Das süße Messer
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Das süße Messer

Eine Novelle

  1. 132 Seiten
  2. German
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Das süße Messer

Eine Novelle

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

So begann sie über die Liebe nachzudenken, aber ein richtiges Nachdenken wurde wieder nicht daraus, vielmehr wiederholte sie das Wort "Liebe" sechs-, sieben- oder achtmal in ihrem Kopf, und sie hörte erst damit auf, als sie meinte, das Wort laut ausgesprochen zu haben. Sie würde morgen, nüchtern und ausgeschlafen, mit dem Nachdenken ernst machen, schließlich war sie das zwar nicht diesen Männern, aber sich selbst schuldig, und sie beugte sich vor, um nach ihrem Glas zu greifen.War nicht eben noch alles aufs Beste eingerichtet im Leben von Ute Cantz? Aber so schnell kann es gehen mit den Verwirrungen der Gefühle, wenn sich plötzlich die Liebe einmischt. Leicht und mit Schwung erzählt Jochen Jung die Geschichte einer folgenreichen Begegnung.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783709975114

1

„Was weißt du denn schon von der Liebe?“, hatte ihre Tochter mit hoher, sich überschlagender Stimme geantwortet, während sie mit flinken Fingern ihren blonden Pferdeschwanz zweifach durch einen Gummiring zog. Gleich darauf hatte sie, dort am Küchenfenster im Hellen stehend, wie abwesend wieder zu ihrer Tasse gegriffen und dabei etwas Kaffee verschüttet, aber so, dass die paar Tropfen, die übergeschwappt waren, von der Untertasse aufgefangen wurden, die sie in der Linken balancierte. Ute hatte, sehr leise, aber ebenso bestimmt, gesagt: „Alles.“ Und als die Tochter, zitternd in ihrem Zorn, in dem morgendlichen Küchenlicht mehr schrie als nachfragte: „Was hast du gesagt?“, da zögerte sie nur wenig und sagte dann, wobei sie ihrem Kind direkt in die Augen sah: „Nichts. Gar nichts weiß ich davon.“
Die Sonne stand am Himmel wie eine Kreissäge, und es sah aus, als habe sie das Fenster gerade erst aus der Wand geschnitten, um, wem auch immer, den Blick auf die beiden streitenden Frauen freizugeben. Ruth stand da auf dem weißen Trapez aus Licht, das auf dem Küchenboden lag wie ein benutztes Badetuch, und atmete hörbar und rasch.
Die Mutter war, was das Aussehen anging, so ziemlich das Gegenteil der Tochter: Sie war nicht besonders hübsch, hatte aber für ihr Alter – es war der Vorabend ihres fünfzigsten Geburtstags – immer noch eine auffallend gute Figur, wenn man von den Beinen einmal absah. Ruth hingegen, flach und eckig, hatte Beine, die sie zwar nahezu ausschließlich in Jeans versteckte, die ansonsten aber ein kleiner Grund für das Stolze in ihrer hübschen Miene hätten sein können, was ihrem Wesen allerdings ganz und gar nicht entsprach: Stolz war Ruth Cantz nicht, und sie hätte nicht einmal Gründe für das Gegenteil gewusst. Stolz war für sie kein Thema.
Es versprach, ein heißer Tag zu werden. Schon in der Früh war der Himmel wolkenlos gewesen, geradezu bedenkenlos, und die Temperaturen schienen Ute jedes Mal, wenn sie hinausschaute, noch einmal gestiegen zu sein. Sie hatte sich entschieden zu warm angezogen.
Erst als sie kurz darauf im Auto saßen, zog sie die Jacke aus, als habe sie auf die unbequemste Möglichkeit gewartet, es sich etwas bequemer zu machen. Sie war verlegen, und zum Glück war Ruth, die darauf bestanden hatte, das Auto ihrer Mutter zu fahren, viel zu sehr mit sich selbst und dem Lenken beschäftigt, als dass sie es gemerkt hätte.
„Kann das wahr sein, dass wir jetzt dankbar sind für meinen Krankenhaustermin, nur weil wir uns dann nicht weiter streiten werden?“
„Man kann sich auch im Auto sehr gut streiten. Hast du noch nie vor einer Ampel gestanden und links oder rechts von dir eines dieser Paare gesehen, das sich anschrie, ohne dass du etwas gehört hast? Ach, Ruth, du solltest deine Mutter gut genug kennen, um zu wissen, dass sich das Streiten mit ihr nicht lohnt.“
