Wolkenherz
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Wolkenherz

Eine Geschichte

  1. 144 Seiten
  2. German
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Wolkenherz

Eine Geschichte

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

EINE MÄRCHENHAFTE SOMMERGESCHICHTE UND ZUGLEICH EINE LIEBESERKLÄRUNG AN DAS LEBEN IM NORDEN.Was hier bisweilen wie ein Märchen klingt, ist vielleicht sogar eines: Jonathan, der junge Mann, von dem erzählt wird, mag Wind, Wolken, die Möwen und das Meer, aber keine Beerdigungen. So läuft er von der Trauerfeier seiner Mutter davon und fährt lieber dorthin, wo sie herkam, in ein kleines Dorf an der Küste. Prompt lädt ihn dort eine raue Schönheit in ihr Haus ein, das sie mit ihrer Mutter und einer jungen Blonden bewohnt. Energisch und sanft, klug und sehnsuchtsvoll - anziehend ist jede der drei Frauen, und er ergibt sich einer nach der anderen.Mit wunderbarer Leichtigkeit und stets in der Balance zwischen Ernst und Ironie entfaltet Jochen Jung die Geschichte eines Suchenden. Gleichzeitig ist Wolkenherz eine Liebeserklärung an das Leben im Norden - und überhaupt.

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Information

Jahr
2012
ISBN
9783709974018

1
Am Wasser, die Graue

Am Himmel sah es aus wie nach einer Kissenschlacht, die keiner gewonnen hatte. Aber schon kurz darauf hatten sich die Wolken, als suchten sie sich eine Geschichte, zu einem grauweißen Feld zusammengeschoben. Ein Wind, den Jonathan hier unten nicht spürte, trieb das Feld durch das Blaue und ließ es erst wie ein gespreizter Flügel aussehen, dann wie ein lahmendes Pferd, wenn auch nur für Augenblicke.
Jonathan buchstabierte es, so gut er konnte, aber schon wurden die Wolken wieder auseinandergerückt und verteilten sich über den Himmel, zunächst als einzelne Schollen und dann nur noch als Fetzenwerk. Mittendrin aber stand, wie Schwebstoff und nur für einen Moment, eine besondere Wolke. Sie war wie ein langer weißer Bart, der kurz darauf jugendlich gestutzt aussah, oder wie ein Fisch. Und dann war da noch eine Wolke, die er schon lange kannte. Die übrigen verschoben sich erneut. Den einen oder anderen Wolkenbatzen verfolgten seine Augen noch, ohne ihm jedoch eine brauchbare Form ablesen zu können: Sie waren geballt, zerfasert, gestreckt, fransig, einzelgängerisch. Aber waren sie nicht auch geduldig und nützlich wie schimmernde Milch? Mütterlich geradezu? Wie eine graue liebe Mutter?
In diesem Augenblick türmte sich über ihm ein kom­plettes Badezimmer auf, weiß gekachelt und schön wie das Neue Jerusalem, und mittendrin seine graue Strickjacke – was hatte die da verloren? Im nächsten Augenblick, er hatte es fast erwartet, glänzten dort die weißen Zähne eines Mädchens, das ihm vielleicht etwas sagen wollte. Da schlossen sich seine Augen, als sei es für lange, öffneten sich aber wieder und sahen jetzt aufs Meer hinaus. Mit sich selbst beschäftigt lag es da und zugleich wie eine ein­fache Version des Lebens, mit der man sich für eine Weile durchaus zufrieden gegeben hätte, wären die Umstände danach gewesen.
Er hieß Jonathan Jensen und war sehr blond, das Meer aber hatte keinen Namen, es war das Meer Namenlos, geriffelt und geraffelt. War es möglich, dass auch dieses Meer demnächst leergefischt sein würde? Keine grünen Heringe mehr, kein Kabeljau, keine Buckelwale? Jonathan hatte in den Zeitungen davon gelesen, dass die Schleppnetzfischerei allem ein Ende mache, und da er ein besonderer Fischfreund war, hatte es ihm jedes Mal einen Stich gegeben, wenn er davon las. Und einen kleinen Stich spürte er auch jetzt: Ein Meer ohne Fische, das war doch ein totes Meer.
