Erinnerungen eines Narren
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Erinnerungen eines Narren

Roman

  1. 320 Seiten
  2. German
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Erinnerungen eines Narren

Roman

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Es ist der Vorabend des Zweiten Weltkriegs, als ein verdrossener Internatsschüler beschließt, von Wien in die Welt hinauszuziehen. Er kommt in der Schweiz bei einem Wanderzirkus unter, wo ihn der altersweise Clown Hieronymo unter seine Fittiche nimmt. Bald nähert er sich auch dem misstrauischen Liliputaner Rollo und der Seiltänzerin Rachel an, die aus Angst vor dem NS-Regime jede Nacht hoch oben unter der Zirkuskuppel schläft. Die Geschichte von ihrer gemeinsamen Flucht bis zu seiner Rückkehr ins zerbombte Wien erzählt der Ausreißer Jahrzehnte später von seinem Krankenbett aus. Dabei spinnt er ein faszinierendes Gewebe aus Erinnerung und Vorstellung, aus Episoden der Mythologie und der Literatur. Bewegend und mit einzigartiger sprachlicher Kraft schildert Marianne Gruber die täglichen Ängste der Zirkusleute in der Fremde, aber auch die Solidarität, die ihnen zuteil wird. Atmosphärisch dicht zeichnet sie das nur vordergründig skurrile, zutiefst menschliche Personal vor dem Hintergrund des großen Weltgeschehens.

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Information

Jahr
2012
ISBN
9783852187457

1

Wer? Und weshalb? Ich, das klingt seltsam. Über den Grund nichts zu sagen, nirgends eine Spur von Leben, die grünen Gewässer tot, die blauen Flüsse ausgetrocknet, die Straßen leer. Wüsten. Sand und Steinwüsten. Sind Sie deshalb gekommen? Sehen, ob es sich noch regt, den Puls fühlen, einen Spiegel vor den Mund halten und prüfen, ob er sich beschlägt oder blank bleibt? Seit fünf Monaten liege ich im Bett und kann meine Beine nicht mehr bewegen. Abgestürzt. Eine Geschichte, die sich an Lächerlichkeit kaum überbieten läßt: ein Clown, der abstürzt, aber davon später, falls Sie die Geschichte hören wollen. Nichts überstürzen. Die Tür, durch die Sie getreten sind, die Klinke trägt noch Ihren Geruch. Eben gekommen, es ist doch ein Kommen, oder? Das Gehen kommt erst, wie verrückt, ein Gehen, das kommt, irgendwo muß es einen Sessel geben, machen Sie es sich bequem oder sehen Sie sich meinetwegen um, nur, bitte, kein Licht. Sie werden in der Dämmerung genug sehen. Allzu viel Licht führt lediglich zum frühen Erblinden, glauben Sie mir, schon wieder der Glaube, wir kommen anscheinend ohne ihn nicht aus, irgendetwas in uns will immer höher hinaus, ich weiß nicht was, man sollte nicht über Dinge sprechen, über die man nicht sprechen kann. Daß ich rede, besagt nichts, es hört meist von selbst auf, zu viele Worte vergessen und zu viele behalten, es wird von selbst aufhören. Als ob man ausgeronnen wäre. Redefluß. Es hat etwas mit Wasser zu tun, irgendwie ungreifbar, man denkt, man könnte sich eines Tages mit Worten von der Welt der Dinge säubern, von den Schlägen und Tiefschlägen, von der Versessenheit, der fanatischen Gier, an den Machtspielen teilzuhaben, ohne sich mit ganzem Körper in die Waagschale werfen zu müssen. Ich habe solche Menschen kennen gelernt. Sie trinken Worte wie andere Wasser und Wein, sie saugen sie in sich auf, diese Dürre, diese Dürre hörte ich sie sagen, wenn sie keine Worte fanden, das Wort, das lebendig macht, klingt gut, Worte der Erlösung, der Liebe, das ganze schöngeistige Gestammel, das sich in den Köpfen der Wissenden ansammelt, mit denen sie auf den Leibern der stumpf dienenden Massen stehen, über den Abfalltonnen thronen, nicht wahr? Ich sage zu oft nicht wahr, das kommt vermutlich davon, daß ich noch immer nicht aufgehört habe, nach der Zustimmung der Menschen zu suchen, eine Übereinstimmung zu finden, wie töricht.
