Aufgedeckte Geheimnisse
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Aufgedeckte Geheimnisse

Roman

  1. 448 Seiten
  2. German
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Aufgedeckte Geheimnisse

Roman

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Über dieses Buch

Wie schon im Buch "Stammesgeheimnisse" (mit den Romanen Das Bourbaki-Gambit und Cantors Dilemma) macht der Haymon-Verlag zwei lĂ€ngst vergriffene Romane von Carl Djerassi wieder zugĂ€nglich. Der berĂŒhmte Wissenschaftler ist seit Jahren als Literat erfolgreich und ermöglicht in Romanen und TheaterstĂŒcken interessante, oft beklemmende Blicke in die Welt der Forschung und der Wissenschaft, enthĂŒllt brisante Geheimnisse einer - wie er sagt - ganz eigenen, in sich geschlossenen "Stammeskultur". In den beiden Romanen NO (nach der chemischen Formel fĂŒr Stickoxyd) und Menachems Same, die hier mit einer neuen EinfĂŒhrung des Autors zusammengefasst sind, geht es um die Forschung rund um kĂŒnstliche Befruchtung und mĂ€nnliche Potenz, aber auch darum, wie die unter sich zerstrittenen Wissenschaftler die Welt tiefgreifender verĂ€ndern als die internationale Politik, die in Menachems Same ebenfalls ein Thema ist."Es ging mir darum zu beschreiben, wie sich Wissenschaftler verhalten, und nicht nur zu schildern, was sie tun", schreibt Djerassi im Vorwort. WĂ€hrend in den ersten Romanen die UniversitĂ€ten im Mittelpunkt stehen, "wollte ich in den abschließenden BĂ€nden der Tetralogie mein Netz weiter auswerfen und bestimmte Verhaltensmuster sowohl von Forschern in der Industrie als auch von Naturwissenschaftlern einfangen, die in der geopolitischen Arena agieren." Wer könnte uns dies besser vermitteln als ein Mann, der als Biochemiker schon Nobelpreiskandidat war, der aber zusĂ€tzlich erzĂ€hlerische Phantasie besitzt und exzellent schreiben kann.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783709975008
NO

