FÜNFTE EPISODE
Hier geht es jetzt gegen Abend. Nichts ist inzwischen geschehen. Noch immer herrscht Ruhe in Aulis. Ruhe vor dem Sturm oder dem Wind. Nur hinter der Zeltplane hört man ein Weinen. Und Klytämnestra tritt gerade heraus. Was will sie? Was tut sie? Sie kommt auf uns zu. Wir wollen sie fragen, was sie da sucht:
Ich halte Ausschau nach dem Mann. Er bleibt schon lange aus. Und drinnen weint und klagt das Kind, seit es von mir die wahre Hochzeit kennt, zu der der Vater es gebeten hat.
Doch halt, da kommt der schlimme Kuppler, mein Mann, Agamemnon! Ich will es ihm auf den Kopf zusagen, daß er ein Verbrecher ist an seinem Kind.
Tatsächlich, da kommt er, schuldbewußt, vornübergebeugt, über die Dünen, endlich zurück. Was wird er wohl bringen? Wie wird er sich stellen? Er weiß ja noch nicht, daß die anderen wissen.
Gut, daß ich dir vor dem Zelt begegne, Frau, ohne die Tochter! Ich habe dir etwas zu sagen, das nicht für die Ohren der Braut ist.
Was kann das sein, wofür dir Augenblick und Ort so günstig scheinen?
Nein. Nichts. Schick mir statt dessen das Kind heraus. Es soll mit seinem Vater gehen. Alles ist zur Opferung bereit. Das geweihte Wasser. Das Gerstenschrot, das in die Flammen soll. Die Tiere, deren dunkles Blut, der Artemis zu Ehren, noch vor der Hochzeit fließen muß. Nur eine Jungfrau fehlt uns, für den Reigen.
Dein Wort ist schön, ganz anders als dein Tun! – Komm nur heraus, mein Kind! Du weißt ja, was der Vater mit dir will. – Da ist sie, deine Tochter, ganz die Deine.
Du weinst, Iphigenie? Du schaust nicht freundlich? Schlägst deine Augen nieder? Senkst vor dem Vater den Blick?
Vater? Vor dem Vater? Welchem Vater? Ach, was sage ich meinem Vater? Mit welchen seiner Schmerzen kommt das Kind zuerst zu ihm?
Schmerzen? Warum Schmerzen? Was steht ihr da und tragt Bestürzung, Unmut, Trauer im Gesicht? Du, meine Tochter? Du, meine Frau?
Tochter? Frau? Auf eine Frage gib mir eine wahre Antwort, Mann!
Wozu die Mahnung? Frag! Ich spreche immer wahr.
So ist das wahr: du willst dein Kind ermorden?
Was für ein Wort: ermorden! Was für ein schändlicher Verdacht!
So ist er wahr? Du sagst nicht nein?
Frag etwas anderes, dann ist die Antwort anders.
Nur darauf will ich eine Antwort.
Ach, böses Schicksal! Böser Dämon!
Meiner! Ihrer! Ein Schicksal für drei!
Was tut man euch?
Das fragst du mich? Du bist die Antwort!
Ich bin verloren. Ich bin verraten.
Du verrätst dich selbst. Dein Schweigen verrät deine Schuld.
Was könnte ich sagen? Soll ich durch Lügen die Schuld noch vergrößern? Ich bin dein Mann.
Dann spreche ich jetzt, deine Frau, Klytämnestra, offen, ohne Schonung, nicht mehr in Rätseln, wie es das Herz befiehlt! Ich fange vorne an mit meinem Vorwurf: Als du mich nahmst, schon da, da war es mit Gewalt, entgegen meinem Willen, nachdem du meinen ersten Mann, den Tantalos, erschlagen hattest, und sein Kind zerschmettert, mir von der Brust weg, ohne Gefühl, auf dem Boden. Da zogen, hoch zu Roß, für ihre Schwester, meine Brüder gegen dich in den Kampf. So daß du um Gnade flehtest. Und mein Vater, der greise Tyndaros, gewährte sie dir. Und gewährte dir, da du darum batest, auch meine Hand. Mit dir versöhnt, war ich dir eine gute Frau, das wirst du mir bezeugen, treu in der Liebe, dem Haus ein guter Vorstand. So daß du, wenn du kamst, dir deiner Freude sicher warst, und wenn du gingst, dir deiner Freude sicher bleiben konntest. Ein Glücksfall für den Mann, denn schlechte Frauen gibt es viele! Vier Kinder hatten wir, drei Töchter, einen Sohn – und eins der Mädchen willst du uns jetzt wieder nehmen. Und fragt man dich: warum, was ist die Antwort? – Ich gebe sie für dich: daß Menelaos Helena zurückgewinne! Das ist der Handel: das Kind der Preis für eine Hure! Mit unserem Liebsten kaufen wir für deinen Bruder eine Buhlerin! Was ist die Folge? Schau! Du ziehst nun in den Krieg. Was denkst du, wie im Haus die Stimmung ist? Für eine Mutter, die ihr Kind verlor! Und wie? Durch seinen