Die Baumschule
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Die Baumschule

Berichte aus dem Réduit

  1. 157 Seiten
  2. German
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Die Baumschule

Berichte aus dem Réduit

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Über dieses Buch

Dreiundzwanzig Erählungen - Geschichten mit doppeltem Boden, hintersinnig, listig und voller Humor. Das E-Book Die Baumschule wird angeboten von Haymon Verlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Ingeborg-Bachmann-Preis, Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, Erzählungen, Geschichten, Züricher Autor, Geschichtenvielfalt, Spannung, Spaß, Witz, Ironie, Belletristische Darstellung

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783709973219
I

Bericht aus dem Réduit

Wer eigentlich dieser komische Kauz gewesen sei, wurde gefragt, der da drüben im Nietzsche-Haus gewohnt habe, der heute nachmittag abgereist sei, mit Sack und Pack, gegen Süden zu.
Es war Sommer. Aber draußen regnete es und war kalt. Die Gäste in der kleinen Bündner Arvenstube waren im Laufe des Abends näher zusammengerückt.
Pierre Ankaoua, sagte ich, indem ich Wein nachgoß, Pierre Ankaoua, der, wie er sagt, drei Jahre an der Mutterbrust gehangen und alles übrige in konsequenter Weigerung wieder ausgespuckt hat, was man ihm sonst von der Welt noch habe einflößen wollen. Er sei ein junger Franzose, arabischer Abstammung, aber das sei eine lange und sehr, sehr komplizierte Geschichte, die er niemandem zumuten wolle, da er selber mit der Zumutung, die sie bedeute, ja zu leben habe, das sei genug, im übrigen Student der Philosophie und insbesondere Hölderlins, welcher nach langen Irrwegen durch die verschiedensten Käffer und auch die teuersten Hotelbetten der Schweiz nun endlich den Weg hinauf nach Sils und damit auch zu Nietzsche gefunden habe, gab ich wieder, was ich von ihm wußte.
Bei seiner Ankunft, sagte ich, saß ich gerade, in ein Buch vertieft, vor dem Haus in der seltenen Abendsonne. Er bog mit langen, wiegenden Schritten auf den Kiesweg ein, sprang, ja, sprang mit Luftsprüngen, die an Sanftheit denen einer Antilope gleichkamen, auf mich zu und streckte mir die rechte Hand entgegen. Nein, strecken ist nicht das richtige Wort, in einem eleganten Schwung holte er sie hinter dem Rücken hervor, auf dem sie bisher, zusammen mit der linken, gelegen hatte, und bot sie mir dar. Die linke blieb auf dem Rücken.
Bonjour, sagte er, mit einer leichten Verneigung, je vais très bien, ohne daß ich ihn danach gefragt hätte, und dabei schaute er mich mit dunklen, flackernden Augen über seine kleine, runde Stahlbrille hinweg oder noch eher an dieser vorbei in einer so schelmisch fremdartigen Weise an, als wolle er sich über mich oder über sich selber lustig machen. Dann warf er den schmalen Kopf in den Nacken zurück und sein schwarzgekraustes langes Haar über die Schultern, während er schon die ersten Stufen zur Haustür hinauf mit hohlem Kreuz genommen hatte, über deren Querbalken er das schwere Schild zu lesen schien. Ah! murmelte er, indem er die Hände rieb, je suis arrivé, je suis arrivé!
Bevor er eintrat, hielt er einen Augenblick still, setzte seine Füße rückwärts wieder einen Tritt zurück und wendete sich brüsk noch einmal mir zu, indem er, wie es in dieser Vollendung sonst nur auf ägyptischen Darstellungen zu sehen ist, seinen dünnen Oberkörper in den Hüften abdrehte und mit der spitzen Bogennase ebenso wie mit dem herausgeschnellten Zeigefinger der mageren Rechten auf mein Buch zeigte und fragte: qui est ce merveilleux?