Wie auch immer, ich sehe, daß Sie stehen bleiben wollen, was mich vermuten läßt, daß Sie ungeduldig sind. Keine Angst, der kurz gewordene Atem, das Rasseln in der Lunge, das Schnappen nach Luft, nicht nur bei mir, es scheint, als handle es sich um eine allgemeine Kurzatmigkeit, die garantiert, daß wir irgendwann aufhören müssen, aufhören werden, eine große Stille, aber auch das kommt erst später, das hieße das Ende vorwegnehmen, das Ende kommt erst, sozusagen am Schluß, während wir beginnen, Anfang zu spielen.
Gegenwärtige Lage: Ich bin wieder in meinem alten Zimmer, kein Gefängnis, immerhin, Samtvorhänge, das Bett hier, der Tisch vollgeräumt, sodaß nicht einmal Ihre Ell­bogen Platz haben werden, die Kommode rechts von Ihnen, links von mir der Waschtisch. Kein Ort, an dem man sich sorglos zu Ende verschwendet, obwohl er wahrscheinlich unermeßlich ist. Die schwachen Lichtsäume deuten eine Ferne an, die ich nicht kenne, obwohl sie wahrscheinlich unermeßlich ist.
Fest steht: Ich lebe nunmehr seit fünf Monaten hier. Jählings, eines Tages, nein, allmählich, aber doch jählings konnte ich nicht mehr weiter. Jemand sagte mir, daß ich bleiben müsse. Ich wollte trotzdem weiter, ich konnte nicht mehr. Jemand, derselbe Mensch, sagte mir, daß ich versorgt werden würde, wenn ich bliebe, ich müsse bleiben, sonst wisse man nicht, wohin man meine Rente schicken solle, anscheinend ist für alles gesorgt. Wer so gütig ist, mir eine Rente zu gewähren, weiß ich nicht. Vielleicht die Unfallversicherung, es ist genug Geld im Haus, glaube ich, ich wollte trotzdem fort, obwohl ich hierher wollte, aber anders. Man hat mir, jemand hat mir gesagt, daß es nicht mehr an mir sei, Bedingungen zu stellen. Ich ergab mich bis auf das Aufbegehren im Kopf dann und wann, keine heroische Geste, sie werden mich nicht mehr holen kommen, und wenn, dann erst, nachdem alles vorbei ist. Diesmal werden sie warten, daß ich ihnen die Arbeit abnehme. Es lohnt anscheinend nicht mehr, mich früher zu holen. Nebenbei: Es hätte sich auch früher nicht ausgezahlt, als ich mich noch hinausgewagt habe, in die Welt, in den Wald, über die Schneegrenze der Gebirge, in Städte. Wenn ich wollte, könnte ich beschwören, daß ich unter Menschen war, dort liegen meine Zeugen. Dinge, es sind bloß Dinge, die an sie erinnern, es ist nur eine Feder von Ikarus’ Flügel, aber es ist sein Schrei. Eine Seemöwe flog gegen sein linkes Auge, und als er aufbrüllte, versehentlich gegen sein rechtes, sie hatte es nicht so gemeint, sie hatte gar nichts gemeint, sie konnte nichts meinen, sie hatte sich verirrt, aber er war nun blind und sah plötzlich, was der Vater getan hatte. Es war nicht über dem Meer, wie man allgemein erzählt, er flog über einer Stadt dahin, das ist falsch, es war keine Stadt, eine Festung war es, und sie, irgendjemand unter ihm, heizte die Öfen, und da dachte Ikarus, daß er, wenn er landete, zwischen den zerborstenen Steinen und dem Gestank verbrannten Fleisches würde beginnen müssen, er hatte noch sein ganzes Leben vor sich, er sollte dort unten beginnen, er würde die Schulden des Vaters zu bezahlen haben, er würde sich sein Leben lang schinden müssen und es doch nicht schaffen, da vergaß er aufs Fliegen, das ist alles. Keine Gutenachtgeschichte. Er stürzte in einen Schornstein, das war alles. Manchmal erzähle ich mir diese Geschichte zusammen mit anderen, die ich gehört habe, Geschichten, die mir der Andere erzählte, die man mir erzählte, abends vor dem Einschlafen, tagsüber vor dem Einschlafen, vor dem Einschlafen jedenfalls, in einer Dämmerung ohne Sonne und Tag, in einer fensterlosen Finsternis, lassen Sie es bitte dunkel, ich will keine Sonnenaufgänge mehr beobachten. Früher habe ich gern zugeschaut, wenn die Sonne morgens aufging. Zuerst wurde das Grau der Häuserfront gegenüber hell, dann plötzlich licht, und jedes Mal geschah das überraschend. Sosehr ich mich auch bemühte, genau hinzusehen, immer stand die runde Scheibe der Sonne plötzlich über den Dächern. Abends sah ich zu, wie sie hinter dem Schornstein versank. Nun will ich nicht mehr. Ich will mich nicht mehr ablenken lassen. Ich werde bald tot sein, ich meine, ganz tot. Da sind Versäumnisse unaufholbar. Ich muß die Geschichten zu Ende bringen, wie anders die gestellten Fragen beantworten.
