Der gelbe Diwan
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Der gelbe Diwan

Roman

  1. 320 Seiten
  2. German
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Der gelbe Diwan

Roman

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Was hält den pathologischen Horizont unserer Gegenwart zusammen? Wieso funktioniert unsere Gesellschaft anscheinend so reibungslos, obwohl ihre Basis längst weggebrochen ist?Walter Grond stellt keine geringere Frage als die, wie unsere Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts funktioniert - und führt statt einer einfachen Antwort tief hinein in den Großstadtdschungel zwischen Orient und Okzident, wo Menschen und Kulturen sich begegnen und verlieren, wo Ideen und Identitäten, Geschichten und Erinnerungen aufblitzen und verglühen, wo alles verbunden ist und doch jedes Leben für sich steht: Der Journalist Paul Clement bereitet sich auf eine Reise vor, die ihn auf den Spuren Gustave Flauberts durch Ägypten führen soll, als er vom Selbstmord seines ehemaligen Freundes Johan erfährt. Die Reise zu seinem Begräbnis wird zu einer Reise zurück in seine Bohèmejahre, in eine Zeit, in der alles möglich und alles erklärbar erschien, in der man genau wusste, wofür und wogegen man kämpfte...

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Information

Jahr
2012
ISBN
9783709975213

1

Winzige Öltropfen spritzen auf, da der Fischkutter unruhiges Wasser durchschneidet, treffen den Vogel, der über dem Fangeimer am vorderen Deck flattert und nun, um der Bugwelle auszuweichen, im engen Bogen zum Kajütendach hochfliegt. Sein Kreischen dringt nicht an das Ohr des Skippers, halb taub vom Dröhnen der Schiffsmotoren steht der am Steuerrad, in Falllinie unter dem Vogel, der das ölige Nass aus seinem Gefieder zu schütteln versucht. Während im Bordfernseher die Frühnachrichten beginnen, beißt der Skipper ein Stück von seinem belegten Brot, mit Blick auf das Echolot steuert er, keine Untiefe vor sich, zum Hafen.
Vom Fenster seines Arbeitszimmers aus folgt Paul Clement der Möwe, die nach dem missglückten Krabbenraub zum Ufer hin gleitet. Ein Folgetonhorn weckte ihn aus dem Schlaf, kurz nach halb sieben, pünktlich wie jeden Tag, wenn die Pendler-Fähre in den nahen Hafen einläuft. Die Kinder sind noch im Bett. Dort unten, wo einmal satte Wiesen lagen, zwängt sich die Straße zwischen dem Wasser und der Häuserzeile hindurch, kein Fluss eigentlich, sondern ein gemauerter Durchstich vom Hafen zu den alten Fabriksgründen. Zu dieser Jahreszeit sind nicht nur die einzeln verbliebenen Weiden entlaubt, es zeigt auch das Menschengemachte seine ganze Gebrechlichkeit, die Laternen den Rost, das Schutzglas die Sprünge, dahinter die Schlieren von verschmorten Insekten, und die Straße ihr Inneres, dort an der Baustelle, wo die Maschinen den Asphalt aufschnitten, Halden von Schutt und Müll.
Inzwischen taucht vom Hafen her ein Lastkahn auf, ein antiquiertes Modell, dessen ungedämmte Motoren hier oben das Fensterglas zum Vibrieren bringen. Da der Nebel bis über die Wasseroberfläche einfällt, verschwinden gar die roten Positionslichter, das Stadtviertel am anderen Ufer taucht ins Nichts. Dann lösen sich Schwaden aus dem gestaltlosen Grau, und über dem Wasser bilden sich Wölkchen. Ein Sog entsteht, reißt ein Loch, durch das Lichtbündel dringen. Darin drehen sich Dunstfetzen, bis sich aller Nebel hebt, die Öffnung weitet und der Himmel zum Vorschein kommt, helles Azurblau. Eine Bühne, auf der alles weit voneinander weg rückt, von einem Licht getroffen, das Paul Clement nur aus dem Orient kennt, es fällt auf Häuser, Lagerhallen und Schlote, während die dem Licht abgewandte Seite im Dunkeln bleibt.
