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Der Richtsaal. Scheinbare Nähe. Standhalten

  1. 416 Seiten
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Der Richtsaal. Scheinbare Nähe. Standhalten

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Über dieses Buch

Eine Wiederentdeckung: beklemmende Anti-Heimatliteratur von Gerold FoidlGerold Foidl wurde 1938 in Lienz/Osttirol geboren, wo er aufwuchs. Der spätere Schriftsteller durchlebte eine schwierige Kindheit, litt an epileptischen Anfällen, wurde deshalb psychiatrisch behandelt. Er arbeitete lange Zeit in Zollämtern in ganz Österreich, lebte danach als freier Autor in Salzburg. Sein bewegtes Leben verarbeitete Foidl in seinen Büchern - jedoch sind bis heute Teile seiner Biographie, beispielsweise ein angeblicher Selbstmordversuch 1962, nicht eindeutig belegt. So verschwimmt die Grenze zwischen den tatsächlichen Begebenheiten, der Rekonstruktion aus seinen Texten und der Legendenbildung rund um seine Person. 1980 erhielt Foidl die Diagnose Lungenkrebs, er verstarb 1982 in Salzburg. Posthume Veröffentlichung durch Peter HandkeZwei Romane hat Foidl verfasst, sie erzählen von Schwermut, Zwiespältigkeit und Gefangensein. "Der Richtsaal", sein erster Roman, der zu seinen Lebzeiten erschien, ist die gnadenlose Abrechnung eines jungen Mannes mit einer freudlosen Kindheit. "Scheinbare Nähe" hingegen wurde posthum veröffentlicht. Kein Geringerer als Peter Handke verarbeitete die vier erhaltenen unabgeschlossenen Fassungen zu jener Ausgabe, die 1985 bei Suhrkamp publiziert wurde. Ein Roman über die aussichtslose Lage angesichts der unheilbaren Krankheit des Protagonisten. Darüber hinaus schrieb Gerold Foidl mehrere kürzere Prosatexte, die vormals unter dem Titel "Standhalten" erschienen sind.Foidls gesammelte Werke erstmals in einem BandMit dieser Ausgabe erscheint erstmalig ein Band, der alle Werke Foidls vereint und wieder greifbar macht. Der Publizist, Schriftsteller und Essayist Karl-Markus Gauß steuert als Kenner von Foidls Werk ein Vorwort bei. Die Nachworte zu den einzelnen Werken stammen von der Autorin und Herausgeberin Dorothea Macheiner, Wegbegleiterin und Nachlassverwalterin Foidls.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783709938300

Der Richtsaal (Roman)

Der Provinzbahnhof lag verschlafen in der aufziehenden Morgendämmerung, als ich mich auf den Weg durch die winkligen Straßen der Kleinstadt machte. Ich wollte Großvater noch einmal sehen, der die Erinnerung an die wenigen Jahre Kindheitsglück verkörperte, bevor ich als Siebenjähriger Augenzeuge des grauenhaften Kosakenmassakers geworden war. Seit dieser Zeit haßte ich diese Stadt mit ihren Menschen, weil hier meine Kindheit im Lauf der Jahre so restlos zerstört worden ist, daß ich später nie mehr die Ausgelassenheit der Jugend zu erleben vermochte.
Als mir meine Verwandten unerwartet den Beweis lieferten, daß sie es waren, die mich als Vierzehnjährigen in die Psychiatrie zwangseingewiesen hatten, verließ ich diese Stadt, die ich nicht als Heimatstadt empfand, mit dem festen Entschluß, auf keinen Fall jemals wieder zurückzukehren. Es waren dieselben Verwandten, die schon Mama zur Abtreibung gezwungen hatten, als Vater nach Kriegsende als verschollen galt und sie von einem anderen Mann schwanger war. Großmutter und Onkel Elmar, der Arzt. Denen nichts wichtiger war, als die Familienehre wie eine Reliquie zu bewahren. Ohne danach zu fragen, mit welchen Mitteln sie das bewerkstelligten.