Wer meine Rückführung in dieses Zimmer veranlaßt hat, weiß ich nicht. Fürsorgebeamte vielleicht oder Angestellte des Spitals, in dem ich mich zuletzt aufgehalten habe. Jedenfalls waren es vier Männer, der Fahrer des Krankenwagens, zwei Träger und dann noch ein Mann, der mir eine Menge Fragen stellte. Ich konnte sie alle nicht beantworten, und er übergab mich dieser alten Frau, die mich seither versorgt. Sie kocht und kümmert sich um die Post. Was sie sonst noch in den anderen Räumen tut, weiß ich nicht. Ich höre sie trippeln und schnauben. Manchmal kommt sie und fragt, was sie kochen soll. Sie achtet darauf, daß ich meine Medizin nehme und aufesse, das ist der Grund, warum ich immer dicker werde. Mein Bauch wächst und wächst, und noch immer steht diese alte Hexe da und füttert mich. Ich glaube, sie wird dafür bezahlt. Es darf nichts übrig bleiben. Es darf von uns nichts übrig bleiben. Sie will Ordnung machen, aber dies ist mein Leben, all diese Dinge, die man mir gütigerweise nachgebracht hat, meine Sammlung, ein ganzes Zimmer voll Dinge, die Sie in der Dämmerung schimmern sehen. Plunder, sagte die alte Frau, mein Leben, antworte ich, ein sozusagen nach außen gestülpter Bauch, die Dokumentation abgedienter Zeiten. Jedes Stück eine Geschichte, was sage ich, ein Kosmos für sich. Da, wenn Sie hingreifen nach dem brüchigen Stoff, dem vermodernden Holz, haben Sie in Händen, womit wir unsere Geschichte schreiben. Dinge, denen die Welt den Sinn genommen hat. Das sind wir, erschrecken Sie nicht, Ihnen wird es noch eine Weile anders erscheinen. Ich rede vom Später. Vom Danach, wenn wir schon gesehen haben, wie der Himmel, in kleine Parzellen der Seligkeit aufgeteilt, der weite Bogen in Stückwerk zerbricht. So viele Anfänge und kein Ende. So viele Enden und kein Anfang. Man muß darüber reden, ehe es zu spät ist, wiewohl es immer zu spät ist oder zu früh, was auf das Gleiche hinausläuft.
Ja, läuft es? Ich weiß es nicht. Der Mann, der mir diese Fragen stellte, sagte, ehe er ging, ich könne sie auch schriftlich beantworten. Er war in der Zwischenzeit schon einmal hier, nicht auf Besuch, aber hier und las kurz meine Notizen. Es war wohl nicht das, was er wollte. Er gab mir alles zurück und verwies mich auf die Listen, die ich ausfüllen sollte. Nach seiner Aussage braucht er sie. Es handelt sich um eine Art statistische Erhebung. Ich sagte ihm, daß ich von solchen Dingen nichts verstünde. Er meinte, daß das nicht nötig sei, ich möge die entsprechenden Kästchen ankreuzen, beim Ausfüllen der anderen Fragen sei er mir gern behilflich. Ich antwortete ihm, daß ich es allein versuchen wolle. Erst nachdem er gegangen war, wurde mir klar, daß ich damit zugesagt hatte weiterzumachen.
