17. Jänner 2000, Villa Serena, Bolzano/Bozen, 13 Uhr 30
Ada schob den Vorhang beiseite und blickte hinaus, es müsste heute sein, in den vergangenen Wintern war es heute gewesen, dass die Sonne über das Dach gegenüber stieg. Ein ockerfarbenes Kostüm trug sie, das zu dem Mantel passte, den sie bei ihren winterlichen Spaziergängen zu tragen pflegte, die sie die Promenade hochführten zu einer Bank, auf die kein Schatten fiel. Sie hatte den Mantel aufs Bett gelegt, sollte der Sonnenstand auf dem Balkon nicht der erhoffte sein, ein Mantel mit Vierlöcherknöpfen und einem Pelzkragen, der nach Jahren noch nicht abgestoßen war und ihren blassen Nacken wärmte. Die seidig gewordenen Haare hatte sie zusammengebunden und unter ein farbloses Netz gelegt, sie nie zu schneiden, hatte sie Temistocle versprochen. Zartrotes Puder auf den hohen schmalen Wangen und die Augenlider dunkel und ein Lidstrich schwarz und exakt, als hätte sie ihn mit Tinte gezogen und einem Gänsekiel. Mamma hätte sie ermahnt deshalb, auch wenn es nicht aufdringlich war, zum Brunnen geschickt, sich waschen und in die Kirche zum Beichten. „Wer so aussieht, ist sündhaft und wird vor Gottes Gericht zur Rechenschaft gezogen. Einem Mädchen, das vor der Hochzeitsnacht die Unschuld verliert, steht das in die Augen geschrieben“, hatte mamma gesagt. Sie hat auf die Freundinnen gedeutet, die sie für unrein hielt, sie würden nie glücklich werden, sie solle sich nicht mehr mit ihnen treffen.
Ada sah aus dem Fenster und wartete, und es war tatsächlich heute gewesen, die Sonne flutete über die Ziegel, tauchte sie in warmes Rot und erhellte das Zimmer, zwei Monate lang hatte sie es nicht geschafft, über die Giebel zu klettern. Sie blickte zurück und betrachtete Olga, die mit ihrem Teddybären schlafend im Rollstuhl saß, den Kieferknochen zahnlos in Hals und Blusenkragen versunken, den Mund leicht geöffnet. Etwas Speichel hatte sich unter den Lippen gesammelt. Vorsichtig öffnete sie die Tür, um durch den Spalt auf den Balkon zu treten. Es war kühl, die Sonnenstrahlen wärmten kaum, doch ja, dachte sie, ich muss nicht spazieren gehen, die Sonne ist pünktlich. Sie trat ins Zimmer zurück und schlüpfte in den Mantel, ohne war es doch zu kalt, sie nahm eine Decke und legte sie draußen über die Brüstung, ging wieder hinein, um den Klappstuhl zu suchen, fand ihn nicht und sah, dass Olgas Kopf noch seitlicher gerutscht war. Olga dürfte nicht mit ihr das Zimmer teilen, oder sie nicht mit Olga, aber Olga lief nicht mehr davon und sie sagte nichts und schnarchte nicht, und Ada war das recht so. Sie war gern mit Olga, es war, als würde sie das Zimmer für sich haben. Nur zwei Fächer des Kastens hatte Olga mit ihren Habseligkeiten besetzt, Ada bewahrte in Olgas Schrank die Winterkleider und in ihrem eigenen jene für den Sommer auf. Die Kostüme und Mäntel, die in dem einen und anderen nicht Platz fanden, hatte sie auf einer Stange aufgereiht, so wie Handelsreisende sie besitzen, die mit in schützende Hüllen verpackten Gewändern von Geschäft zu Geschäft ziehen und die neuesten Modelle preisen. Zwischen jedem zweiten Kleiderbügel ein Stoffsäckchen mit getrocknetem Lavendel für frischen Duft und gegen die Motten. Eine Bürste stets griffbereit, um möglichen Staub von den Schultern des Garderobenschutzes zu wischen, bevor er den Weg durch die runde Öffnung für den Haken fand. Auf ihr Gewand hatte Ada stets Wert gelegt. Auch die Bücher hatte sie gepflegt, war jeden Monat mit einem Besen aus Pfauenfedern durch die Regale gefahren. Sie war gewissenhaft. Kleinlich war sie nicht.