Pardon? fragte ich verwirrt, ah, ce ... und als ich ihm den Namen nannte, nickte er verständig und strich sich mit den Fingern über den spärlichen Spitzbart. De loin, de loin ..., hauchte er in die Abendluft. Dann warf er wieder die Hände auf den taillierten Mantelrücken, den Kopf in den Nacken, und mit leichter Rücklage des Oberkörpers stolperte er die letzten Stufen hinauf und verschwand im Innern des Hauses. Während ich etwas verwundert auf die leere Türöffnung starrte, hörte ich noch von drinnen: je vous laisse, je vous laisse... Das war die erste Begegnung.
Ein andermal traf ich ihn in der Küche. Comme le monde est luminaire! begrüßte er mich. Pas lumineux, luminaire, und er ließ das ... re der letzten Silbe auf der Zunge und zwischen den Lippen zergehen, aus denen er im übrigen sanft über eine wohl zu heiß geratene Suppe hinblies. Luminaire, vous comprenez? Je suis pénétré, je suis transformé!
Dann erklärte er mir den Unterschied zwischen lumineux und luminaire. Lumineux beschreibe eine Zuständlichkeit, die Welt sei erleuchtet, aber bei luminaire gerate alles in Bewegung, die ganze Welt löse sich auf, die ganze Luft werde zu Licht. Das Licht der Welt zuckte über sein verzücktes Gesicht, er selbst fuchtelte mit zuckenden Bewegungen zur Erklärung in der Luft herum und merkte gar nicht, daß er dabei seine Brillengläser und die halbe Küche mit Suppe verspritzte. Mit erhobenem Löffel saß er da, während ich mich furchtsam zurückzog. Durch die geschlossene Tür hörte ich noch, wie er rief: il vient, lui, qui je connais pas encore!
Diese zuckenden, aufwärts stechenden Bewegungen der angelegten Arme waren bei ihm des öfteren zu sehen. Einmal kam ich in der Dämmerung nach Hause. Vor der Tür stand, den Blick zu den verschneiten Bergspitzen hinauf gerichtet, auf den Füßen wippend, besser, sich von den flachen Füßen immer wieder auf die Zehenspitzen hinaufschnellend, was immer auch eine kleine Vorwärtsbewegung mit sich brachte, die er, um nicht zu stürzen, mit einem Schlenkern des ganzen Körpers wieder auffangen mußte, Pierre, und er flatterte aufgeregt mit Armen und Händen, in denen er übrigens ein Käsebrot und ein Glas Wein balancierte. Zweifellos war er beim Nachtmahl. Je vole, je vole, rief er mir entgegen. Und tatsächlich sah er aus wie ein junger Vogel, der auf dem Nestrand seine ersten Abhebversuche macht.
Dann war er eines Tages wirklich ausgeflogen. Den ganzen Tag ließ er sich nicht blicken, und auch als schon längst die Nacht in das Tal hereingebrochen war, war er von seinem Ausflug nicht zurück. Wir waren besorgt, zogen unsere warmen Mäntel an und gingen spät noch hinaus, um ihn zu suchen. Natürlich fanden wir ihn nicht, weder auf einem der Wege, die wir gingen, noch in einem der Restaurants, die noch Licht hatten, in die wir unsere Köpfe hineinstreckten und die gerade dabei waren zu schließen.
Wir gingen zurück. Er war noch immer nicht da. Doch als wir gerade mühsam sein seltsames Signalement der Polizei am Telefon durchgegeben hatten, flog plötzlich die Tür auf, und im Licht der Lampe, die wir draußen für ihn angezündet hatten, stand Pierre, mit strahlendem Gesicht und funkelnden Augen. J’étais là-haut, sagte er, j’étais là-haut.