Ich habe mir die Listen angesehen, trotz der schwachen Augen. Die Dauer meiner Tätigkeit, die Orte meiner Engagements, Vertragskopien, Sozialversicherung. Vermutlich hat sie die Direktorin abgeschlossen, bei der ich zuletzt engagiert war. Ich glaube, heutzutage ist so etwas Pflicht, aber ich habe mich niemals darum gekümmert. Ich habe fast immer ohne Netz gearbeitet. Berufsethos. Ein Clown stürzt nicht ab. Er stirbt vielleicht an gebrochenem Herzen, zumindest habe ich das die Leute oft sagen hören, aber er stürzt nicht ab, schon gar nicht eines schlecht montierten Seiles wegen, und überlebt. Widerwärtig. Einfach widerwärtig, die krumm und zur Lahmheit verheilten Beine, diese Bewegungsunfähigkeit. Ich habe immer nur mit meinem Körper gesprochen, mit der Stellung der Beine, mit Verrenkungen der Wirbelsäule, mit den Händen. Ja, auch mit den Händen. –
Nun gut, ich habe mich anscheinend entschlossen weiterzumachen. Anscheinend muß man weitermachen. Ich habe mir dafür kein Limit gesetzt. Als ich hierher kam, dachte ich, daß mich ein rasches Ende erwartet. Venenentzündung, Lungenembolie oder irgendeine andere Krankheit, mit der man das Sterben vorantreibt. Nichts von all dem. Das Leben ist zäh. Ein winziges Ziel genügt, und schon klammert sich alles daran, wie schwach es auch sein mag.
Und nun zu Ihnen. Ihrer Stimme nach sind Sie jung, sehr jung, vielleicht auch schön, es ist für mich ohne Belang, wiewohl ich weiß, wie sehr uns die Schönheit schmeichelt, die uns umgibt. Das Geheimnis gotischer Kathedralen, die Vollkommenheit marmorner Statuen, Makellosigkeit – lassen wir das. Sie sagten, Sie bräuchten Geld. Man wird es Ihnen geben. Erklären Sie, ich hätte es zugesagt. Oder besser: Sagen Sie, ich schuldete es Ihnen. Sie kommen, um Schulden einzutreiben, ehe sie verjähren. Aber unsere Schulden verjähren nie. Bestehen Sie darauf, daß Sie lediglich hierher kommen, weil ich Ihnen etwas schulde. Ich habe mein Leben schon gehabt, wie anders wäre ich sonst in dieses Zimmer zurückgekehrt, also schulde ich Ihnen etwas, Sie haben Ihr Leben erst vor sich, also schulde ich Ihnen etwas. Es steht Ihnen zu, richten Sie Ihre Wohnung damit ein, den Ort, den Sie bewohnen werden, oder werfen Sie den Plunder zum Fenster hinaus, es ist alles, was ich habe, es wird alles sein, was ich hatte, es steht Ihnen zu, es ist alles, alles und dann nichts mehr, ich werde wieder der alte Bettler sein, der Habenichts, das Ärgernis auf der Türschwelle, Lazarus oder wie immer man sie genannt hat, die Elenden, die Erlösten, gibt es etwas Besseres?
Ich frage mich allen Ernstes, ob es etwas Besseres gibt als das Nichts, bei aller Sehnsucht nach dem Etwas, da wir sind, bei aller Unmöglichkeit des Wortes, da wir sind. Sind es nicht die Dinge, die einem die Freude am Leben so gründlich vergällen? Andererseits, sind es nicht die Dinge, die sich als so förderlich erweisen? Manchmal haben Sie uns das Leben gerettet. Ich habe nicht alles aufgehoben, was mir der Andere brachte. Einmal tauschte ich Planken eines alten Schiffs gegen Wein und einen Happen Fleisch ein, kein schlechter Tausch, wenn man bedenkt, daß es der Wein eines rotgesichtigen Abtes war, dem wir danach während einer wolkenverhangenen, von allerlei Geräuschen durchsetzten Nacht die Vorratskammer plünderten. Sein Name ist mir entfallen, ebenso der des Ortes, an dem ich ihn traf. Es war irgendwo in Italien, knapp vor Ende des Kriegs, als ein trüber Friede, dem alle zu glauben schienen, bereits seine Saat ausstreute, denn die meisten, denen ich begegnete, waren glücklich darüber, daß sie am Leben geblieben waren und alle Anzeichen darauf hindeuteten, daß sie es noch eine Weile bleiben würden.