1

„‚Was machen Sie denn nun an der Brandeis-UniversitĂ€t, um steife SchwĂ€nze zu bekommen?‘“ Felix Frankenthaler ahmte eine hohe Fistelstimme nach. „Das Ganze war ein glatter Reinfall“, seufzte er eine Oktave tiefer und ließ sich erschöpft in seinen Lieblingssessel sinken. „Mir war ĂŒberhaupt nicht klar gewesen, dass zu meiner TĂ€tigkeitsbeschreibung auch Katzbuckeln gehört. Man nennt dergleichen ‚Spendenbeschaffung‘; um taktlose, unkultivierte Matronen herumscharwenzeln wĂ€re eine wesentlich passendere Bezeichnung. Als ich den Ruf als ordentlicher Professor an die Brandeis-UniversitĂ€t annahm, dachte ich, man wolle mich wegen meiner GenialitĂ€t in der Forschung, meiner EinfĂŒhlsamkeit in der Lehre, wegen meines rĂŒcksichtsvollen Teamgeistes –“
„Hör schon auf, Felix“, unterbrach ihn Shelly, die sich instinktiv den Mund zugehalten hatte, um das in ihr aufsteigende Lachen zu verbergen. „Wir beide kennen deine Tugenden. Was Ă€rgert dich denn so? Was ist auf dem Bankett vorgefallen? Und von wem sprichst du eigentlich?“, hakte sie sanft nach.
„‚Steife SchwĂ€nze‘ hat sie gesagt!“ Frankenthaler sprach wieder mit normaler Stimme. „Ich hatte versucht, meinen Tischpartnern unser derzeitiges Forschungsprojekt nahe zu bringen – du weißt schon, diese Stickoxid-Sache. ‚Machen Sie es kurz und spannend‘, hatte uns Arthur eingeschĂ€rft – der fĂŒr Baumaßnahmen zustĂ€ndige Großmufti, der Korpulente mit den Ripskrawatten –, bevor er uns auf die betuchten Ehemaligen losließ. Und schau dir an, was passiert ist. Das hat er davon, wenn er die Leute aus der Forschung seine Arbeit machen lĂ€sst. ‚Stars‘ hat er uns genannt, kannst du dir das vorstellen? Bildet er sich vielleicht ein, dass wir uns damit kaufen lassen? Und dann dieses Weib!“ Frankenthaler japste entrĂŒstet und rang nach Luft.
„Was du brauchst, ist dein ĂŒblicher Schlummertrunk“, sagte seine Frau, schon auf dem Weg in die KĂŒche. „Dann kannst du mir alles erzĂ€hlen.“
„Ah“, sagte er, vorsichtig an der geschĂ€umten Milch nippend, die mit genau der richtigen Menge Zimt und exakt drei Tropfen Vanille-Essenz gewĂŒrzt war – eine Mischung, von der Shelly Frankenthaler aufgrund jahrelanger Erfahrung wusste, dass sie das wirksamste Schlafmittel fĂŒr ihren Mann war. Doch als er den Blick von der Tasse hob und den Kopf schĂŒttelte, hatte sein Gesicht noch den gleichen gereizten Ausdruck. „Ich weiß nach wie vor nicht, was ich falsch gemacht habe. Zumindest habe ich nicht den nahe liegenden Fehler begangen. Ich hĂ€tte ihnen sagen können, dass Stickoxid – NO fĂŒr den Chemiker – ein industrieller Schadstoff globalen Ausmaßes ist.“ Seine Stimme hatte einen parodistischen Ton angenommen, der zwischen bedĂ€chtigem Vortragsstil und ĂŒbereifriger Verkaufsgewandtheit schwankte. „Dass aber, hier am Rosenstiel Basic Medical Sciences Research Center der Brandeis-UniversitĂ€t, geniale Geistesleuchten wie meine Wenigkeit entdeckt haben, dass unsere Körperzellen mittels exakt getimter winziger Mengen von NO miteinander kommunizieren. Des Weiteren hĂ€tte ich ihnen mitteilen können, dass NO in drei verschiedenen Redoxformen auftritt – positiv geladen, negativ oder neutral –“
„Wobei die meisten deiner Zuhörer dir lĂ€ngst nicht mehr hĂ€tten folgen können.“ Shelly lĂ€chelte ihren Mann gutmĂŒtig an. „Genau! Stattdessen wollte ich es einfach machen. Ich habe daher lediglich erlĂ€utert, dass man NO, also Stickoxid, genauer gesagt Stickstoffmonoxid, nicht mit N2O, also Distickstoffmonoxid, verwechseln darf, was gewöhnliches Lachgas ist. Aber ich konnte es ja einfach nicht dabei bewenden lassen!“
Shelly schĂŒttelte mitfĂŒhlend den Kopf.
„Denn dann habe ich wohl einen Fehler gemacht. Vermutlich sind meine pĂ€dagogischen Instinkte mit mir durchgegangen. Ich erlĂ€uterte ihnen nĂ€mlich, dass diese winzigen Mengen von NO eine außergewöhnliche Palette von biologischen Eigenschaften vermitteln, von der Zerstörung von Tumorzellen bis 
“ Er hielt inne und lĂ€chelte trĂŒbsinnig.