Dann begann er zu erzählen. Am Morgen sei er hinaufgestiegen, einfach hinauf, immer höher, bis es nicht mehr höher gegangen sei, zu den Gipfeln hinauf, in die Stille hinauf. Dann habe er sich auf einen Gipfel gesetzt, mitten im Schnee, und habe gewartet. Gewartet und dann in der »Morgenröte« gelesen und wieder gewartet. Und während er wieder da oben, über der Welt, in der »Morgenröte« gelesen habe, habe er plötzlich unter sich, am Buchdeckel vorbei, etwas sich bewegen sehen, das er zuerst gar nicht habe ausmachen können. Das seien nun die vielbesagten Murmeltiere, habe er zuerst bei sich gedacht, und das Buch habe er sinken lassen. Aber dann hätten sich seine Augen auf die richtige Distanz eingestellt gehabt, und er habe gesehen, wie in einer Bergmulde kleine, graue Männchen herumgekrochen seien mit langen, weißen Bärten und gewaltigen Mähnen, die unter einem Hut aus Stahl, über den er sich sehr gewundert habe, hervorgewuchert und bis auf den Rücken heruntergefallen seien. Aus einem Loch im Berg seien sie gekommen, einer nach dem andern, genauer gesagt aus zwei Löchern, wie er jetzt bemerkt habe, auf zwei Seiten der Mulde, in deren Tiefe ein kleiner, klarer Bergsee gelegen habe, zu dessen Ufer sie nun hinuntergerutscht und hinuntergestiegen seien, an dessen Ufer sie sich, auf dem Bauche kriechend, von beiden Seiten herangepirscht hätten. Von da oben hätten sie ausgesehen wie kleine Kinder in ihrem Sandhaufen. An ihren seltsamen flachen Hüten hätten sie die verschiedensten Blumen, Kräuter und Farne der Bergwelt angesteckt gehabt, die er bisher für geschützt gehalten habe.
Nun habe es plötzlich in die Stille hinein Lärm gegeben, aus heiterem Himmel heraus oder vielmehr vom heiteren Bergsee herauf, und von beiden Seiten, wo jetzt die Männchen in dichten Reihen sich gegenübergelegen hätten, seien Feuerblitze aufgeleuchtet, aus langen Metallrohren hervor, die mit einem hölzernen Griff versehen gewesen seien, an welchen, soweit er aus der Entfernung habe erkennen können, alle ihre Wangen innig angedrückt gehalten hätten. Ja, es müßten wohl Gewehre gewesen sein, er habe so etwas einmal als Kind im Museum gesehen.
Mit dem Lesen sei es natürlich vorbei gewesen. Ganz still sei er gesessen. Gebannt habe er das ungewöhnliche Treiben verfolgt, das ganz archaische Gefühle bei ihm ausgelöst habe. Von den Bergwänden hätten die einzelnen Detonationen widergehallt, und die ganze kleine Welt da oben, zunächst unter dem Himmel, sei in einem Aufruhr gewesen, wie er es unheimlicher und faszinierender zugleich von keinem Gewitter in Erinnerung gehabt habe. Ab und zu habe einer etwas geschrien, es sei still geworden, dann hätte wieder einer etwas in die Stille hinein gerufen, und das ganze herrliche Naturschauspiel habe von neuem begonnen.
Er wisse nicht mehr, habe es Stunden gedauert oder seien es nur Minuten gewesen, er habe alles um sich herum vergessen.
Nein, er erinnere sich doch, die Sonne sei eben blutrot über der letzten Bergkante gestanden, da hätte sich unten an dem in die Abendglut getauchten See eines der Männchen plötzlich erhoben und ein weißes Tuch in der Luft hin und her geschwenkt. Worauf wie auf ein Zeichen sofort alles still geworden sei und alle Männchen, eines nach dem andern, aufgestanden seien, sich den Dreck von den Knien geklopft hätten und die Hüte etwas zurechtgemacht, dann seien sie, gemütlich in Gruppen trottend, lautlos in ihren Löchern wieder verschwunden.