Der Abt bot mir Wein an, wenn ich ihm das Versteck des Teufels verriete, in das sich dieser offensichtlich zurückgezogen habe, da nun wieder Friede sein sollte. Ich beschrieb dem Mann in der Kutte einen Weg an die Küste, vorbei an verlassenen Weinkellern und aufgelassenen Klöstern und sagte, daß Satan ins Meer gefallen sei.
Das erklärt manches, antwortete der Abt. Wasser verträgt der Teufel nicht, es muß nicht einmal geweiht sein. Er will Blut.
Entgegen den Erfahrungen, die wir mit anderen Mönchen und Priestern gemacht hatten, mochte dieser fahrendes Volk und Zirkusleute. Er schenkte mir augenzwinkernd ein ganzes Faß Wein, wenn ich gelegentlich einen freundlichen Gedanken an Bacchus verschwenden wolle. Das Faß war mir zu schwer, und so bat ich ihn, er möge es für mich im Keller verwalten, ich käme gern von Zeit zu Zeit auf einen Erfrischungstrunk vorbei. Er war einsam. Also zeigte er mir den Weinkeller und wo der Schlüssel verborgen war. Auf dem Weg durch die halb zerstörte Abtei kamen wir an der Vorratskammer vorbei. Ich merkte mir den Weg, und in einer der Nächte danach holten wir uns einen Teil der eingelagerten Vorräte. Ich war damals mit einem kleinen Zirkus unterwegs. Wir hatten während der vorangegangenen Wochen und Monate oft nichts zu essen gehabt. Die Bauern bewachten Vieh und Felder mit Gewehren und scheuten sich nicht zu schießen.
Wir stopften unsere Säcke voll und schlichen zu den Wagen zurück. Von den Tieren waren nur noch der Spitz und drei Pferde übrig geblieben. Die Bären hatten wir bis auf einen, der uns nicht hatte verlassen wollen, im Gebirge freigelassen, die Löwen in einem Zoo untergebracht. Als wir im großen Zelt, durch dessen Ritzen und Löcher der Wind pfiff und der Nachthimmel glänzte, unsere Beute aufteilten, kam der Andere.
Er sah mich an und sagte: Was ist es diesmal?
Ich senkte den Kopf. Ihm konnte ich nichts vormachen. Sonst log ich mich ganz gut durch die Welt, vor allem in der Manege, wenn ich mit meinen längst abgegriffenen Witzen vorgaukelte, daß ein Mensch vergessen kann und darf, solange sich ein anderer erinnert. Bei ihm verfingen meine Tricks nicht. Ich wies auf das, was wir gestohlen hatten, und drehte mich weg. Es war mir immer schwer gefallen, ihm ins Gesicht zu sehen. Erst jetzt haben wir uns aneinander gewöhnt. Er kommt oft hierher, beinahe jeden Tag. Er ist nachsichtiger geworden. Vermutlich eine Alterserscheinung. Wir schauen einander an und wissen, daß es nichts mehr zu gewinnen gibt. Ach ja, ich sagte, daß ich keine Besuche empfange. Er ist kein Besucher. Er gehört hierher wie ich, beinahe ich, nur nicht so gebrechlich. Manchmal ist er tagelang fort, bei den Menschen und ihren vergänglichen Lichtern. Hin und wieder bringt er etwas von draußen mit. Ich bewahre es hier auf. Das ist der Grund, warum es in diesem Zimmer kaum mehr Platz gibt. Ich weiß nicht, wann das aufhören wird. Bald.
Der Andere betrachtete unsere Beute und meine abgewandte Gestalt, dann begann er zu lachen. Es liegt wohl an der Zeit, sagte er. Diese Verwirrung, diese Verwirrung.
Dann setzte er sich auf den Boden und fragte mich, was ich für einen Krug Wein und ein Stück Fleisch haben wolle. Noch ehe ich antworten konnte, daß er unser Gast sei, schenkte ihm die schwarzhaarige Seiltänzerin aus Palästina Wein ein, und Rollo, unser Zwerg, brachte einen Teller mit Fleisch und Brot. Der Schreck entdeckt worden zu sein, stand noch in beider Pupillen. Rollo und die Seiltänzerin stellten sich neben dem Anderen auf, als wollten sie ihn mit ihrer Anwesenheit nötigen zu essen. Greifen Sie zu und noch einen Bissen und noch einen Schluck. Als der Andere halb aufgegessen hatte, wandten sie sich ab und schenkten ihm während des ganzen langen Abends, den wir beisammen saßen, keinen Blick mehr. Er hatte mit uns gegessen und getrunken, nun war er wie wir.