„‚Bis hin zur Regulierung des Blutdrucks‘, hĂ€tte ich sagen können und es gut sein lassen sollen. Statt dessen sagte ich ‚bis hin zum Auslösen einer penilen Erektion‘. Schließlich hatten uns unsere Spendeneintreiber geraten, unsere Forschungsprojekte aufregend klingen zu lassen, und eine Erektion ist zweifellos etwas Aufregendes. Aber die Worte ‚steife SchwĂ€nze‘ sind notabene nicht ĂŒber meine professoralen Lippen gekommen!“ Frankenthaler lehnte sich zurĂŒck und trank einige Schlucke Milch. „Ich war im Begriff, eine politisch korrekte Bemerkung anzufĂŒgen, nĂ€mlich dass daran eine Postdoktorandin arbeitet, noch dazu eine Inderin, aber die blöde Kuh –“
„Felix!“
„Entschuldige“, sagte er und kaschierte seine Zerknirschung, indem er seine Tasse leerte, „aber das Weib hat mich wirklich zur Weißglut gereizt. Also habe ich einfach den Mund gehalten. Das Ganze war schließlich Arthurs Idee, sollte doch er die Kastanien aus dem Feuer holen. Wieso sollte ich denen etwas ĂŒber Renu Krishnan erzĂ€hlen? Dass ich vorhabe, sie fĂŒr ein paar Monate nach Jerusalem zu schicken, um mit Davidson am Hadassah-Klinikum zu arbeiten?“ Er kniff die Augen zusammen. „Entdecke ich in den Augen meiner Angetrauten etwa eine Spur von Missbilligung?“
Die leichte SchĂ€rfe hinter dem GeplĂ€nkel entging seiner Frau nicht. „Missbilligung? Ganz und gar nicht. NatĂŒrlich hĂ€ttest du etwas diplomatischer sein können und sie nicht mit deiner Erektion ĂŒberfallen –“
„Shelly! Ich muss doch bitten!“
Sie hob abwehrend die Hand. „Du bist heute Abend viel zu ungeduldig. Lass mich ausreden. Ich wollte sagen, dass du deine Zuhörer darauf hĂ€ttest vorbereiten können, statt sie aus heiterem Himmel mit deiner Erektion zu konfrontieren.“
„Sehr geistreich.“ Frankenthaler bemĂŒhte sich nicht, seinen Sarkasmus zu verbergen. „Auf welch zugeknöpfte Weise hĂ€ttest du es denn gemacht?“
„Ach“, sagte sie mit einer vagen Handbwegung, „ich hĂ€tte mit dem retraktilen Penismuskel des Stiers angefangen. Offen gestanden ist das Wort ‚retraktil‘ weniger aggressiv – auch weniger aufregend, zugegeben – als das, was du da bei deinem Bankett aus dem Hut gezogen hast.“ Sie beugte sich vor, um ihrem Mann die Hand zu tĂ€tscheln. „Ich hĂ€tte mit Gillespies Arbeit auf dem Gebiet der Nanc-Nerven und der Neurotransmission begonnen. Danach hĂ€tte man erwĂ€hnen können, dass er diesen Muskel im Penis des Stiers nur deshalb ausgewĂ€hlt hat, weil er besonders reich an derartigen Nerven ist.“
„Nicht zu glauben!“ Es war bewundernd gemeint, und Shelly, die ihren Mann nur zu gut kannte, fasste seinen Ausruf als Kompliment auf. Frankenthaler war erstaunt, dass seine Frau – eine eingefleischte Nicht-Wissenschaftlerin – sich noch daran erinnerte, was er ihr ĂŒber den Ursprung seines eigenen Interesses an der NO-Forschung erzĂ€hlt hatte. Es hatte damit begonnen, dass er etwas ĂŒber „Nanc“-Nerven gelesen hatte. Lag es daran, dass er ihr erklĂ€rt hatte – aber das war schon eine Ewigkeit her! –, dass es fĂŒr „nichtadrenerg, nicht-cholinerg“ stand und dass Gillespie in Schottland dem unbekannten Neurotransmitter in diesen Nerven – dem Nanc-Signal – nachgegangen war und feststellte, dass es sich dabei um den gleichen instabilen rĂ€tselhaften Stoff handelte, den Furchgott in New York in den Endothelzellen von BlutgefĂ€ĂŸen entdeckt hatte? Furchgott hatte seinem fundamentalen und bis dahin unbekannten körpereigenen Mediator zur Blutdruckregulierung den Namen endotheler Relaxationsfaktor (EDRF) gegeben. Als ursĂ€chlicher Faktor beider PhĂ€nomene stellte sich schließlich das simple zweiatomige MolekĂŒl Stickoxid heraus. Und genau da kam Frankenthaler ins Spiel: Blutzufluss ist auch bei der Erektion des Penis unerlĂ€sslich, und auch hier erweist sich NO als der SchlĂŒssel. Wie NO im Körper gebildet und wie es ĂŒbermittelt wird, das sollte seine indische Postdoktorandin herausfinden. Renu Krishnans Aufgabe war es, den Weg fĂŒr klinische Anwendungen zu ebnen.
„Gewiss“, sagte er. Sein Stolz auf seine Frau hatte seinen Ärger beschwichtigt. „Aber wenn ich deinen behutsamen, diplomatischen Kurs eingeschlagen hĂ€tte, wĂ€re weder dieses grĂ€ssliche Weib noch sonst einer der Anwesenden mehr bei der Sache gewesen, wenn ich endlich auf unsere Arbeit und die Erektion zu sprechen gekommen wĂ€re. Außerdem, meine Liebe, war ich auf dem Bankett, um Geldgeber fĂŒr Brandeis zu gewinnen – und nicht fĂŒr jemanden in Glasgow oder New York. Aber genug davon. Ich habe morgen einen langen Tag, und es ist Zeit, schlafen zu gehen. FĂŒr uns beide.“

