Krotzer-Luis“ aus Villanders, den ich schon etliche Jahre vorher kennengelernt hatte, als er in der Latschenbrennerei arbeitete, wo ich mich jetzt schon seit einigen Wochen öfter aufhielt. Ein wenig zögernd ging ich auf die beiden zu. Luis versicherte mir, dass ich auch vor seinem Begleiter keine Angst zu haben brauchte, da er ein Freund sei. Ich traute den beiden lieber vorsichtshalber nicht ganz und blieb zwei, drei Meter von ihnen entfernt. Ich fragte sie, was sie hier machten. Sie antworteten, dass sie auf der Villanderer Alm Streifendienst machen müssten. Weil dort oben überhaupt nichts los wäre, seien sie halt einmal übers Joch, über die Durnholzer Berge, herübergegangen. Gegen die Langeweile hatte ich mir eine passende Arbeit ausgedacht, bei der es wenig Werkzeug und Platz brauchte. Ich gravierte Feuerzeuge und Tabakdosen, Zündholzschachteln und verschiedene andere Dinge. Oft arbeitete ich auf einer großen Fichte. Ich setzte mich ziemlich weit oben auf einen großen Ast, wo mich niemand sehen konnte; auf den nächsten Ast schraubte ich den mit der Hand zu treibenden Schleifstein. So hatte ich einen schönen Ausblick, und durch die Arbeit konnte ich mir Geld für Lebensmittel verdienen. Einmal half ich einem Bauern bei Heuarbeiten, und zwar an einem Ort, wo kein Weg vorbeiführte. Ich befand mich auf dem Heuwagen und spähte immer umher, ob jemand zu sehen wäre. Schon bald nach Arbeitsbeginn sah ich auch einen Mann aus etwa hundertfünfzig Meter Entfernung auf uns zukommen. Ich sagte dies meinen Mitarbeitern und ging eiligen Schrittes in Richtung Wald davon. Zu dieser Zeit war es schon vielen bekannt, dass ich mich auf dem Berg droben versteckt hielt. Bei dem Mann, der gekommen war, handelte es sich auch um einen Nazispitzel. Ich hatte ihn gleich erkannt. Er fragte meine Mitarbeiter, wer denn da bei ihnen gewesen sei. Als diese nicht gleich antworten wollten, bemerkte er, er habe mich schon erkannt. Er ermahnte die Leute auch, vorsichtiger zu sein. Mit solchen Leuten wie mir sei das Arbeiten streng verboten. Für die Bauersleute konnte dies schwerwiegende Folgen haben. Ich ließ mich in Zukunft auch bei dieser Familie nicht mehr blicken. Nur der Bäuerin habe ich noch Holzknospen1 gemacht; sie gab mir dafür Lebensmittel. (Nach meiner Heimkehr traf ich den genannten Mann wieder. Wir grüßten einander. Er tat sehr scheinheilig und versicherte, ich hätte damals bei der Heuarbeit nicht zu gehen brauchen. Er sei keiner von denen gewesen, er hätte mich sicher nicht verraten. Aber so ähnlich gaben sich nach dem Krieg alle. Keiner wollte irgendetwas mit dem Hitler-Regime zu tun gehabt haben. Ich sagte nichts und ging meines Weges.)
Eine Sorge wurde ich nie los: Ernstlich krank werden durfte ich nicht. Zum Arzt konnte ich ja nicht gehen, zumal die Ärzte, die ich kannte, ziemlich nazistisch eingestellt waren. Und doch kam es einmal so weit, dass ich mich an einen Arzt heranwagen musste.
An einem Samstag brach ein starkes Gewitter los und zerriss das Dach des Heuschuppens, in dem ich mich einquartiert hatte. Ich musste noch in der Nacht, bei Regen und Hagel, das Dach wenigstens provisorisch wieder instand setzen. Am nächsten Tag, am Schutzengelsonntag, musste ich das Dach völlig in Ordnung bringen, damit nicht ein anderer käme, es zu reparieren. Weil ich so arg durchnässt war, erkältete ich mich und bekam fürchterliche Zahnschmerzen, die nicht mehr aufhören wollten. Ich ging zu meinem Freund Lex, um Rat einzuholen. Er war schon immer ein schlauer Fuchs gewesen und wusste für mich auch gleich einen Ausweg. Er sagte: „Ich gehe morgen mit dir nach Brixen zu einem Zahnarzt namens Müller, den ich gut kenne. Dort bist du unbekannt, und bald wird alles wieder in Ordnung sein.