Der Hohn und Spott meines Vaters, der Mitschüler und meiner Umgebung verhinderten im Gewitter meiner epileptischen Anfälle von vornherein jeden Gedanken, der Stadt und ihren Bewohnern jemals die Schuld am zerstörerischen Verlauf meines Lebens nachzusehen. Bei meiner Rückkehr spielte das alles keine Rolle mehr, da ich nur gekommen war, um meinen Großvater noch ein letztes Mal zu sehen und mich anschließend umzubringen.
Ich spürte die aufkommende Morgenkälte, schlug den Kragen der speckigen Duvetinejacke hoch, zog den grauen Schlapphut tiefer in die Stirn und ging den Hauptplatz hinauf. Mit wirr in das Gesicht hängenden Haarsträhnen, dreifärbigem Stoppelbart und verschlampter Kleidung, die jedem Landstreicher zur Ehre gereicht hätte.
Ich langte unterwegs mehrmals in die Herzgegend und betastete die Auswölbung unter der Achselhöhle, wo sich die in der Jackentasche verborgene Pistole befand. Die Hausfassaden zu beiden Seiten würdigte ich keines Blicks, ich grinste nur verächtlich hinüber zu jener Häuserfront, hinter der die Reichen und Alteingesessenen wohnten. Einer, dem man ansieht, daß er mit dieser Stadt nichts zu tun hat und auch nichts mit ihr zu tun haben will. Der es verwünscht, daß sich seine Mutter zum Zeitpunkt der Geburt gerade hier aufgehalten hat. Mein Bekenntnis zu dieser Stadt erschöpfte sich mit dem Taufschein, und fragte mich einer nach meiner Herkunft, antwortete ich: „Ich bin laut Taufschein in Lienz geboren und deshalb Tiroler, aber nur, weil ich meinen Geburtsort nicht selber bestimmen konnte.“
Tante Gaby lieferte während meines vorjährigen Urlaubs durch eine unbedachte Äußerung den Beweis über die wirklichen Umstände meiner Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Das löste eine Lawine von chaotischen Reaktionen aus, die meine gesamte Vorstellungswelt umstürzten und die Widerstandskraft so lange lähmten, bis ich mich selbst in eine Lage manövrierte, in der ich mich zum Selbstmord entschloß, um dem ständigen Angstgefühl zu entkommen. Äußerst sorgsam und unbewußt ging das vor sich. Zuerst mein Inneres mit lähmenden Schatten verdeckend, bis es unbemerkt zu schrumpfen begann, sich zunehmend einengte und sich von allem, was um mich herum vorging, abgrenzte. Eines Tages war es dann soweit, ich konnte keinen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation finden. Damals entschied ich mich zum Kauf einer Pistole. Anschließend empfand ich die weitere Zeit als problemlos, ich hatte wieder Distanz zwischen mich und meine Erlebnisse gelegt, die mich jedoch zunehmend in meiner Handlungsfreiheit einengten.
Da ich von der Zukunft nichts mehr zu erwarten hatte, besann ich mich stärker auf die wenigen glücklichen Erlebnisse der Vergangenheit. Auf Mama, die vor mehr als zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, und auf Großvater. Ich spürte, daß es mir ungemein leichtfallen würde, mich umzubringen, weil ich mich zumindest an diese kurze Zeit des Glücks erinnern konnte.
Ungeduldig in der Straßenmitte stehend, rief ich zum Küchenfenster hinauf: „Großvater! Hallo, Großvater! Wach auf!“ Das vertraute Gesicht beugte sich aus dem Fenster und sagte über seine mageren Schultern hinweg zu dem im Fensterrahmen auftauchenden Körper meiner Großmutter: „Wer soll denn der da unten sein, Nora?“
Er sah voll Verachtung kurz herunter und wandte sich dann ruckartig ab.
„Mein Gott, weit ist es mit dem Buben gekommen“, sagte Großmutter. Die Verachtung in Großvaters Gesicht ärgerte mich ungemein, sie nahm mich plötzlich gegen ihn ein, denn ich war doch nur seinetwegen gekommen.
„Ich hab mir keinen Rosenstrauß erwartet“, sagte ich ungehalten zur Haustür hin, weil es mir zu lange dauerte, bis endlich einer aufsperren kam.