Gerade fällt der Nebel wieder ein, schließt sich der Schleier über der Stadt, da lässt ein Klingelton den Staunenden am Fenster aufhorchen. Ein zweites, ein drittes Mal, ein schriller Klang. Paul Clement blickt auf die Uhr, schon sieben, gewiss Behle, seine geschiedene Frau, die dienstags die Kinder zur Schule bringt. Er muss ihr noch mitteilen, dass er in Kürze verreisen wird, sie soll, wenn sie die Kinder zu sich nimmt, den beiden nicht wieder diese Nanny vorsetzen, eine Tamilin, die kein Wort mit den Kleinen spricht.
Er löst sich aus der Fensternische, geht hinüber zum Arbeitstisch, sucht nach dem Telefon, im Durcheinander von Notizen und Karten, bis ihm eine aufgeregte Stimme aus dem Hörer entgegen schlägt: „Paul, bring du die Kinder zum Bus, ich bin schrecklich in Eile!“
„Nein, heute nicht“, erwidert er, lenkt das Gespräch auf seine bevorstehende Reise, er muss mit dem Fotografen die Motive besprechen.
„Du fährst fort?“
„Nach Ägypten, ein altes Reisetagebuch wird neu aufgelegt, sie wollen eine Reportage von mir.“
„Und die Kinder?“
„Ich kann den Auftrag nicht ablehnen.“
Ihr tiefes Durchatmen kennt er, sie wird unwirsch. Bestimmt wird sie ihm gleich die Energie, die ihr die Agentur abfordert, vorhalten, seine Unentschlossenheit beklagen, dass er sich nur durchs Leben schwindelt, auf eine arrogante Weise genügsam, unerträglich eingebildet, wenn er sie immer noch seine Frau nennt, sich andauernd über Tatsachen hinweg setzt.
„Fünf vor acht“, sagt sie aber nur, „sei pünktlich vor der Haustür.“
Ein triumphierendes Lächeln legt sich um Clements Mund. Ein Unglücklicher ist er nicht, eher ein Gleichgültiger. Man kann ihn nicht auffällig nennen, von durchschnittlicher Größe, schlanker Statur, er ginge als Hugenotte durch, ein alemannischer Typ. Fügt sich, bald fünfzig, ins Leben, nicht unklug, hat seinen Witz nicht verloren. Bereist, um nicht ängstlich zu werden, seit zwanzig Jahren den Orient, verdient mit seinen Reportagen gutes Geld. Und wartet nun, ehe er die beiden Kinder weckt, auf Behle, beobachtet, wie sie am Gehsteig auftaucht und bis zur Höhe der Agentur, die unweit seiner Wohnung liegt, herauf schlendert, einem Gespenst aus den Wolken gleich an seinem Fenster vorbeizieht.
Für die jugendliche Frau in ihren Jeans und der roten Strickjacke spürt Clement noch immer eine wilde Bewunderung. Sie bleibt stehen, die unvermeidliche Zigarette im Mund, hält die Hand vor die Brust und hüstelt, ihre Bronchien sind chronisch entzündet. Ihr Haar ist wirr nach oben gebunden, und so desorientiert sie auch wirkt, so bewegt sie sich doch geschickt zwischen den Autos hindurch, als sie unversehens die Straße quert.
Fast andächtig betrachtet Clement ihren langen Hals, die hohe Stirn, die breiten Backen, ist verwundert, dass er keine Vorstellung mehr von ihrem nackten Körper hat. Bevor sie das Haus betritt, zertritt sie die Zigarette auf dem Asphalt, greift mit verächtlicher Miene nach dem Türgriff.
Nicht zum ersten Mal nimmt sich Paul Clement vor, Behle darauf anzusprechen, was in ihm vorgeht, ein Seliger, dem Aufschub gewährt ist, sinniert er vor dem Badezimmerspiegel, gerade als ihm die Rasierklinge eine Wunde ins Kinn ritzt.