„Es geht nicht ums Streiten.“ Ruth sprach jetzt fast tonlos, den Blick nach vorn gerichtet und offensichtlich entschlossen, grundsätzlich zu werden. „Es geht um mich. Um das Leben, das du mir vor langer Zeit mit einer dicken rosa Schleife in den Schoß gelegt hast, stolz auf dein Geschenk. Mit dem du mich beim Auspacken dann aber ziemlich allein gelassen hast.“
„Das machen alle Mütter, wenn sie vernünftig sind“, hatte Ute gerade noch gesagt, selbst unzufrieden mit dieser Antwort, als Ruth fest auf die Bremse trat und ihre Mutter nach vorn geworfen wurde, sodass der Gurt zwischen ihren Brüsten ruckartig hart wurde, als sei sie gegen einen Laternenpfahl gerannt. Das Quietschen der Reifen, Ruths Fluch und eine nicht nachlassende Hupe von einem der Autos um sie herum gaben der Situation etwas Unbeherrschtes, und eine Minute später sahen sie auch schon die beiden gleichsam ineinander verhakten Autos vor ihnen und daneben eine schreiende junge Frau, auf die ein Mann mittleren Alters in einem zotteligen Pullover einsprach, als wollte er sie dazu überreden, doch endlich mal einen Arzt aufzusuchen.
Es war vermutlich nichts wirklich Ernstes passiert. Die beiden Frauen waren dennoch froh, niemand von denen da draußen zu sein, sondern in ihrem Auto zu sitzen, nebeneinander. Ruth gab sich erleichtert, fast als habe sie diesen Vormittag schon hinter sich. Während sie langsam weiterfuhren, sah Ute im spiegelnden Rückfenster des Autos vor ihnen einen scheinbar abstürzenden Vogel. Vielleicht eine Möwe, dachte sie, wieso gibt es hier eigentlich Möwen? Dann las sie auf einem großen Transparent, das etwas schlaff an einer Kirche hing, die Worte ,Jesus lebt!‘, und gleich ging es durch ihren Kopf: Und ich? Wenig später öffnete sich vor ihnen die Tiefgarage, von der aus es nicht weit zum Allgemeinen Krankenhaus war.
So war es bei Ruth, wenn sie etwas zu erledigen oder, wie sie fand, zu bewältigen hatte, irgendetwas, das die üblichen Anforderungen nur ein wenig überschritt, geschweige denn, wie an diesem Morgen, mehr als ein wenig: Vor nahezu allem, was sie zu tun hatte, lag für sie eine kleine oder größere Hürde, die sie überspringen musste und vor der sie auch oft genug schon umgekehrt war. An diesem Tag hatte sie sich in der Boutique, in der sie arbeitete, vorsichtshalber nicht nur den Vormittag, sondern gleich auch den Nachmittag freigenommen.
Die Hürde, die jetzt vor ihr lag, war einigermaßen hoch, es durchfuhr sie gerade in dem Moment wieder, als der Wagen die abschüssige Schleife in das untere der beiden öden Garagenstockwerke rollte. Es war sehr voll, die Frauenparkplätze, die sie immer zuerst anfuhr, waren alle belegt, und sie musste ziemlich weit zu einer der hinteren Reihen fahren und dort, eingezwängt zwischen zwei Pick-ups, einparken.
Die Gynäkologie aufzusuchen, hatte ihr zwei Nächte zuvor Markus, ihr derzeitiger Liebhaber, vorgeschlagen, der Arzt war, wenn auch noch in der Ausbildung. Kurz bevor er dann unversehens einschlief, hatte die Art, mit der seine Linke sich um ihre Brüste kümmerte, beiläufig vom Sanften ins Prüfende gewechselt, was ihr nicht entgangen war. Zwei-, dreimal war daraufhin die Angst in heißen Wellen in ihr aufgestiegen, aber noch am heutigen frühen Morgen hatte sie beschlossen, ruhig zu bleiben, und das war ihr zu ihrer eigenen Überraschung auch ganz gut gelungen, bis zur Ankunft ihrer Mutter, die darauf bestand, sie zum Krankenhaus zu bringen. Dann allerdings, kaum dass Ute sie etwas zu fest in den Arm genommen hatte, hatte sie ihre Tränen aufsteigen gespürt und war aggressiv geworden. Und natürlich war schon bald die Sprache wieder einmal auf die so rasch wechselnden Männerbekanntschaften Ruths gekommen.
Die Hürde Krankenhaus hatte sie eigentlich allein nehmen wollen.