Ich glaubte zu wissen, was nun folgen würde, merkte aber gleich, daß es sich in keiner Weise mit meinen Vorstellungen deckte. Bevor ich noch Großvater zu Gesicht bekam, wurde mir klar, daß ich es genauso gut in Wien hätte bereinigen können. Aber nun war ich einmal da, und es war mir gleichgültig, was sich in den nächsten Stunden abspielen würde.
„Wie schaust denn du aus?“ sagte Großmutter vorwurfsvoll.
Sie öffnete langsam die Tür, als müsse sie es sich erst überlegen, ob sie mich in die Wohnung lassen sollte. Mit einem Blick an ihr vorbei sah ich in den Hausgang und überhörte geflissentlich ihre Worte, da sie mich in keiner Weise berührten. Trotz der Tatsache, daß sie die Urheberin meines Irrenhausverschubs gewesen war, empfand ich ihr gegenüber jetzt nicht mehr als Gleichgültigkeit. Tiefe, öde Gleichgültigkeit, als würde es sie längst nicht mehr geben.
Ich sah in ihre unsteten, forschen Augen, streifte die Falten des geblümten blauen Schlafrocks und dachte dabei: Sieh her, mich stört nicht einmal deine Anwesenheit. So ändern sich die Zeiten!
Großvater lag auf der breiten Couch in der Küche. Ein alter, todkranker Mann, der sich gegen die Schmerzen seiner Metastasen auflehnte. Er sagte bei meinem Eintreten kein Wort. Sah mich nur mit dem unbeschreiblichen Ausdruck seiner blaugrünen Augen aus schmerzverzerrtem Gesicht an. Ausgezehrt lag der magere Körper, der einst ein Fixpunkt meines Lebens war, vor mir. Ich sah auf ihn nieder, unfähig, Mitleid für den Alten aufzubringen.
Ich war gekommen, um etwas zu erledigen, das mir noch während der Zugfahrt ungemein bedeutungsvoll erschienen war und von dem ich nun wußte, daß meine Reise nichts als unnützer Zeitaufwand war.
Als ich so vor ihm stand, wollte mir Großmutter den Filzhut vom Kopf nehmen, worauf ich mich herumwarf, ihn ihr entriß und aus Trotz wieder aufsetzte. Unsere Blicke trafen sich zwar nur einen Sekundenbruchteil, der jedoch ausreichte, um sie verängstigt zusammenfahren zu lassen.
Um sie besser im Auge behalten zu können, drehte ich mich um und beobachtete sie. Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn, nervös zuckten ihre faltigen Mundwinkel. Sie zog die Schultern nach vorn, als würden sich ihren Rücken hinab die Hautrupfen aufstellen, doch ich hatte sie schon vergessen. Ich sah wieder auf Großvater nieder.
Du bist in dieser kurzen Zeit ziemlich verfallen. Ein gut Teil deines Weges liegt hinter dir, und irgendwann in nächster Zeit wirst du draufgehen, sagte der Beobachter in mir. Gefühllos. Nur registrierend. Ich streifte seine Gestalt mit den Augen und sah, wie sich die Hände, gegen die Schmerzen ankämpfend, gegen die Bauchdecke preßten und wie der stotternde Atem die eingefallenen Wangen aufbauschte. Tuckernd wie ein mit Standgas laufender Dieselmotor. Dann sah ich die Verachtung in seinen alten Augen und zog die Pistole aus der Jackentasche, legte sie in die Rechte und sagte zum Alten auf der Couch: „Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß ich mich heute erschießen werde.“
Als ich mit dem Kopf auf die Waffe deutete, sah ich die Todesangst im Gesicht meiner Großmutter, minutenlang brachte sie keine Silbe heraus. Er ist wirklich zu allem fähig! Der Gedanke würgte sie in der Kehle, aber ich beachtete sie nicht.
Auch Großvater hatte ich mit meiner Ankündigung schockiert.