Aber so weit war es noch nicht. Oder hätte sich da gerade ein Vogel ins Meer gestürzt, wenn es nichts mehr zu holen gäbe? Hätte er nicht. Und erst in diesem Moment merkte Jonathan, dass er nicht nur etwas sah, sondern auch etwas hörte, Geschrei von Möwen, Vogelgeschrei jedenfalls, und es war, als ob auf einmal aus einem Schwarzweißfilm ein Farbfilm würde. Der Himmel war jetzt, vor allem um die Wolken herum, tief blau, das Wasser hingegen wechselte von Violett zu Schwarz, um im nächsten Augenblick grün wie ein dunkler Wald zu sein. Es war überzogen von niedrigen Wellen, die in weitem Abstand heranwallten und die nur dort, wo sie nach wer weiß wie langer Reise auf den Strand aufliefen, eine dünne weiße Kammlinie zeigten.
Er war im letzten Sommer eine Woche lang in einer kleinen Pension auf Malta gewesen – als Reisebegleiter hatte er sein Zimmer besonders günstig bekommen –, und das war und blieb vorerst der letzte Urlaub, den er gemeinsam mit Jolanthe verbracht hatte. Beide waren damals nachts beim Einschlafen verwirrt gewesen von den Wellen, die in so raschen kurzatmigen Schlägen aufs Ufer trafen. Beide kannten bis dahin nur den gelassenen Schlag der Nordmeere, und unruhig, wie sie beide in diesen Tagen waren, fühlten sie sich geradezu schuldig für die Nervosität des Mittelmeers.
Jonathan und Jolanthe – sie fanden selbst, dass das eigentlich nicht ging, und es war ja auch nicht gegangen, letztlich. Dass sie einander John und Joe nannten, hatte ihnen immerhin einen Anfang erlaubt.
Ohne Ankündigung war der Wind, der alte Kulissenschieber, mit einem Mal stärker geworden. Jonathan sah es erst den Wolken an, bevor er es auch auf der Haut fühlte. Noch einmal flogen zwei Möwen oben am Himmel entlang, wobei der steife Flug der einen sie bald als Flugzeug entpuppte, das seinen eigenen Weg verfolgte. Jonathan saß da auf seiner Düne, fuhr mit dem Zeigefinger vorsichtig über den Sand, sah aufs Meer hin und gähnte.
Sein Tag, der längst noch nicht zur Neige ging, war jetzt schon lang gewesen, schien ihm. Schließlich hatte er am frühen Morgen noch nicht gedacht, zehn Stunden später am Meer zu sitzen, wo sicher bald die streifig und zauselig gewordenen Wolken von einer sich entfernenden Septembersonne rötlich bis knallrot aquarelliert würden. Dabei hatte sie, die Sonne, doch gerade noch die Wasseroberfläche überall angeblitzt, als werfe sie nur so um sich mit ihren neuen Talern. Wie gern er so etwas sah! Er hatte tief Luft geholt und diesen Atem lange in sich gehalten, als wolle er ihn überhaupt nicht mehr herausrücken – ehe er ihn dann gleichsam mit Ergebenheit wieder von sich ließ. Gleichzeitig aber nahm die Kühle zu, und Jonathan blickte ein wenig unwillig über seine Schulter, um zu sehen, ob da etwa jemand ein Fenster geöffnet hatte. Was natürlich nicht der Fall war, nicht einmal einen Spalt weit.
