Der Himmel über Meran
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Der Himmel über Meran

Erzählungen

  1. 144 Seiten
  2. German
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Der Himmel über Meran

Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Der Südtiroler Joseph Zoderer hat einem ganzen Land seine Stimme gegeben, eine Stimme voller Zuneigung, voller Kraft, aber immer auch kritisch, provozierend und unbequem. Der Himmel über Meran zeigt ihn auf dem Höhepunkt seines Könnens.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783709976678

Wir gingen

Mein Bruder wurde in Lackschuhen von den Onkeln und der Tante zum Zug gebracht, mit dem wir wegfuhren, und in diesen schwarzen Lackschuhen, die er immer an den Füßen der eleganten Kurgäste bewundert hatte, fror er, als wir über die Grenze, über den Brennerpaß, »heim ins Reich« gebracht wurden.
Wir waren die Kinder eines ehemaligen Hotelhausmeisters, also Hotelschuhputzers und später dann entlassenen Hilfskurgärtners.
Wir waren die Dummen, die glaubten, das Richtige zu machen, weil die meisten um uns herum im Lande so redeten. Und aus einigen von diesen wurden später auch gut funktionierende Henker oder vaterlandsliebende Mörder.
Ich höre meinen Vater schreien: Ich hab einen Bock geschossen! Ich weiß nicht, warum dieser Satz in meinem Kopf zurückblieb, einer von den wenigen Sätzen meines Vaters, an die ich mich erinnere. Ich höre meinen Vater aufschreien und höre diesen Satz und sehe eine braune Kommode mit Schubläden, sehe meinen Vater und dieses Möbelstück, das nichts mit diesem Satz zu tun haben konnte, sehe keine Zimmerwand und keinen anderen Gegenstand, sehe auch keine andere Person, obwohl wahrscheinlich andere Personen – meine Mutter, meine Geschwister – Vaters Publikum gewesen sein müssen, denn mir Vierjährigem wird er diesen Satz nicht entgegengebrüllt haben, und ich kann mich nur an diese gebrüllten Worte erinnern, an keine Gesichter, nicht an das Gesicht einer Schwester oder des Bruders, nicht an das Gesicht meiner Mutter, auch an keinen anderen Satz, der von meinem Vater oder jemand anderem noch gesagt worden wäre. Ich hab einen Bock geschossen: Diesen Satz trug ich mit mir durch das Leben, ohne mich die längste Zeit nach seinem Sinn zu fragen. Er beschwerte mich nicht, dieser Satz, eigenartigerweise vergaß ich ihn aber auch nicht. Irgendeinmal als Erwachsener verstand ich ihn, ging mir der Sinn dieses Satzes auf, mein Vater war ja nie ein Jäger gewesen, und wenn er einen Bock geschossen hatte, so meinte er damit einen schweren Irrtum, der ihm passiert war, in den er mit uns hineingerannt war: die Option für Deutschland.
Mein Bruder erzählte mir Jahrzehnte später, wie sehr der Vater diese Entscheidung bereut habe, wie groß die Enttäuschung gewesen sei, wie unglücklich der Vater und die Mutter in der Fremde, in der damaligen Ostmark des Reiches, in Graz gewesen seien.
Ich habe immer geglaubt, eine schöne Kindheit gehabt zu haben. Bevor mir einer der vielen Bombenangriffe einfällt, erinnere ich mich der verstaubten Brennesseln am Flußufer der Mur, die den Sommer heiß und alt machten. Nie gingen wir in diesen Fluß baden, das kalte Wasser schoß dahin und erschien uns schwarz und unergründlich tief, auch konnten wir nicht schwimmen, aber die Steine waren groß und glatt, und dazwischen lag kiesiger Sand, das Wasser kam von irgendwoher und floß irgendwohin; zum Fluß gehen war wie zum Bahnhof gehen und den abfahrenden Zügen nachsehen. Im Sommer waren wir immer barfuß unterwegs. Ich war nicht unglücklich, ich war ein Kind, ich war bewußtlos glücklich in Graz, fühlte mich wohl in der Fremde, die für mich zur Heimat wurde, ich wußte mit vier Jahren nichts von der Option, es ist mir, als hätte ich dieses Wort als Kind nie gehört, obwohl ich mir heute sage, daß zu Hause immer davon geredet worden sein muß, in Meran vor und nach der Abstimmung und in Graz während und nach dem Krieg.