Unter welch merkwürdigen Umständen wir uns das letzte Mal vor meinem Tod sehen! Wer nicht weiß, was uns verbindet, muß denken, daß wir einander grenzenlos hassen. Tatsächlich aber bist du der einzige, der mir bis zuletzt etwas bedeutete. Daran wird sich auch in diesen letzten Stunden nichts ändern. Was jahrelang in mir herumgearbeitet hat, ist seit dem Vorjahr aufgebrochen und hat mein Inneres vergiftet. Daher ist es heute ein anderer, der vor dir steht und sich davon etwas versprochen hat: dir noch einmal in die Augen zu sehen, bevor sich der Finger krümmt.
Sag nichts, Großvater. Dein Blick verrät mir, was du nun von mir denkst. Er sagt mir auch, was du jetzt tun wirst. Es ist dasselbe wie damals, als Großmutter auf dich Druck ausübte, Mama aus der „großen Familie“ zu verstoßen, um ihren Willen sanktioniert zu sehen. Es ist kein großer Unterschied, nur wird dich heute niemand dazu drängen müssen, da du es von dir aus tun wirst. Ohne Worte, mit nichts als deiner Ignoranz, die mir klarmachen wird, daß ich für dich nicht länger existiere. Doch zweifle ich daran, ob es mir dann noch wehtun wird. Meine Brust füllt jetzt ein fester Block, in den die Stille des Todes eingezogen ist. Und es ist ganz ruhig dort, wo sonst die Todesschreie sitzen.
Den Großeltern stockte der Atem, und ich kam mir wie ein Wegelagerer vor. Ich steckte die Pistole weg, da sie Großvater nicht dazu brachte, auch nur ein Wort zu sagen. Er ist noch immer der alte. Sagt kein Sterbenswörtchen, wenn er jemanden verachtet, seine Verachtung aber zeigt er sehr deutlich. Doch was habe ich eigentlich erwartet? Daß er mich bitten wird, es nicht zu tun, oder was sonst?
Er bleibt stumm, nur das Zucken seiner Mundwinkel verrät ihn. Gleichgültig ist es dir nicht, wenn ich mich heute umbringe. Vor einem Jahr bist du auch schon hier draußen gelegen. Damals hat die Horde unserer Verwandten im Wohnzimmer darüber diskutiert, wieviel nach deinem Tod für jeden Erbteil anfällt. Aber dir zu sagen, daß meine Mutter, die stets deine Lieblingstochter war, bereits ein Jahr zuvor kläglich auf der Autobahn verreckt ist, dazu waren sie zu feige. Dieses Geschäft haben sie wieder mir zugeschoben. Deine Töchter, dein Sohn, die Schwiegersöhne und Gaby, die ungeliebte Schwiegertochter, genau wie Vater und Dorli, meine Schwester.
Du weißt das vielleicht nicht.
Das hat mich damals ganz hergenommen. Heute ist es vorbei, nichts ist mehr geblieben wie vor einem Jahr. Was jetzt geschieht, läßt mich in jeder Hinsicht kalt.
Ich werde heute sterben in der Überzeugung, ehrlich geblieben zu sein, wie du es mir als Kind beigebracht hast. In den sechs Jahren, in denen du mir eine Behausung für das Glück erbautest, das die anderen stückweise zerstörten, ohne daß du jemals erfahren hättest, wie. Die anderen haben mich wegen des zerschlagenen Porzellans verurteilt, ohne danach zu fragen, warum ich es denn zu Boden warf.
Es war eine magere Weide, auf der ich in meiner Kindheit graste. Auch das ist ein Grund, warum ich ein letztes Mal noch hierher gekommen bin. Um noch einmal in deine Augen zu schauen, dein Gesicht zu sehen und die Erinnerung daran mit mir zu nehmen. Es schien ganz anders zu sein, als noch die Entfernung zwischen uns lag. Nun ist es mir gleichgültig geworden, was du jetzt tust, auch wenn dir das herzlos erscheinen mag. Denn Großmutter zählt für ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Vorwort
  4. Der Richtsaal (Roman)
  5. Scheinbare Nähe (Roman)
  6. Standhalten (Texte aus dem Nachlaß und Verstreute Prosa)
  7. Gerold Foidl
  8. Zum Autor
  9. Impressum