Wir boten dem Anderen dann auch noch einen Schlafplatz an, aber er wollte nicht bleiben. Er mußte in der gleichen Nacht weiter, in den Norden, wo noch immer geschossen und gekämpft wurde. Wir packten ihm Brot und Wurst ein. Er nahm beides, klopfte mir auf die Schulter und sagte, ich möge ihn ein Stück begleiten. Wir marschierten los, den leuchtenden Stern des Südens im Rücken. Den ganzen Weg über redeten wir nichts, um die Geräusche der Nacht nicht zu überdecken. Einmal drang Hundegebell zu uns, ein anderes Mal glaubten wir, den Motor eines herannahenden, schweren Fahrzeugs zu hören. Wir warfen uns in einen der Gräben, die die Wiesen und Felder durchpflügten, dann sahen wir Leuchtraketen am Himmel. In ihrer Lichtspur erkannten wir zu Boden sinkende, helle, ballonartige Gebilde. Der Andere hatte es plötzlich sehr eilig. Er griff in seinen Beutel, gab mir einen Stein, erzählte mir dessen Geschichte und ging.
Sag der Seiltänzerin, daß ich bezahlt habe, rief er mir zu, ehe ihn die Finsternis des nächsten Gebüsches meinem Blick gänzlich entzog.
Als ich zum Zelt zurückkam, erwartete mich Rollo. Große Vögel sind über das Land geflogen, sagte er, und haben fliegende Männer gebracht.
Fallschirmjäger, antwortete ich gleichgültig, ich habe sie gesehen.
Er wollte wissen, wo genau, aber ich war in der Finsternis immer schon schwer von Begriff gewesen.
Irgendwo nördlich von uns.
Und der Andere?
Auch dorthin, antwortete ich.
Zu den Soldaten? Rollo kicherte sein abstoßendes, verängstigtes Lachen. Unser tanzendes Mädchen vom Seil ist seinetwegen in großer Sorge.
Ich war zu müde, um zu sprechen, geschweige denn zu erklären oder auch nur nachzudenken. Im Norden dauerte der Krieg noch an, und ich ahnte auf einmal, warum es der Andere so eilig gehabt hatte. Er brachte wahrscheinlich Nachrichten von einem Ort an einen anderen und bestattete die Toten, die niemand bestatten wollte.
Sag dem tanzenden Mädchen vom Seil, daß er bezahlt hat, sagte ich und schob Rollo zur Seite.
Sein Gekicher brach abrupt ab. Er hat bezahlt? Er hat bezahlt?
Er bezahlt immer, antwortete ich. Er hat immer bezahlt.
Nun haben Sie doch Platz genommen. Wie Sie sehen, ge­wöhnt man sich an die Dunkelheit. Wir gewöhnen uns alle irgendwann. Den tollen Beteuerungen: lieber sterben als verraten, lieber selbst den Kopf verlieren als im Stich lassen, folgt bald das begeisterte Geheul angesichts von Schattenrissen, Schemen und anderen Undeutlichkeiten. Jetzt noch nicht, erst einmal ausschlafen und dann noch nicht, jedenfalls noch nicht, dieses Kainsmal der Menschen, wir tragen es alle. Wir sind gekennzeichnet durch dieses Noch-Nicht. Noch nicht das Leben, noch nicht der Tod, noch nicht die Wahrheit, alte Hure, die sich, seit ich von ihr höre, mit jedem eingelassen hat, um ihr Gesicht zu verlieren. Die es anders gehalten haben, sind tot. Einmal jetzt oder jetzt endlich gedacht, und es geht nicht mehr weiter. In gewissem Sinn stellt das den Fortbestand der Welt in Frage. Alles erreicht. Alles entschieden. Alle Türen zu. Damit hört die Zukunft auf.
Zuerst einmal ausschlafen, und das tanzende Mädchen vom Seil stürzte ab. Sie hatte uns, in der s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Widmung
  3. 1
  4. 2
  5. 3
  6. 4
  7. 5
  8. 6
  9. 7
  10. 8
  11. 9
  12. 10
  13. 11
  14. 12
  15. Marianne Gruber
  16. Zur Autorin
  17. Impressum
  18. Weitere E-Books aus dem Haymon Verlag