2

Hier sitze ich und denke nach, was gewöhnlich bedeutet, dass ich SelbstgesprĂ€che fĂŒhre. NatĂŒrlich ist daran nichts auszusetzen. Einem berĂŒhmten Russen zufolge tun das fast alle Menschen. „Beim Denken handelt es sich um nichts anderes als um einen inneren Monolog oder um Unterhaltungen, die wir in unseren Köpfen zu fĂŒhren gelernt haben.“ Das habe ich von meiner Zimmergenossin am Wellesley College, die, unter anderem, gern Michail Bachtin zitierte.
Ich mag zwar eine allgemein bildende Erziehung genossen haben, aber ich komme mir dennoch wie ein Trottel vor. Da bin ich, 26 Jahre alt, Postdoktorandin der Chemie an der Brandeis-UniversitÀt und, wie man meinen sollte, eine erwachsene Frau. Und doch kann ich mir das Kichern nicht verkneifen, als mich mein Professor fragt, ob ich einige Monate in Jerusalem verbringen möchte.
Wie sollte ich es ihm auch erklĂ€ren? „Professor Frankenthaler, vor einigen Tagen erhielt ich einen Brief von Ashok.“ VerstĂ€ndnisloser Blick. Der Name wĂŒrde ihm gar nichts sagen. Immer muss man so viel erklĂ€ren. „Ashok ist mein Bruder und Computerspezialist in Bangalore.“ Und dann mĂŒsste ich wohl hinzufĂŒgen, dass Bangalore das Silicon Valley Indiens ist und dass Ashok derjenige war, der, gegen Ende seiner Studienzeit am MIT, Mammi dazu bewegte, mich in Amerika aufs College gehen zu lassen. „Aber Renu ist doch erst siebzehn!“, hatte unsere Mutter ausgerufen, doch Ashok hatte geahnt, dass sie das sagen wĂŒrde, unsere wunderbare, aber sehr indische Mammi. „Du weißt, dass Vater es billigen wĂŒrde“, fĂŒgte er in einem Ton hinzu, als hĂ€tte er gerade eben mit Papaji darĂŒber gesprochen. „Sie wird nach Wellesley gehen, an eine reine MĂ€dchenschule“ (natĂŒrlich benutzte er das Wort MĂ€dchenschule und nicht das Wort Frauencollege ), „die praktisch gleich neben dem MIT liegt, sodass ich ein Auge auf sie haben kann“, sagte er. Er ließ kein Wort davon verlauten, dass er mir die Anmeldeformulare bereits zugesteckt hatte, dass ich sie ausgefĂŒllt ans Wellesley College zurĂŒckgeschickt hatte und dass ich beim TOEFL-Test hervorragend abgeschnitten hatte. Letzteres hĂ€tte meine Mutter natĂŒrlich nicht ĂŒberrascht, die – schon lange vor dem Tod meines Vaters – der Meinung war, dass erstklassiges Englisch eine Grundvoraussetzung fĂŒr die Art von Heirat war, die ihr fĂŒr ihre Tochter vorschwebte.
Wenn ich versucht hĂ€tte, Professor Frankenthaler all das zu erklĂ€ren, hĂ€tte er mich schon unterbrochen, lange bevor ich bei der arrangierten Heirat angelangt gewesen wĂ€re. „Kommen Sie zur Sache, Renu“, hĂ€tte er, durchaus höflich, gesagt, denn er ist ein höflicher Mensch. Aber ich wĂ€re auf der Stelle verstummt. Den Rest hĂ€tte ich ihm nicht erzĂ€hlt. Nicht dass der Prof es nicht verstanden hĂ€tte. Er rĂŒhmt sich seiner „ethnischen“ SensibilitĂ€t, die an einem Ort wie Brandeis ganz besonders kultiviert wird. Aber ich wĂ€re viel zu verlegen gewesen. Nicht weil ich Inderin bin, sondern weil ich seit neun Jahren in den Vereinigten Staaten lebe. Ich fĂŒhle mich nicht mehr als Inderin. Ich bin nicht sicher, ob ich noch weiß, was das eigentlich ist. Oder was ich sonst noch alles erklĂ€ren mĂŒsste, bevor er verstehen wĂŒrde, warum die Aussicht auf eine Reise nach Jerusalem mich zum Kichern bringt.