“ Und so geschah es auch. Als wir in Brixen durch die Stadt gingen, war mir nicht recht wohl zumute. Wir begegneten ziemlich vielen Polizisten und Militärs. Zu meinem Schrecken hielt uns auch noch ein Wachposten an. Aber zu meinem Glück war es nur ein Freund meines Begleiters. Er wollte mit ihm nur ein wenig „ratschen“. Der Arzt zog mir einen Zahn und flickte mir einen weiteren. Ohne Zwischenfälle kehrte ich wieder in die Berge zurück. Anfang August war das Heu auf den Bergwiesen eingebracht. Ich lag in einem Schuppen und blickte durch einen Spalt ins Freie hinaus. Da sah ich ziemlich nahe einen alten Mann, den „Seeber-Luisl“, auf den Schuppen zukommen. Es wäre gefährlich gewesen, mich von ihm sehen zu lassen. Er würde es sicher den Leuten im Dorf gesagt haben. Ich rückte nahe an die Wand, die sich im Schuppen zwischen Heu und Küche befand. Sie war zwar hoch, reichte aber nicht bis zum Dach. Es war Brauch, dass man in die Schuppen hineinschaute, wenn man vorbeikam, um zu sehen, wie viel Heu drinnen sei. Der Luisl trat in die Küche, murmelte eine Weile. Da er klein war und nicht über die Wand sehen konnte, nahm er einen Stock und wollte damit die Ruhe des gelagerten Heues messen. Dabei stocherte er eine Weile auf mir herum. Die Situation war so komisch, dass ich beinahe laut lachen musste. Ein anderes Mal, als ich wieder auf dem Heu lag, sah ich den „Eben-Sepp“ (Josef Hochkofler, Bachmannebner, Jahrgang 1891) daherkommen. Vor dem hatte ich nicht im mindesten Angst. Der hatte den Ersten Weltkrieg und dazu noch einige Jahre russische Kriegsgefangenschaft hinter sich. Sein Sohn Sepp war mein bester Schulfreund. Der Mann kam in die Küche und war sehr erstaunt, als er über die Wand nach dem Heu schaute und mich dort liegen sah. „Ach, du bist das. Das muss wohl ein hartes Leben sein, hoffentlich dauert es nicht mehr lange, bis der Krieg zu Ende ist.“ Ich fragte nach seinem Sohn Sepp, der im Frühjahr als Siebzehnjähriger eingerückt war. Wir plauderten noch ein bisschen, dann ging er wieder. Anfang September sollte noch ein Bruder von mir einrücken. Mein Bruder flüchtete mit seinem Freund. Die beiden waren aber etwas unvorsichtig gewesen. Als sie abends bei einem Verwandten einkehrten, wurden sie von einem Nazispitzel bemerkt, der seine Entdeckung sofort der Polizei mitteilte. Noch ehe die beiden Verdacht schöpfen konnten, war das Haus von Gendarmen und Nazileuten, einer Art Südtiroler Hilfspolizei, umzingelt. Die Flüchtlinge löschten das Licht und eilten durch die Haustür ins Freie, der eine nach links, der andere nach rechts. Der Freund meines Bruders wurde beim Überspringen eines Zaunes von einem Gendarmen noch am Rucksack erwischt, und der Wachtmeister überwältigte ihn. Doch der nun vermeintlich Gefangene war sehr gewandt und konnte schließlich doch noch entkommen.

WARUM ICH MICH STELLTE

Für mich gestalteten sich die Dinge jetzt immer schwieriger. Die Polizei verstärkte die Suche nach Flüchtigen. Bald verlautete auch, dass die ganze Familie von Wehrdienstverweigerern verhaftet würde, bis sich diese stellten.
Tatsächlich hatten, wie ich nach der Heimkehr erfuhr, die Nazis die Sippenhaft eingeführt. Der Oberste Kommissar, der Gauleiter Franz Hofer, hatte bereits am 6. Jänner 1944 eine Verordnung erlassen, dass alle jene, welche dem Einberufungsbefehl nicht Folge leisteten, mit dem Tode und in geringeren Fällen mit zehn Jahren Kerker bestraft würden. Die Familienangehörigen des Flüchtigen, und zwar die Frau, die Eltern, die Kinder über achtzehn Jahren und die im gemeinsamen Haushalt lebenden Geschwister, wurden festgenommen. Die Angehörigen wurden in Gefängnisse und Arbeitsstraflager eingeliefert. Im Passeier- und Ahrntal traf dieses Schicksal Dutzende von Familien. Doch dies erfuhr ich, wie bereits gesagt, erst, als alles vorbei war. So kam es, dass mein Vater mich suchte. Er fand mich auch mithilfe meines jüngeren Bruders. Er bat mich unter Tränen, mich zu melden. Wer sich melde, so wurde verlautbart, dem passiere nichts. Ich traute den Versprechungen der Nazis ganz und gar nicht. Aber ich konnte nicht mehr anders. Um den Eltern Kerkerhaft zu ersparen, versprach ich dem Vater, noch am selben Abend heimzukommen. Damit war mein Flüchtlingsleben zu Ende. Es war kein schönes Leben gewesen. Oft war ich mir wie ein wildes Tier vorgekommen, das bei jedem Ge...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Zum Buch
  3. Der Autor
  4. Impressum
  5. INHALTSVERZEICHNIS
  6. Vorwort zur Neuauflage
  7. Vorwort zur Erstauflage
  8. Unvergessen
  9. Bilder Franz Thaler
  10. Bilder Sepp Pfattner
  11. Fotos und Dokumente
  12. „Stumm und ergriffen saß ich da“
  13. Eine leidvolle Zeit
  14. Ein Buch und seine Geschichte
  15. Die Tugend der Zivilcourage
  16. Zeittafel