Olga wohnte eigentlich im falschen Stockwerk. Ada mochte sie und sprach mit ihr wie mit einem Schulkind, das zu Hause gelernt hatte, brav und still zu sein, sie sprach behutsam, mitfühlend. Da Olga es zu gefallen schien und sie versonnen lächelte, wenn sie nicht schlief, ließen die Pfleger sie bleiben. Arme Olga, dachte Ada oft, was hast du erleben müssen, dass du diese Krankheit bekamst, die dich atmen lässt und tot sein zugleich. Vor wem, wovor bist du geflüchtet?
Jene wie Olga, die alles vergessen hatten, ihre Kinder nicht mehr kannten und in ihrer Welt flatterten wie Fliegen zwischen zwei Fensterscheiben, die auch bös werden konnten und unberechenbar und manchmal festgebunden werden mussten und Becher schmissen und schrien, wenn die Lebensglut sich einen Weg in die Freiheit bahnte, eine Freiheit, von der sie selbst keine Ahnung mehr hatten, die sie vielleicht nie hatten kennenlernen dürfen, oder jene, die Angst hatten, bestohlen zu werden – die weglaufen wollten und zurück in die Kindheit: Jene wohnten in der Etage über ihr und hatten die Sonne länger und früher. Sie wohnten in Zimmern hinter einem Gang mit einer Tür, die sie nicht öffnen und durch die sie nicht gehen konnten. Sie war zugesperrt und nur die Pfleger hatten den Schlüssel. Sie waren nicht verrückt, die Menschen, sie hatten die Krankheit, die es früher schon gab. „Gehirnerweichung“, hatte mamma gesagt, „das ist, wenn man blöd wird im Alter.“ Knoblauch helfe dagegen und sie hat jede Speise mit Knoblauch gewürzt.
Verrückt, was bedeutet verrückt, überlegte Ada. Wie oft hatte sie darüber nachgedacht. Wenn jemand hell ist und dunkel, lustig und traurig, wenn jemand zwei Saiten hat, die erklingen, nicht nur eine: Ist das verrückt?
Ada zog ein wenig am Vorhang und blickte nochmals hinaus zum Balkon, hinauf zum Himmel. Sie würde hierbleiben, wie immer, wenn die Sonne schien. Auch im Sommer würde sie hier ausharren, wenn all die anderen den Schatten der hohen Bäume suchten, der kühler war als jener unter den großen viereckigen Schirmen.
Ada brauchte die Sonne. Den leichten Wind liebte sie, der das Laute zerstreute und ans Meer erinnerte und an die Hügel, zwischen denen sie groß geworden war. Die Luft war dort seiden und würzig. Im Sommer übertönten die um Weibchen buhlenden männlichen Zikaden mit ihrem Sägen all die anderen Geräusche, die der Wind in Bäume und Sonnenhüte, in vertrocknete Blätter und reife Grashalme blies.
Hier heroben, im Norden des Landes, war die Luft erdig, sie war stärker, schwerer, sie entbehrte der Leichtigkeit, die all den Besitz so unwichtig machte. Dort unten, wo sie herkam, da war die Welt ein Garten. Es gab keine Zäune, es gab eine Hitze, die frei machte vom Denken in Dein und Mein. Paliano war eine Landschaft, die allen gehörte.
„Wenn du nach unten verwurzelt bist, kannst du nach oben besser fliegen“, hatte Anis gesagt. Es war so lange her, Jahrzehnte. Sie hatte oft an diesen Satz gedacht und dabei die Zehen bewegt. Sich auf die Sohlen konzentriert und die Schuhe ausgezogen, auch später noch, als signora, wenn niemand sie sah. Wegdenken, wegfühlen, das war ihr nie schwergefallen. Das Hiersein, in der Welt, das schien ihr schwierig. Die Nähe war oft fern.
„Du bist verrückt“, hatte der Vater gesagt. Sie hatte es immer mit sich herumgetragen. Vogelwild, hatte die Großmutter es genannt. Das gefiel ihr besser. Das imponierte ihr, das gefiel ihr sogar gut. Aber verrückt? Was er damit gemeint hatte, fragte sich Ada zum wiederholten Male. Bin ich nicht einfach ich?