2

Kaum sind Kleopátra, die Dreizehnjährige, und ihr um fünf Jahre jüngerer Bruder aus dem Haus, verzieht sich Clement in sein Arbeitszimmer, nimmt das alte Reisetagebuch zur Hand und macht es sich auf dem gelben Diwan bequem. Nicht unsüffisant lässt er sich ins Jahr 1849 zurück versetzen, als ein damals unbekannter Provinzschriftsteller aus Frankreich mit dem Schiff in Alexandria landete, von dort den Nil aufwärts bis nach Wadi Halfa reiste und mit seiner Feder das halb arabische, halb europäische Treiben in Ägypten festhielt. Den Mann im Teehaus beschrieb, in weißen Beinkleidern, mit Tarbusch auf dem Kopf und einer grünen Brille auf der Nase, die ihm das Aussehen eines phantastischen Tieres gibt, halb Kröte, halb Truthahn. Die Beduinin beschrieb, die auf dem Markt Trauben verkauft, ihre männlichen Arme, ihr Gesicht ziemlich platt, die Zöpfe mit Bändern durchflochten, mit Fett lackiert. Das herankommende Kamel, von vorn, in Verkürzung, den Fellachen dahinter und zwei Palmbäume, im Hintergrund die ansteigende Wüste.
In kühlem Tonfall, dabei ganz auf sich selbst bezogen, hielt der junge Mann seine Beobachtungen fest, ein Bewunderer all dessen, was lebt, zugleich voller Abscheu gegenüber der menschlichen Dummheit. Ein träumerischer Kerl von achtundzwanzig Jahren, in dem hundert Hoffnungen und tausend Abneigungen einander kreuzten, der einmal gern Korsar gewesen wäre, dann wieder Renegat, auch Maultiertreiber, Kameldulenser, aus seiner Heimat, ja aus sich selbst heraus wollte, mit dem Rauch seines Kamins und den Blättern seiner Akazien auf Wanderschaft zu gehen beabsichtigte.
Clement stellt sich vor, wie all die seltsamen Dinge und Menschen, denen dieser Träumer begegnen würde, nach und nach in seiner Schreibstube Platz nahmen, ein Sammelsurium aus Fotos, Gemälden, Teppichen, Amuletten, Waffen, Musikinstrumenten, sogar von zwei Mumienfüßen wird die Rede sein, einem Brahma aus vergoldetem Holz, einer großen Metallschale mit Arabesken, einem Gipsabguss der Psyche und einem krötenförmigen Tintenfass auf seinem runden Arbeitstisch. Er lebte inmitten einer idyllischen Landschaft, in einem Dorf an der Seine, wo er sich mehr in einer Meeresbucht als an einem Fluss wähnen konnte. An seinen Fenstern glitten die Schiffsmasten vorüber wie auf einer Bühne, während sich hinter dem Haus ein steiler Abhang auftürmte, ein dramatischer Winkel mit hohen Zypressen, deren Kronen die atlantischen Winde durchwühlten, ein Park mit Spalierbäumen und einer langen Terrassenallee, darin ein alter Pavillon, in dem er seinen Freunden aus seinen Romanen vorlas.
Sein Vater, Chirurg in Rouen, hatte das ehemalige Kloster unweit der Stadt kurz vor seinem Tod erworben, den Landsitz in Croisset aber selbst nicht mehr nützen können. Daher lebte Gustave allein mit seiner Mutter und seiner Nichte, der Tochter seiner verstorbenen Schwester, in diesem streng geführten Haushalt einer Witwe, normannisch sparsam, nur ein Stück entfernt von den neuen Fabrikschloten, den Bergwerken, der Getreidebörse, den Kolonialwarenläden, Banken und Baumwollwebereien.
Längst fühlte er sich von der modernen Barbarei, der Ungeniertheit, dem religiösen Irrsinn seiner Zeit derart abgestoßen, dass er sich inbrünstig wünschte, fernab der Gegenwart zu verweilen, in einer wilden menschlichen Wirklichkeit, einem utopischen Märchen in ferner vergangener Welt, aber erst ein ärztliches Attest, das wegen seiner Kränklichkeit zur Reise in den Orient riet, konnte seine Mutter umstimmen, es heißt, ihr Gesicht wäre, als sie ihm die Erlaubnis zur Reise nach Ägypten gab, noch eisiger als sonst gewesen, während das seine errötete.
Clement malt sich den Abschied des jungen Mannes aus, als er seine Reise antritt, wie er zerschlagen im Zugabteil sitzt und in Gedanken die Stimme des Hausmädchens rufen hört, Gnädige Frau, Monsieur Gustave ist wieder da, wie ihn das schmerzverzerrte Gesicht seiner Mutter beinahe zerreißt und er sich daher beim ersten Halt in Paris in Ess- und Saufgelage stürzt, ein Bordell aufsucht, in der Oper bourgeoise Spießer beargwöhnt und in einem Salon über den herannahenden Sozialismus diskutiert. Im Orient zu finden hofft, was er zu Hause vermisst, und doch die gespitzte Feder neben das Blatt Papier auf seinen Schreibtisch legt, um einmal den begonnenen Absatz ohne Verzögerung beenden zu können, und der Hure in Paris das genaue Datum nennt, zu dem er sie erneut aufsuchen wird.