Ich habe unter der Option nicht gelitten, vielleicht unter den Folgen, von denen ich als Kind nicht wissen konnte, daß sie Folgen einer politischen Entscheidung meines Vaters waren. Wir waren unerwünscht, sagte mir später mein Bruder, in Graz waren wir Eindringlinge. Wir waren Verräter, sagte mein Bruder, für die steirischen Patrioten waren wir Verräter, weil wir die Heimat verlassen hatten, weil wir deutsche Erde den Italienern überlassen hatten, und jetzt nahmen wir den steirischen Heimatbesitzern Arbeitsplätze weg und Wohnungen, wir wurden Katzelmacher, Spaghettifresser.
Ich verlor meine Freunde, erinnerte sich mein Bruder, der noch nicht fünfzehn war, als wir ins Dritte Reich auswanderten; alle seine Freunde habe er in Meran zurücklassen müssen, auch seine Lehrstelle, auf die er nur zehn Monate hatte stolz sein können, obwohl er ganz am Anfang vielleicht sogar ein wenig begeistert gewesen sei von der Aussicht, reisen zu können, in eine fremde Gegend unter ganz andere Menschen zu kommen, ganz anderes als bisher erleben zu können, und versprochen sei ja vieles geworden, das Blaue vom Himmel, das Paradies, aber zuletzt hätte er nichts mehr davon haben mögen und nur daheim bleiben wollen bei den Freunden in Meran, so daß ihn die Onkeln und die Tante zum Bahnhof hätten bringen müssen, sozusagen eskortieren, kurz vor der Abfahrt hätten sie, die nicht deutsch, sondern italienisch optiert hatten, ihn dem Vater auf dem Bahnsteig übergeben.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals in Graz das Wort Heimatverräter gehört zu haben, vielleicht einmal Katzelmacher im Streit, wenn wir, meine Freunde und ich, uns rauften, vielleicht dann: Katzelmacher, so wie ich sie Mostschädel nannte, frei nach dem damals beliebtesten steirischen Getränk, dem vergärten Apfelmost. Immer hatte ich Freunde, nur in meiner Geburtsheimat fehlte ich, als heranwachsendes Kind, und so habe ich heute eine Heimat ohne Kindheitsfreunde, aber eine Heimat ohne Kindheitsfreunde ist eine halbe Fremdheit. Die längste Zeit meines Lebens habe ich das nicht bedacht, wußte ich nicht, wie wichtig Kindheitsfreunde sein können. Ich gewann Freunde in der Fremde, und deshalb träume ich noch heute von diesem Niemandsland, von dort, wohin ich glaubte zu gehören, wo meine Freunde herstammten, und lange merkte ich nicht, daß ich nicht dorthin gehörte, wohin meine Spielkameraden selbstverständlich hingehörten, und da wir nach dem Krieg wieder zurückzogen in die frühere Heimat, die für mich etwas Unbekanntes war, verlor ich auch meine Kindheitsfreunde aus der Fremde. Ich weiß heute nicht einen einzigen ihrer Familiennamen, ich erinnere nur einzelne Vornamen und Kindergesichter, und ihre Kindergesichter gibt es nicht mehr, ich könnte keinen Freund aus meiner Kindheit wiedererkennen, vielleicht bin ich an einem schon vorbeigegangen.
Als mein Vater auf dem Meraner Bahnhof stand, um mit uns wegzufahren für immer, trug er den Mantel seines Bruders, eines Priesters, einen schwarzen Mantel mit einem Samtkragen, ich erinnere mich nicht daran, aber mein Bruder beteuerte später, daß es der gleiche Mantel gewesen sei, den ich gekannt hätte, solange Vater lebte, Vaters Sonntagsmantel, damals auf dem Meraner Bahnhof war ich erst vier. Ich weiß davon fast nichts mehr, ich sehe weder mich noch meine Mutter und auch meinen Vater nicht auf dem Meraner Bahnhof stehen, und niemand weint und niemand schreit auf mich ein, niemand streichelt mich, ich sehe mich selbst nicht; mein Bruder erzählte mir später, ich hätte an diesem Jännermorgen kurze Hosen getragen und Wollstrümpfe, er mit seinen vierzehn Jahren aber lange Hosen, erdbraune Lodenhosen, von der Tante genäht, und Mama habe schon damals den knöchellangen Wollmantel gehabt mit den milchhellen Karos und den kakaobraunen Streifen, in dem sie wenige Jahre darauf mit uns in die Luftschutzkeller geflüchtet war.
Keine Aufregung in meiner Erinnerung, überhaupt nichts von einem Bahnhof, kein hin und her laufender Vater, keine Nervosität, keine Fragen, wo mein Bruder geblieben sei. Vielleicht hat mein Bruder seine Erinnerung verschönert, vielleicht hatte ihn die Aufregung nur innerlich geschüttelt, und er stand am Bahnhof zwischen Onkeln und Tante reiselustig lächelnd oder vor Kälte und Abenteuerangst bebend, und unsere Verwandten beneideten uns möglicherweise um das Neue, um die Fremde, um das versprochene Paradies, in das wir fuhren, ich weiß es nicht.