2

Der dunkle Glanz auf der gegenüberliegenden Wand schimmerte plötzlich metallisch auf, grünlich und violett wie das feuchte Glänzen von Seifenblasen. Es schien Ute so, als läge die Quelle dieses Glanzes im Innern der Wand oder vielleicht sogar dahinter. Was da für Sekunden aufleuchtete, war ebenso schnell wieder verschwunden, war von dem matten Dunkel aufgesogen, das da schon vorher geherrscht hatte und sich jetzt noch auszubreiten schien. Die Tiefgarage kam ihr vor wie eine Krypta, der die dazugehörige Kathedrale fehlte.
Sie hatte gehört, wie ein Auto näher kam, hinter ihr vorbeizog und dann offensichtlich weiter vorn eingeparkt wurde. Die Lichter hatten wie Suchscheinwerfer die Betonwände abgetastet, an denen es seltsam ölige Flecken gab, wie auch immer die dorthin gekommen waren. Wie eine helle Hand war das Licht auch über die Autos gefahren, die dort in Reih und Glied und doch jedes für sich standen, im zurückgekehrten Dunkel wieder ganz ihrer eigenen Würde überlassen, die sie hier hüteten.
Wie verschieden diese Autos voneinander waren, ging es Ute durch den Kopf, die Marken, die Farben, das Alter machten in der jeweiligen Mischung etwas Besonderes aus jedem einzelnen, und dann standen sie auch überhaupt nicht alle genau parallel. Von Reih und Glied konnte eigentlich gar keine Rede sein, sie standen eher da wie Stallvieh, überall waren ungleiche Abstände und Winkel, es war eine Parade der Eigenwilligkeit, und sie merkte, wie nur ihre völlige Unkenntnis dessen, was unter den Motorhauben verborgen war, sie daran hinderte, einer alten Idee, dass Autos in Wahrheit individueller und also vermutlich auch verletzlicher seien als Menschen, weiter nachzugehen. Aber sie sah die Kratzer und Roststellen mit Freude, ja mit einer Art Zuneigung, in die hinein sie auf einmal eine heillose Angst um ihr Kind überfiel: Sie war ebenso überzeugt davon, dass Ruth nichts fehlte, wie vom Gegenteil. Und das Gegenteil hieß?
Was war das für ein Einfall gewesen, hier unten auf Ruth zu warten und im Auto sitzen zu bleiben? Aber es war ihr mit einem Mal unmöglich vorgekommen, auszusteigen und ans Tageslicht zu gehen – ja, ans Tageslicht zu kommen, so als würde sie dort entdeckt werden oder sich krümmen in der Helligkeit wie eine Larve. Ruths Versuch, sie davon abzuhalten, im Auto zu bleiben, und sie mit nach oben zu nehmen, hatte halbherzig auf sie gewirkt und war es ja auch gewesen: Ruth war jetzt bei ihren Hürden, den Problemen, die ihr gehörten. Und da sie es entschieden abgelehnt hatte, dass ihre Mutter sie ins Krankenhaus begleitete, sie ihr aber hinterher gleich das Untersuchungsergebnis mitteilen wollte, hätte Ute natürlich in ein Café gehen sollen. Es war ihr aber keines in dieser Gegend eingefallen, und wenn sie eines gekannt hätte, dann hätte sie sich wohl etwas anderes ausgedacht, um hier unten sitzen bleiben zu können, sie wusste das und seufzte, als müsste sie sich das auf diese Weise selbst bestätigen. Der Schatten ihres nahen Geburtstags lag auf ihr, trotz der zunehmend mächtigen Sonne, die sie über sich wusste.
Ruth hatte nur mit den Achseln gezuckt, und nachdem Ute noch einmal angeboten hatte, mitzukommen, hatte sie gemeint, „es wird vielleicht etwas dauern“, hatte ohne nachzudenken die Autoschlüssel abgezogen und eingesteckt, war ausgestiegen und hatte die Tür zuzuschlagen versucht, wobei sie allerdings den Haltegurt einklemmte und dann eine Weile stumm hantieren musste, bis er sich aufgerollt hatte und sie die Tür wirklich schließen konnte. Ihre davoneilenden Schritte klangen wie aus dem Ende eines Films und ließen Ute noch einmal aufseufzen.