3

An jenem Dezembertag, als Clement auf den Spuren des alten Orientreisenden die Vergangenheit heraufzubeschwören beginnt, schneit es und friert es nicht. Weil es am Morgen feucht ist, gegen Mittag aber, sobald die Sonne hervorkommt, angenehm warm wird, knospen im Scheunenviertel, wo Clement wohnt, Büsche und Blumen. An den Fensterscheiben schwirren lästige Fliegen, taumeln bei Einbruch der Dunkelheit den Glühbirnen entgegen und fallen tot auf die Teppiche nieder.
Gegen Abend taucht die untergehende Sonne die Raffinerien und Kräne in ein orangefarbenes Licht, gebrochen in unzähligen Partikeln von Staub und Öl. Der Himmel sinkt näher auf die Stadt herab, während sich von unten eine Neonlampen-Wolke, die über dem Scheunenviertel ihr Epizentrum zu haben scheint, in alle Richtungen ausbreitet, zum südlichen Hafen wie zu den Bergen im Norden.
Vom Lesen auf dem Diwan, den Clement seit dem Morgen nur für eine Tasse Tee und eine kleine Mahlzeit verließ und später, um für die Kinder zu kochen, lenkt das Leuchten nicht ab. Nur aus Gewohnheit läuft das Radio, das Clement nicht anders als den Lärm aus dem Kinderzimmer wahrnimmt, einem dämmernden Wachhund nicht unähnlich, da sagt eine weibliche Stimme etwas von einem Todesfall, Clement meint den Namen seines Freundes Johan verstanden zu haben. Liest weiter, während ihm Johans alkoholische Exzesse in den Sinn kommen, blättert um, will nicht wahrhaben, was er eben hörte, und hat doch schon eine Vorstellung von dessen leblosem Körper. Ihm wird übel. Er kennt doch Johan als Inbegriff übermenschlichen Aufbäumens, unmöglich, dass dieses Kraftbündel nicht mehr lebt, da erklärt die Stimme aus dem Radio, der dreiundsechzigjährige Schriftsteller habe sich in Saint-Marc-sur-Mer, einem Dorf an der französischen Atlantikküste, das Leben genommen.
Aus dem Jenseits bewegt sich ein Wesen auf Clement zu, formt sich oberhalb seiner Stirn zu einem Gesicht und setzt sich vor seinen Augen fest. Es hat Johans kantige Backenknochen, seine vollen weichen Lippen, ist begrenzt von seinem schütteren Haar. Hasserfüllt starrt es ihn an. Diese Wutaugen! Dunkle Pupillen, getrübtes Weiß unter buschigen Brauen, ein Organ, dem alle Tragödien eingeschrieben sind, all die Erinnerungen, die während des Sterbens aus Johans Augenhöhlen gedrängt haben mochten, Parasiten, die sich jetzt einen neuen Wirt suchen.
Als Clement sich aufrichten will, fühlt er sich an der Schulter gepackt und auf den Diwan zurückgeworfen. Gezwungen, in Johans Protestgesicht zu schauen, das an Tagen wie diesen, da die kapitalistische Allianz das Land zwischen Euphrat und Tigris besetzt hält, ein zynisches Heil auf den hingerichteten Saddam Hussein ausrufen würde, wie ehedem eines auf Ho Chi Minh, auf Pol Pot, ein Salam auf den Diktator, aus heller Empörung, dass die Amerikaner den bärtigen Mann als Tier der Welt vorführen ließen, ihm vor laufender Kamera den Mund aufrissen, die Zähne abtasteten und ihn schließlich exekutierten. Johans biblischer Zorn hält Gericht, es gab Tage, bedeutet er ihm, da klang auch für Clement das Wort Anarchist schön und süß.
Im Regal stehen Johans Bücher gereiht, zwischen Basaltsteinen, die Clement an der Atlantikküste sammelte. Eine Kindheit in Bulak, dem Elendsviertel der Stadt, wo der Traum der Landflüchtigen endet und die Mutter ihre Brut nicht schützen kann. Eine Jugend ohne Vater, der nicht aus dem Flöz zurückkehrte, die Geschichte eines jungen Mannes, der auf wunderliche Weise diesem Unleben entkommt und Schriftsteller wird, Zeuge der Hölle, Meister von Wörtern, die für ihn zum eigentlichen Leben werden, das Künstlerdasein zu seiner Vision.