Ganz still und andächtig sei er noch einen Moment dagesessen. Aber dann habe ihn nichts mehr gehalten, er sei aufgesprungen, habe die »Morgenröte«, die er noch immer offen in den Händen gehalten hätte, hoch in die Lüfte geworfen und, mit einer kleinen Verbeugung zu den Löchern hin, enthusiastisch dreimal in die Hände geklatscht.
Ein schriller Pfiff habe die nun rasch abkühlende Luft durchschnitten, und auf der Stelle, er wisse nicht, wie und woher sie gekommen seien, aber es müsse wohl in diesem Berg noch andere Löcher gegeben haben, sei er von gut hundert dieser Männchen umstellt gewesen.
Da erst habe er gesehen, was für todernste Gesichter sie zu all ihrem Tun gemacht, wie entschlossen zu allem sie mit ihren wilden Augen aus den alten, verwitterten Gesichtern geschaut hätten.
Er habe freundlich gegrüßt, Hand auf der Brusttasche, mit einer kleinen Verbeugung. Was er hier mache, hätten die Greise gefragt. Er warte, habe er der Wahrheit gemäß geantwortet, er warte auf ihn, der über ihn kommen würde, von dem er natürlich noch nicht wisse, wer er sein werde, enfin, er wisse es schon, ahne es wenigstens, der Geist, der Geist Hölderlins vielleicht, der Geist Hyperions ...
Die Greise hätten erst ihn und dann sich verständnislos angestarrt. Was sie denn hier machten, habe er zurückgefragt. Sie? fragten sie, das sehe er doch, das Land vor den Deutschen schützen, sie seien im Réduit. Vor den Deutschen? habe er gefragt. Jawohl, vor den Deutschen. Sind Sie etwa einer? habe man zurückgegeben. Er? Er sei Franzose, habe er gesagt, arabischer Abstammung, aber das sei eine lange Geschichte, und es sei jetzt schon dunkle Nacht, er empfehle sich deshalb, er müsse um elf Uhr zu Hause sein, er bitte für die Störung um Verzeihung, er lasse sie jetzt wieder allein. Um elf Uhr zu Hause, in Frankreich? hätten sie ungläubig gefragt, er aber habe sich jetzt, rückwärts gehend zuerst, sich alle drei Schritte verbeugend, mitten durch ihre Reihen hindurch entfernt und den verlorenen Haufen mit langen Gesichtern sich selbst überlassen. Bevor er sich endgültig umgedreht habe, um talwärts, mit gewaltigen Sätzen, in die Tiefe zu springen, habe er noch in der Dunkelheit gesehen, wie die Männer ihre Hüte abgenommen und sich in den grauen Mähnen gekratzt hätten, hinter den Ohren.
Ob das alles nicht doch ein bißchen gefährlich gewesen sei, habe ich Pierre gefragt. Un peu, oui, hat er geantwortet. Jetzt ist er weg.
Das Land vor den Deutschen schützen! dröhnte es um mich herum, als ich die Erzählung geendet hatte. Das ist gut! Das ist ja köstlich! Die Deutschen, die sich im Laufe des Abends immer dichter um mich gedrängt hatten, hielten sich vor Lachen die Bäuche. Sie tranken aus. Fräulein, zahlen! riefen sie, das muß ich zu Hause erzählen.
Es war schon über Mitternacht hinaus, als wir uns draußen im Regen die Hände schüttelten. Als ich die paar Schritte zum Nietzsche-Haus hinüberging, hörte ich noch ab und zu aus der Ferne, wo die Deutschen, ein jeder für sich, durch die Nacht ihren Ferienwohnungen zustapften, ein plötzliches Lachen.