Ich fragte meinen Bruder Jahrzehnte später: Warum hast du dich nicht in ein Klo eingesperrt? Wenn du nicht wegfahren wolltest von deinen Freunden?
Ich hätte mir meinen Bruder gerne hinter einer Bretterwand hockend vorgestellt, zusammengekrümmt, ein Bündel Widerstand, wutkauend. Aber er erinnerte sich an kein Klo, an keine Wand, hinter der er sich versteckt hätte.
Ich wünschte mir, er hätte mir von den grauen Holzfasern der Bretterwand erzählen können, auf die er in der Dunkelheit seines Verstecks gestarrt habe. Doch er hatte sich vor nichts in Sicherheit gebracht, er wußte nichts von grauen Holzfasern einer Bretterwand.
Wir waren besitzlose Leute, wir fuhren ohne Möbel, wir hatten alles, was wir mitnahmen, in einigen Kisten und Schachteln verpackt, sagte mein Bruder. Wahrscheinlich fiel es meinem Vater nicht leicht, vor der Abreise die Möbel zu zerhacken, die er zur Hochzeit gekauft hatte, die Schränke und Bettgestelle, die wir von Anfang an gehabt hatten. Ich glaube, daß uns niemand auf dem Meraner Bahnhof in den Zug gestoßen hat, höchstens mich, vielleicht hat mich, der ich der Kleinste und Jüngste war, meine Mutter oder mein Vater über die Eisentreppe hinaufgehoben, oder vielleicht war ich im Gegenteil erpicht darauf, mit eigener Kraft den Zug zu erklimmen. Meine Mutter muß damals den Mantel schon stark gebauscht gehabt haben, einen gewölbten Bauch; wenn ich zurückrechne, war sie im sechsten Monat mit meiner jüngsten Schwester schwanger.
Warum aber fuhren wir überhaupt weg von dieser Geburtsheimat, warum flüchteten wir aus einem Land, wohin schon seit Jahrzehnten die Fremden aus aller Welt zu ihrem Vergnügen hinreisten?
Ich habe zu spät zu fragen angefangen, ich habe nicht mehr viel erfahren können; als ich zu fragen anfing, lebten sie alle nicht mehr, die ich hätte fragen wollen. Ich konnte nur mehr meinen Bruder fragen, meinen Bruder als vage Wissenden, ich als einer, der bis dahin nichts von seiner Vergangenheit und seinem Herkommen hatte wissen wollen. Ich habe gefragt und mir erzählen lassen, denn nur weniges, Unwichtiges, war mir selbst im Gedächtnis geblieben aus Meran: aufgeschichtete Holzscheite an der Hausmauer, ein Brunnentrog, wo ich meiner Mutter und meiner ältesten Schwester beim Wäschewaschen zuschaute, die Finsternis des Hausganges, von wo ich einmal in der Nacht Schreie hörte …
Aber auch mein Bruder hatte sich erst allmählich daran gewöhnen können, gefragt zu werden von mir, dem viel Jüngeren, er war in seinen Antworten immer zögernd wie ein Aufgeschreckter, so wie ich in meinen Fragen mich nur vorzutasten wagte, um ihn und mich nicht zu verletzen, wir stammelten uns in eine Art unnötige Lebensrechtfertigung hinein, trotzdem war es bei vielen Fragen so, als wäre ich ein Ankläger, ich, und mein Bruder verteidigte, ich weiß nicht was, vielleicht die Familienehre oder den Respekt vor unseren Eltern, oder den Selbstrespekt, obwohl: Was hätte es zu verteidigen gegeben?
Weißt du irgend etwas … darüber? Weißt du irgend etwas … davon? Immer wieder setzte ich so mein Fragen an. Ich wollte plötzlich alles wissen, bedrängte meinen Bruder, wollte ihn geradezu zwingen, mir alles zu sagen, was er unmöglich wissen konnte. Und ich erfuhr fast nichts, erfuhr kaum das, was ich wissen wollte, ich erfuhr keine Empörung, erfuhr nichts von einer Katastrophe, die diese Option doch, nachlesbar in den Geschichtsbüchern, gewesen ist.
Haben sie gelitten? habe ich gefragt, haben sie sich gewehrt? oder kam das alles über Nacht und war aufregend für dich, Bruder, ein Kindheitsabenteuer?