Die wilden romantischen Jahre fallen Clement ein, Saint-Marc-sur-Mer, der Sandstrand, die Exzesse, der Suff, die Schreie in die Nacht. Johans Philosophenidol, die Symbiose von Revolution und Literatur, Befreiung und Feinsinn, Gerechtigkeit und Lust, Geist und Trieb, Müßiggang und Verschwendung, ein Leben, in dem sich Träume erfüllen, frei und schier endlos wie das Meer, archaisches Glück, vorweggenommene Zukunft.
Gottlos und doch tief religiös, ungehorsam, zugleich streng, unverschämt, aber verletzlich, ein Lästerer, der selbst keinen Widerspruch ertrug, so einer war Johan. Verachtete Clements Absicht, nur Journalist zu werden, etwas derart Profanes, redete nächtelang auf seinen jungen Freund ein, bis in die Morgenstunden, ehe er ihn eines Tages aus einer Spelunke ins Auto zerrte und halb betrunken mit ihm nach Frankreich aufbrach, in sein Atlantis, auf Parkplätzen einnickte, in Raststationen Wäsche und Zahnbürsten kaufte, weiter trank und wieder einnickte, bis es zum dritten Mal dämmerte und sie endlich in Saint-Marc-sur-Mer einlangten, mit einer Weinflasche in der Hand den Strand entlangliefen, bei rauschender Brandung. Mit den Wellen empfingen sie die Seelen aller Seemänner, die gerade über das Meer kreuzten, all die ungeborenen und verstorbenen Gestalten, die sie beide dazu veranlassten, wie Kinder zu jauchzen und die Flasche bacchantisch zu leeren, es war Herbst und kühl, und endlich schliefen sie tief und fest ein.
Nicht ohne Selbstironie pflegte Johan von einem Revolutionär, den er nur den Poète nannte, zu erzählen. Dieser hatte einst Saint-Marc-sur-Mer zur Landebahn in die Freiheit auserkoren, um Monsieur Hulot die Ehre zu erweisen, jenem Pfeife rauchenden Filmhelden, der in dem Badeort mit seinem bizarren Tennisspiel und der lauten Musik für Unruhe sorgt. Im Hôtel de la Plage, wo Die Ferien des Monsieur Hulot gedreht worden war, verbrachte der Poète die erste Nacht seines europäischen Exils, und später, in Paris ein gefeierter Mann, manches Wochenende, um sich zu entspannen.
Mit zittrigen Fingern zieht Clement ein Buch aus dem Regal. Jahrzehnte später, nach dem Bruch ihrer Freundschaft, sollte Johan seinen Traumpfad zum inneren Exil umdeuten und ein Haus nicht weit von jenem Hotel entfernt anmieten. Wann immer Clement in den letzten Jahren nach ihm fragte, erhielt er zur Antwort, Johan sei inzwischen verstummt, eine hilflose Seele in einem gealterten Körper. Wird ihn nun das Pathos des Nachruhmes ereilen? Wird man erneut die Stimme des Rebellen beschwören, der die Elendsviertel salonfähig machte? Über das Verstummen seiner Schreibmaschine sinnieren und sich an Vermutungen erregen, warum er just, als Gerüchte auftauchten, er sitze endlich wieder über einem Roman, sein Schicksal so grausam besiegelte?
Ungewöhnlich wach nimmt Paul Clement das leise Surren der Niedervoltlampen wahr, das Knarren des Parkettbodens bei jedem Schritt, wird sich der Spiegelungen im Fenster bewusst, des Arbeitstisches, der Lampe, der Briefstapel, nur das Licht der Straßenlaternen dringt von draußen durchs Glas. So sehr ihn auch die Nachricht von Johans Tod erschüttert, fühlt er sich doch seltsam belebt. Die Gegenständ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. 1
  7. 2
  8. 3
  9. 4
  10. 5
  11. 6
  12. 7
  13. 8
  14. 9
  15. 10
  16. 11
  17. 12
  18. 13
  19. 14
  20. 15
  21. 16
  22. 17
  23. 18
  24. 19
  25. 20
  26. 21
  27. 22
  28. 23
  29. 24
  30. 25
  31. 26
  32. 27
  33. 28
  34. 29
  35. 30
  36. 31
  37. 32
  38. 33
  39. 34
  40. 35
  41. 36
  42. 37
  43. 38
  44. 39
  45. 40
  46. 41
  47. 42
  48. 43
  49. 44
  50. 45
  51. 46
  52. 47
  53. 48
  54. 49
  55. 50
  56. 51
  57. 52
  58. 53