Vater, nicht durch fremde Hand! Wenn alle Plätze leer sind, wo es war? Sein Mädchenzimmer leer! Wird sie nicht immer weinen? Und nach der langen Zeit der Trennung, wenn du wiederkehrst, wie wird sie dich empfangen? Mit ihren andern Kindern, die noch leben. Nicht, wie du es verdienst? Als den Verbrecher, der du sein wirst, wenn du gehst? Wird sie nicht Gleiches mit Gleichem vergelten? – Nein, bei den Göttern, zwinge mich nicht dazu! Du schlachtest deine Tochter – , was willst du dabei beten? Um welchen Segen bitten, als Mörder deines Kindes? Um Wind? Um Sieg? Um gute Heimkehr, da du schrecklich ausfährst? Bin ich berechtigt, mitzubeten, für den Kindermörder? Das wäre Sünde gegen die Weisheit der Götter! Und du? Wenn du zurückkommst? Willst deine lebenden Kinder umarmen – und an das tote nicht denken? Das wirst du nicht. Die Kinder werden sich vor dir verbergen. Hast du das bedacht? Oder kann der Vater nur als König oder Feldherr denken? Dann hättest du zu deinen Männern sagen müssen: Ihr wollt den Wind zum Krieg? So werft das Los darum, wer seine Tochter opfern muß! Das wäre gleiches Recht. Nicht, daß allein dein Kind das Los des Todes treffen kann. Noch besser: Menelaos soll die Tochter für die Mutter opfern! Er will etwas, er hat zu geben! Warum soll ich, die treu war, jetzt mein Kind verlieren, und sie, die Ehebrecherin, die treulos war, wenn sie zurückkommt, Kind und Glück und Mann erneut genießen? Habe ich nicht recht? Und wenn ich recht habe, darfst du dieses Recht mit Füßen treten, das auch das Recht der Tochter auf ihr Leben ist, und es ihr nehmen? Das darfst du nicht!
Das darf er nicht! War das nicht stark gesprochen? Was wird er tun? Was steht in der Zeitung: Spannung in Aulis – gibt Agamemnon nach? Der Drohung der Mutter, der Klage der Tochter? Denn jetzt wird Iphigenie ihre Stimme erheben:
Wenn ich die Stimme des Orpheus hätte und könnte die Steine erweichen und die Herzen der Menschen schmelzen, ich würde diese Gabe jetzt nutzen. Doch meine ganze Kunst sind Tränen. Die habe und die gebe ich. Anstelle des Ölzweigs, den sonst die Zufluchtsuchenden bringen, lege ich dir mich selbst zu Füßen, dein Kind, durch sie für dich geboren. Laß mich leben, ich bin so jung. Mich freut der Anblick des Lichts. Schicke mich nicht, vor meiner Zeit, zu den Schatten. – Ich war die erste, die dich Vater rief, die erste, die du Tochter nanntest, die erste, die, auf deinem Schoß, dich herzte und sich herzen ließ. Damals war deine Sorge, daß die Tochter, später, wenn sie dir entwachsen wäre, im Hause eines gleichen Mannes ähnlich glücklich sei. Und meine war, daß ich dem greisen Vater einmal Obdach bieten könnte, in einem guten Haus, um ihm die Kinderliebe in seinem Alter zu vergelten. Mir gilt mein Wort noch. Du hast das deine vergessen. Jetzt bietest du die Tochter auf zur Bluthochzeit! Im Totenhaus soll ich auf meinen Vater warten! – Nein, tu es nicht! Verschone mich! Bei meiner Mutter, deiner Frau! Sie hat mich mit Schmerzen geboren. Soll sie mich auch mit Schmerzen verlieren? Was geht uns Helenas Ehe an? Warum soll ihr Ende das meine sein? – Schau mich doch an! Schenke mir, wenn nicht mein Leben, doch deinen Blick! Hab Erbarmen! Zeig Mitleid mit meiner Jugend! Es gibt nichts Schöneres als das Licht. Der Tod ist dunkel. Umnachtet, wer ihn sich wünscht. Besser, im Dunkeln leben, als sterben im Glanz.
Ist es denn nicht zum Erbarmen? Wie heißt es in der Zeitung: Helenas Untat wirksam bis auf den heutigen Tag! Ist denn das Schicksal blind? Und kennt Agamemnon kein Mitleid?
Wohl weiß ich, was Mitleid ist. Ich habe Erbarmen. Ich liebe meine Kinder. Ich bin kein Narr. Die Tat ist furchtbar. Aber ich muß sie tun. Das Schicksal will sie von mir. Seht doch die griechische Flotte! Und all die Krieger, die in Waffen stehen! Sie warten nur auf Wind. Sie werden Troja nie erreichen, sie werden Troja nie zerstören, wenn ich dich, nach dem Spruch des Sehers, nicht opfere, für ihren Krie...