Der Himmel in der Glatze des Pfarrers

Das ganze Dorf erinnert sich noch lebhaft an jenen zur Legende, zur Sage, zum Märchen gewordenen Sommer, an dessen Anfang ganz plötzlich diese beiden künstlerischen, kunstvollen, wahrscheinlich verrückten Brüder, der Maler und sein Schriftsteller, der Schriftsteller und sein Maler, ausgerechnet in diesem letzten, verkrochensten Winkel des obersten, hintersten Inntals, wo der Inn noch gar nicht so heißt, in der Weltabgeschiedenheit, im Windschatten der Zeit, hinter den sieben Bergen bei den Silsern aufgetaucht waren, vom Fextal herunter, offenbar aus Italien her kommend, und nicht etwa nur durchgereist, sondern im Gegenteil dageblieben, ohne Erklärung, ohne sichtbaren Grund, ohne Legitimation, und erst gegen sein Ende zu, als sich die Lärchen schon gelb gefärbt hatten und der wellenschlagende See ihre Nadeln zu Kugeln rollte, gegen Silvaplana hinunter, dem Wasser entlang, wieder verschwunden waren.
Ausgerechnet in jenem das ganze Jahr über leerstehenden, an den rechten Berghang gelehnten alten Bündner Patrizierhaus der längst aus dem Dorf weg ins Flachland hinunter, in die Großstadt gezogenen alteingesessenen Silser Familie, von der man schon seit Jahr und Tag nichts mehr, oder dann nur noch gerüchtweise, gehört hatte, waren sie abgestiegen.
Wie sie dazu kamen, wußte man nicht, konnte auch kein Schlitzohr oder besonders Schlauer, deren es in dieser Gegend viele gab, im Laufe des Sommers in Erfahrung bringen, nachher natürlich schon gar nicht mehr, man mochte mit den Jahren auch im Eifer darin allmählich erlahmt sein.
Um so mehr hatte man sich zu erzählen. Die einen glaubten an plötzlich aus dem Nichts aufgetauchte Erben, rechtmäßige oder unrechtmäßige. Der Dorfschreiber allerdings wußte von nichts. Andere hielten die beiden – vielleicht – für Verbrecher, die aus Italien, zu uns, wie sie sagten, herübergekommen waren. Dagegen sprach ihr Beruf. Das könne Verstellung sein, meinten die einen, die anderen sagten, bei Künstlern könne man überhaupt nichts sagen, das seien von jeher vaterlandslose Gesellen gewesen, nur hinter den Frauen her und nie hinter dem Geld. Wie die aber dann ohne Geld zu dem Haus kommen könnten, fragten die ersten. Das sei eben die Frage, bestätigten wieder die andern. Aus Amerika könnten sie sein, kam plötzlich die Meinung auf, aus Amerika oder Australien, das zeige schon ihre Kleidung. Nur der Pfarrer, der in der ganzen Sache eine seiner Bedeutung im Dorf nicht unangemessene Rolle spielte, hielt daran fest, daß es Einheimische seien, das könne er auch beweisen, er habe entsprechende Studien gemacht, Beobachtungen am Objekt, wie er sagte. Nur hörte ihm keiner zu.
Tatsache war, eines Tages waren die Fensterläden des genannten Hauses, die seit Menschen- oder zumindest seit Silsermenschengedenken geschlossen gewesen waren, geöffnet. In dem verwunschenen Garten dahinter, zwischen den vielfarbenen Blumenkerzen, mannshohen Lupinen, wie man ja jetzt genau abmessen und so einmal der wirklichen Pracht dieses eingefriedeten Stücks Paradies ganz gerecht werden konnte, hatte der Maler, der ganz in Weiß gekleidet war, und dies etwa nicht nur zufällig an einem Tag, sondern während des ganzen Sommers, seine Staffelei aufgebaut, genauer gesagt, seine vielen Staffeleien, zwischen denen er stundenlang auf und ab und mitten in den Blumen hin und her gehen konnte; im kleinen, offenen Pavillon mit dem neckischen Spitzdach saß der ebenso ausdauernd schwarz gekleidete Schriftsteller über oder wenigstens bei seinen Papieren. Hinter dem oder, wenn man sich auf die Zehen stellte, noch besser sich gegenseitig auf die Schultern hob, über den hohen, weißgestrichenen Lattenzaun hinweg sah man sie oft unter den schattenwerfenden Kiefern beisammenstehn, manchmal hörte man ein aus dem Nichts oder aber, anders ausgedrückt, aus der Überfülle des Pflanzendickichts plötzlich aufflatterndes Lachen, Satzfetzen flogen durch die klare, leichte Luft.