Es gab etwas, das Mutter und Tochter mehr miteinander verband, als beiden bewusst war, und das war nicht einfach Ruths Vater oder die Tatsache, dass Ruth ihn nie kennengelernt hatte, sondern es waren das schlechte Gewissen der Mutter und der Vorwurf der Tochter, auch wenn es in Utes Augen für beides keinen triftigen Grund gab.
Er hieß Anselm, studierte Latein und Alte Geschichte und hatte der jungen Kunsthistorikerin in der Mensa, während beide sich über einen graugrünen Erbseneintopf hermachten, in einem sehr langen, sehr einseitigen und, wie Ute damals fand, sehr klugen Gespräch erklärt, dass das Studium der Kunstgeschichte ohne das ebenso gründliche Studium von Latein und Alter Geschichte völlig sinnlos sei. Anselm hatte schon während des Löffelns ohne Unterbrechung geredet und setzte das nun, rauchend und mit dem Stuhl auf zwei Hinterbeinen ständig an der Grenze zum Kippen, hemmungslos fort. Sie hatte ihm mit schief gelegtem Kopf zugehört und war eindeutig beeindruckt, vor allem weil er seine Vorträge – es blieb nicht bei dem einen – mit genau jener Mischung aus Hilfsbereitschaft und Draufgängertum zu verbinden wusste, die der unerfahrenen Studentin gefiel.
Am Ende war sie ein wenig verliebt, während er seiner Zuhörerin zeigte, dass er sie wirklich liebte, und als sie ihm, bereits im fünften Monat, sagte, dass sie schwanger sei und zugleich entschlossen, das Kind zu bekommen und sich von ihm zu trennen, war er wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte zunächst versucht, ihm einzureden, dass das Kind nicht von ihm sei, um dann, als er darauf bestand, dass doch wohl hoffentlich nur er dafür in Frage komme und er seine Pflichten selbstverständlich erfüllen werde, nicht nur auf ihn, sondern auch auf alle Unterhaltsansprüche zu verzichten. Er brach daraufhin sofort sein Studium ab und wanderte nach Neuseeland aus, wo er ziemlich bald, wie nach fünfjährigem Schweigen ein Brief meldete, tatsächlich eine psychotherapeutische Praxis eröffnet hatte. Schon ein Jahr später teilten ihr seine Eltern mit, dass er bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei und eine Überführung wenig Sinn mache.
Sie selbst setzte ein Semester aus, während dem sie Ruth bekam, und sie hatte das unverhoffte Glück, dass sich ihre Eltern, nachdem sie sich von ihrer ersten Entgeisterung erholt hatten, zu ebenso toleranten wie begeisterten und nicht zuletzt großzügigen Großeltern wandelten.
Wenn Ute später wieder einmal von ihren Studenten gründliche Kenntnisse in Latein und Alter Geschichte einforderte, musste sie natürlich an Anselm denken, den hübschen Dauerredner. Die Vorstellung, dieser Mann solle der Erzieher ihres Kindes werden, hatte sie nach einer schlaflosen Nacht, die sie mit einem ebenso schlaflosen heulenden Nachbarshund geteilt hatte, zu ihrem rabiaten Verzicht gebracht, und das war die erste ihrer zwei, drei Lebensentscheidungen, mit denen sie auch im Nachhinein immer sehr zufrieden gewesen war.
Ruth aber, Ruth sah sich dadurch um ihren Vater betrogen, und sie machte ihrer Mutter den Vorwurf eines grenzenlosen Egoismus für etwas, das für diese nichts anderes als ein Akt der Lebensrettung gewesen war.