Wenn es nicht schon die spĂ€ten Sechzigerjahre am Wellesley getan hatten, hĂ€tte mich spĂ€testens die Doktorandenzeit an der Stanford-UniversitĂ€t Anfang der Siebzigerjahre ohnehin verĂ€ndert. Meine erste Zimmergenossin in Palo Alto beschleunigte den Vorgang. Megan Reed war Studentin der Betriebswirtschaft und sehr weltgewandt. In Bars bestellte sie Kir, in Restaurants Ceviche, BlĂ€tterteig-Kanapees, Lollo rosso und niemals Kopfsalat. Sie wusste sich zu kleiden (eine ihrer Eigenarten war eine Vorliebe fĂŒr halterlose StrĂŒmpfe an Stelle von Strumpfhosen), und sie zog interessante MĂ€nner in solchen Scharen an, dass ich unwillkĂŒrlich zur Nutznießerin des Überschusses wurde. Gott sei Dank war Ashok zu der Zeit bereits nach Indien zurĂŒckgekehrt. Mein Bruder ist zwar modern, aber so modern nun auch wieder nicht. Ashok hĂ€tte vermutlich nicht einmal meinen Doktorvater in Stanford gebilligt – einen Mann, der auf einer frisierten Harley-Davidson an die Uni gebraust kam.
Ich höre alle paar Wochen von Ashok und seine Briefe sind immer voller Neuigkeiten und Fotos und allen möglichen Zeitungsausschnitten. Als ich die Seite aus dem Indian Express mit der Überschrift Heiraten sah, musste ich lachen, wĂ€hrend ich die Anzeigen ĂŒberflog. In Indien pflegte ich diese Seite frĂŒher jeden Tag zu lesen, damals, als ich noch ein indischer indischer Teenager war, obwohl ich mich schon damals darĂŒber amĂŒsierte. Es hatte sich wenig verĂ€ndert. Noch immer war da Stattlicher, gottesfĂŒrchtiger, solider, unkomplizierter junger Mann, schuldlos geschieden, wĂŒnscht nĂ€here Angaben von Malayali-Damen Ă€hnlichen Charakters und Standes. Gerne auch Damen, die nicht mehr empfangen wollen. Und weiter unten in der Spalte wurde ein aufgeschlossener mĂ€nnlicher Partner gesucht, vorzugsweise mit starkem Interesse fĂŒr Kosmologie, Metaphysik, Philosophie und Raja-Yoga; mit festem Glauben an das Gute und Edle und dem Drang, die Geheimnisse des Universums und des Lebens zu erkunden.
Erst da bemerkte ich die mit gelbem Leuchtstift markierte Anzeige:
Verbindung gewĂŒnscht mit gut situiertem brahmanischem JĂŒngling, Akademiker, 28–33/180 oder grĂ¶ĂŸer, US-Beziehung oder Green Card bevorzugt, fĂŒr MĂ€dchen, 26/152, hell, attraktiv, US-Abschluss Dr. rer. nat. Zuschriften mit Horoskop an Chiffre 1501-C, Indian Express, Madras-2. Es stimmt zwar, dass ich 152 Zentimeter groß und 26 Jahre alt bin und dass „hell“ eine höfliche Umschreibung fĂŒr „hellhĂ€utig“ ist, aber das trifft bestimmt auf abertausend indische „MĂ€dchen“ zu. (Ich hasse dieses Wort. Und was ist mit „JĂŒngling“? Wenn ich heirate, will ich ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. INHALT
  5. Vorwort
  6. Menachems Same
  7. NO
  8. Biografischer Abriss