Die Vögel in Paliano waren zahmer als die hier im Norden. Sie hüpften über das Laub der über die Terrasse gezogenen Weinreben, stahlen sich unreife Traubenkerne und verstreuten dabei viele weitere auf dem mit einer verblichenen Decke geschützten Tisch. Die Ratten turnten auf den verholzten Zweigen und ihre Schwänze baumelten zwischen den herzförmigen Blättern. Hier im Norden hielten die Tiere Abstand von den Menschen. Manchmal hörte sie ein Fiepen, doch sie sah sie nie.
Ada fand endlich den Klappstuhl im Spalt zwischen Schrank und Heizung und trug ihn hinaus. Sie öffnete den Vorhang ein wenig mehr, drückte sich vorbei und zog ihn im Rücken wieder zu, damit Olga nicht erschreckt würde vom Luftzug, der winterlich war. Vierzig Jahre lang war Ada Grundschullehrerin gewesen und hatte auf Kleines achten gelernt. Sie klappte den Stuhl auf, faltete die Decke auseinander und sich um die Hüften und setzte sich, schloss die Augen und ergab ihr Gesicht dem wiedergeborenen Licht.
Nur hier, auf dem Balkon, konnte sie sich dorthin fühlen, wo sie einst war, in einigen Monaten würde sie 83 sein, am 28. Juni war sie geboren. Bis November nun würde sie hier sitzen, wenn die Sonne schien. Auch wenn der August auf das Dach brannte und die messingbeschlagene Balustrade des Balkons so heiß würde, dass sie sich nicht mehr anhalten konnte, ohne sich die weiche Haut der von Pigmentflecken gekieselten Hände zu verbrennen, die seit Jahren keinen Teller mehr gewaschen und keine Hefte korrigiert und keine Bücher in Taschen gepackt hatten. Nur hier konnte sie sich besinnen und vergessen zugleich. Im Winter, der ihr die Kraft zum Erinnern nahm, der sie unruhig machte und auf die Straße trieb, auch wenn es rutschig war und glatt, war sie festgewurzelt ohne Halt.
Juni 1925
Es war an einem der letzten Schultage, als der Vater sein Versprechen einlöste und von dem Besuch bei den Schwiegereltern am Meer ein gebrauchtes Tau mitbrachte, das steif und hart war vom Salzwasser, fest und stark genug, das Gewicht eines Kindes zu tragen. Er polierte ein Holzbrett zurecht, bohrte in der Mitte ein Loch und verknotete daran das Seil. Auf die hohe Korkeiche kletterte er, die etwas oberhalb des Hauses stand, dort, wo der Hügel in den Hang aus Oliven kippte. Nur eine sanfte Mulde trennte sie von Paliano, wo die Schule stand und die Kirche, und nicht weit war es zu den Äckern und Feldern des Principe Colonna, für den der Vater und sein Vater vor ihm und die meisten Bewohner hier die Arbeit versahen. Der Protest hatte nicht geholfen – sie hätte die Schaukel lieber auf dem Feigenbaum gehabt. Sie mochte den Duft des Baumes, rieb sich den weißen Saft der abgebrochenen Blätter auf die Arme. Die Süße entfachte die Erinnerung an die Märchen, die die nonna von den Wölfen erzählte, nicht nur Romulus und Remus, viele ausgesetzte Kinder hätten sie mit ihrer Milch vor dem Sterben bewahrt. Doch das Holz der Feige sei zu weich und brüchig, hatte der Vater gesagt, die fette Korkeiche, die wäre der richtige Baum dazu. Und was denn die Milch der Feigen mit den Wölfen zu tun habe, brummte er, das sei doch Unsinn. Ada wusste auch nicht, warum sie beim Duft der Feigen an die Märchen der Großmutter dachte. Es war einfach so, immer wieder.
Sie wohnten in einer Landschaft aus hochgewachsenen und von den Jahreszeiten verdrehten Bäumen mit schattigen Kronen, von der Tramontana gegen Süden gepeitscht, auf der Wetterseite mit Moosen und gelben Flechten überwuchert. Mit verwachsenen und verknorpelten Stämmen, in...