Mein Vater war österreichischer Kaiserschütze gewesen, drei Jahre lang im Dolomitenkrieg gegen die Italiener. Zuvor hatte er in der Stube seines Vaters, eines Schneiders, wie sechs andere seiner Geschwister, Stoffe zugeschnitten und genäht, als Lehrling, um einmal Trachtenschneider zu werden, Schneider von Tiroler Heimatanzügen, spezialisiert auf die Heimatuniform der Meraner Gegend. Aber nach dem Krieg, dem Ersten, war er zu alt, um die Lehre abzuschließen, und außerdem hatte die Stube seines Vaters im letzten Stock eines Mietshauses weder Platz noch Arbeit für mehr als zwei Schneider, und da waren schon zwei Geschwister an der Nähmaschine und am Bügeltisch.
Wer nicht selbst Haus oder Hof oder ein Geschäft hatte, mußte einen Dienstplatz finden. Damals florierte Meran als Weltkurort. Und wir, die anderswo zu dieser Zeit in Fabriken gesteckt worden wären oder unter die Erde zu irgendeinem Bergabbau, wir wurden Hausmeister oder Zimmermädel oder Küchenpersonal.
Damals, erzählte mein Bruder, damals sei es uns gut gegangen. Wir wohnten über dem Bahnhofsrestaurant von Algund, wo nur die langsamsten Lokalzüge hielten, am Rande von Meran, damals, sagte mein Bruder, verdiente unser Vater gut. Er hielt sogar in gebastelten und in gekauften Käfigen bis zu dreißig Vögel, die meisten selbst gefangen, auf Leimruten, aber er verkaufte sie nicht, meine Mutter hatte die Küche voller Vogelbauer, die sie alle reinigen und mit Futter und Wasser versorgen mußte, wenn mein Vater in irgendeinem Hotel die Schuhe der Gäste glänzte oder einen Speisesaal bohnerte. Er sammelte die Vögel, sagte mein Bruder, wie andere Briefmarken, nur mit dem Unterschied, daß er sie alle mit Namen anredete und ihnen alles, was er von ihnen wußte und manchmal auch einiges von sich selbst, ununterbrochen vorsprach, doch im Frühling, wenn er sich auf die Sommersaison in einem Berghotel vorbereitete, ließ er sie an irgendeinem Morgen, den meine Mutter nie hätte voraussagen können, frei, er trug, erzählte mein Bruder, die Vogelkäfige zur Balkontür hinaus und öffnete die kleinen Gittertüren und ließ auch das äußerst seltene Blaukehlchen frei, für das er Monate zuvor einen ganzen freien Tag und sogar eine Nacht in einem Strauchwald kauernd verbracht hatte.
Meinem Vater hatten drei Monate zur Volljährigkeit gefehlt, als er meine Mutter aus der Küche des Hotels heiratete, wo er Laufbursche oder Hausmeister war. Er mußte die amtliche Erlaubnis einholen beim italienischen Gemeindesekretär, den Zettel mit dem sogenannten permesso; meine Mutter war um ein Jahr jünger, auch sie brauchte den Ausnahmeschein. Als meine Eltern heirateten, war es Mai, der dritte Mai, eine Woche zuvor waren ein paar Lastwagen mit Faschisten nach Bozen geschickt worden, und die Schwarzhemden hatten mit Handgranaten und Revolvern einen Trachtenzug überfallen und ein Blutbad unter diesen tirolerisch gekleideten Männern, Frauen und Kindern angerichtet, ein halbes Hundert Verletzte lagen am Boden und ein toter Lehrer namens Franz Innerhofer.
Der Vater habe bestimmt darunter gelitten, meinte mein Bruder, daß sich die Italiener wie Sieger aufführten, er, der als noch kaum Erwachsener an der Dolomitenfront im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte bis zum Waffenstillstand, und gewiß habe ihn geärgert, daß die Italiener, die während des Krieges keinen Kilometer Tiroler Bodens eroberten, sich nach dem Waffenstillstand als Helden gebärdet hätten, nachdem sie ohne einen Schuß der Gegenwehr bis nach Bozen, ja über den Brenner bis nach Innsbruck marschiert wären, darüber habe sich der Vater noch lange aufregen können. Und vielleicht habe er deshalb auch in den ersten Jahren nach dem Krieg mit Gleichgesinnten das eine und andere unternommen, aber sicher nur bis zur Heirat, und nicht mehr danach; solange er ohne Familie gelebt habe, sei der Vater wahrscheinlich, sagte mein Bruder, dafür zu haben gewesen, sich zu wehren gegen »die von unten«, die Italiener.
Er hatte immer gut verdient als Hausmeister, sagte mein Bruder, aber je mehr die Faschisten die Macht u...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Wir gingen
  5. Als Vater starb
  6. Das Haus der Mutter
  7. Monika
  8. Die Nähe ihrer Füße
  9. Der Himmel über Meran
  10. Inhalt
  11. Inserate