Der Maler male die Bücher seines schriftstellernden Bruders, hieß es, nachdem die zuerst nichts als Maulaffen feilhaltenden Dörfler anfangs überhaupt keine Worte gefunden hatten, der Schriftsteller schreibe die Bilder des Malers, sagten die einen, ab, sagten die andern, die von vornherein darauf aus waren, den Künstlern, wie sie mit Nasenrümpfen betonten, eins auszuwischen.
Ein Pferdefuhrwerksknecht aus Appenzell, der hier oben seine Saisonarbeit hatte, ein einträgliches Geschäft übrigens, weil die Silser, nicht etwa aus Einsicht, sondern aus Raffgier und Tüchtigkeit, seit einiger Zeit darauf verfallen waren, den Automobilverkehr zu verbieten, gerade noch rechtzeitig bevor er an den überströmenden Benzinpreisen ohnehin eingegangen wäre, dieser Pferdefuhrwerkskutscher also war eines Abends beim Essen, in der Dorfwirtschaft, im Hotel Post, wie die netten Besitzer da noch immer gerne bestätigen, mit ihnen am gleichen Tisch gesessen, an diesem runden Tisch, den die Wirte noch heute gern herzeigen, sie hätten sich zu ihm gesetzt, und er habe es ihnen nicht verwehrt, er habe natürlich sofort den Braten gerochen und auf eine günstige Gelegenheit gehofft, den beiden die Würmer aus ihren Nasen zu ziehen, aber schließlich hätten sie über nichts anderes als eben über diesen Braten gesprochen, den sie wie er bestellt hätten und der ihnen ganz offensichtlich sehr gut geschmeckt habe. Der Kellner berichtet dasselbe. Und obwohl er, der Pferdekutscher, sie sogleich in ein langes Gespräch verwickelt habe, sei es ihm nicht gelungen, mehr als sehr kundige, selbst Einheimische überraschende Informationen über die Wetterlage, über die Wetteraussichten aus ihnen herauszubringen. Wenn nur sein Buch nicht verschneit werde, habe der Schriftsteller gesagt. Und der Maler, als ob er schon jahrelang hier oben, von der Welt abgeschnitten, gelebt hätte, habe einen, der gerade angekommen sei, nach dem Wetter unten gefragt. Im übrigen hätte sich vor allem der Maler für sein Pferdefuhrwerkshandwerk interessiert, da er ja auch ein Handwerker sei, für die Farbe und die diesen Farben entsprechenden Namen der Pferde, für ihre Nahrung und ihre Krankheiten, ganz besonders, das sei ihm aufgefallen, sagte der Kutscher, für ihr Alter, immer wieder habe er sich danach erkundigt, wie alt ein Pferd werden könne, wie alt im günstigsten, wie alt im ungünstigsten Fall, plötzlich habe er aufgelacht und gesagt, im ungünstigsten Fall komme es wohl gar nicht erst auf die Welt, oder ob das der günstigste Fall sei, habe er ihn gefragt, aber er habe diese Frage nicht verstanden. Darauf habe sich der Maler genauestens, bis ins letzte Detail hinein, bis er manchmal habe aufgeben müssen, auch nicht mehr weiter gewußt habe, sagte der Kutscher, das Zaumzeug erklären lassen, jeden einzelnen Riemen, und nach dem Zaumzeug das Fuhrwerk, die verschiedenen Kutschentypen,...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Kapitel I
  5. Kapitel II
  6. Kapitel III
  7. Kapitel IV
  8. Kapitel V
  9. Kapitel VI
  10. Inhalt