3

So lag sie: auf der linken Seite des Bettes, auf der linken Schulter und den linken Arm den Körper entlang ausgestreckt. Der rechte Arm hingegen hing über die Bettkante, locker und schwer zugleich, und ihre Finger kraulten das Fell des Flokatis, der vor ihrem Bett lag und den sie vor Jahren auf der einzigen Tupperware-Party gewonnen hatte, zu der man sie je überreden konnte.
Er fühlte sich gut an, ihre Finger taten, als meinten sie sich unbeobachtet, zupften im Dunkel ein wenig hier und da und drehten spielerisch ein paar Locken, um sie dann gleich wieder glatt vom Finger zu ziehen. Ja, es fühlte sich gut an, weil es sich anfühlte wie das Schamhaar des Mannes, der da leise hörbar neben ihr schlief. Eine halbe Nacht war es her, dass sie miteinander geschlafen hatten, und bei dem Gedanken streckten sich kurz ihre Beine. Es überraschte sie immer wieder, wie so viel Lebendigkeit sich in einem konzentrieren konnte, kurz vor dem Einschlafen.
Und darüber hinaus: denn sie hatte wieder geträumt, wie in so vielen Nächten des letzten Jahres, und wie immer wusste sie auch dieses Mal, dass da etwas gewesen war, was mit ihm zu tun hatte, etwas geradezu Entscheidendes; aber Aufwachen hieß immer auch, den Traum festhalten zu wollen und doch Zeuge zu sein davon, dass er in ihr Inneres, aus dem er aufgestiegen war, wie ein Sog zurückströmte, ohne dass ihr mehr davon blieb als ein schönes und undeutliches Gefühl der Fülle, die sie da in sich wusste wie in einer Vorratskammer.
Sie hatte es ihm zu verdanken, dessen war sie sich vollkommen sicher, und tatsächlich war es ihre Bereitschaft zur Dankbarkeit, die es ihm so leicht machte, diese Lebendigkeit in ihr wieder und wieder zu wecken. Ruth war am Anfang kaum dazu zu bringen gewesen, diese haltlose Verliebtheit ihrer Mutter überhaupt ernst zu nehmen, und sie war nicht die Einzige. Wie konnte eine Kunsthistorikerin der Universität, eine Professorin, sich mit einem Malermeister zusammentun, noch dazu mit einem sichtlich nicht sehr erfolgreichen – das konnte doch nur den einen Grund haben, über den man besser hinwegsah.
Und tatsächlich – wäre sie wacher gewesen, hätte sie jetzt vielleicht wirklich gelacht –, sie hatten zueinander gefunden wie im einfallslosesten Porno: Er war der Maler, der gekommen war, um ihr innerhalb von drei Tagen die Wohnung auszumalen, und der bereits am zweiten Nachmittag, noch ehe das letzte Zimmer, das ehemalige Kinderzimmer der Tochter, gestrichen war, im Bett von Ute Cantz lag. Ein wenig hatte er sich tatsächlich gesträubt, sozusagen – es war der Malerkittel, aus dem sie ihm dann heraushalf, er war ja eigentlich im Dienst –, aber kaum dass es begonnen hatte, war es auch nicht mehr aufzuhalten: Die beiden Körper verstanden sich geradezu vorbehaltlos.
Der Skandal, wie Ute es bei sich selbst gern nannte, war im Übrigen, dass ihre Tochter ganz und gar recht hatte: Ja, sie liebte diesen Mann, weil sie es liebte, mit ihm zu schlafen, und sie ging davon aus, dass er das wusste und damit einverstanden war. Es war wenig abwechslungsreich, was sie ihren Körpern gegenseitig taten, aber sie empfand die Gleichförmigkeit als Verlässlichkeit. Sie wollte doch gerade im Bett keine Überraschungen, so sehr sie die sonst auch schätzte, gerade da wollte sie wissen, dass auf sie zukam, was sie schon wusste. Es war für sie, als würde ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Zitat
  3. 1
  4. 2
  5. 3
  6. 4
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  8. 6
  9. 7
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  11. 9
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  15. 13
  16. 14
  17. 15
  18. 16
  19. 17
  20. 18
  21. 19
  22. 20
  23. 21
  24. 22
  25. 23
  26. 24
  27. Jochen Jung
  28. Zum Autor
  29. Impressum