Mehr als einen Spalt waren hier nur die drei kleinen Fenster des Kiosks geöffnet, der, ein mehreckiges Häuschen, dunkelgrün gestrichen, in dem ganz anders dunkelgrünen Strandgras stand, zwischen Rad- und Wanderweg und Strand. Eine runde Betonplatte bildete seinen Sockel, von dem eine kurze Strecke aus braunen Backsteinen zwei, drei Meter zum Strand hinabführte und sich dann im Sand verlor. Eine ebenfalls dunkelgrüne Krone aus feingesägtem Blech bildete seinen Abschluss nach oben, und darauf saß eine Möwe, die sich allerdings in demselben Augenblick, in dem hier von ihr die Rede ist, erhebt und, als hätte sie gar keine Eile, aufs Meer zusegelt. Ohne zu wissen, dass es die Möwe von ihrem Dach war, verfolgten sie die petunienblauen Augen der Kioskbesitzerin, um schon nach kurzem an Jonathan hängen zu bleiben. Nicht weil sie hier jeden kannte, der da ihr aber neu war. Vielmehr weil sie gleich so eine Ahnung hatte, vielleicht aber auch nur, weil er gerade einen seltsam gekrümmten Rückenbogen zeigte. Sie schaute bald wieder auf die vor ihr liegende Illustrierte, hatte aber gesehen, was sie gesehen hatte.
Als Nächstes flog eine ganze Schar Möwen durchs Bild, die sich aufführte, als sei sie eine chinesische Reisegruppe. Es sah aus, als hätten die Vögel etwas von dem Violett eines beginnenden Sonnenuntergangs auf ihrem Gefieder, aber das war natürlich nur der Wunsch eines jungen Mannes nach einem angereicherten Innenleben: Wenn man schon einmal seinen ersten unerwarteten Urlaubstag auf einer Stranddüne vor dem Meer verbringt, dann möchte man, dass es Bedeutung hat, dass da mehr ist als nur ein paar Wolken, die aussehen wie eine zerrieselnde Sandburg.
Er saß also auf seiner Düne, umgeben von einem Gras, das es gewohnt war, um sein Leben zu zittern, so viel Wind war schließlich immer, und so viel Wind war auch jetzt. Er hatte sich in seinen Gedanken verlaufen, hatte gar nicht mehr darauf Acht gegeben, was er wollte, was er vorhatte, was er sah, wusste nur, dass das Wort Urlaub gerade eben nicht das richtige gewesen war. Aus dem langen Blick über die Schulter und der halbherzigen Beschäftigung mit sich selbst ergab sich ein kurzes Nachlassen seiner Aufmerksamkeit: Jonathan hatte die längste Zeit auf nichts um sich herum geachtet, sah aber jetzt, dass sich da am Wasser jemand, ach was: eine Frau, dass die sich da ihren Badeanzug auszog, für einen Moment nackt war, dann einen Bademantel überstreifte und jetzt, eine schlanke Gestalt, schräg den Strand querte und zu ihm hinaufzukommen schien oder vielmehr -kam, denn sie kam wirklich, den Bademantel mit beiden Händen über der Brust zusammenhaltend, eine Frau. Gerade war sie dabei, ihre Badehaube vom Kopf zu schälen, und schon quoll eine prachtvolle Fülle grauen Haares hervor, das den entschlossen geschüttelten Kopf augenblicklich zu einem Haupt machte.
Ein vorläufig letzter Blick auf die Wolken. Die Möwen waren inzwischen wer weiß wo, und Jonathan merkte, dass er lange genug auf seiner kleinen Düne gesessen war, und sollte er auf etwas gewartet haben, so hatte es sich jetzt eingestellt: Jetzt kommt die Frau mit den grauen Haaren den Strand hinauf, auf ihn zu, gerade in dem Moment, als er selber Lust bekommt, hinunterzulaufen und die Füße ins Wasser und die Zehen in den nassen Sand zu stecken.
Die Sonne winkt ab, und das Meer sagt gar nichts, jedenfalls nicht zu Jonathan, und Jonathan selbst tut so, als würden seine Blicke der kleinen Steilküste folgen, die, bevor sie wirklich steil werden konnte, schon zu Ende war und sich in einer Küstenbiegung verlief. Da ist diese Frau auch schon nahe gekommen – fünfzig wird sie sein –, und jetzt bricht sie das Schweigen so, dass man es knacken hört, und sie, die nun auf einmal, vermutlich etwas frierend, vor ihm steht, sagt mit klarer Stimme: „Sie hab ich hier ja noch gar nicht gesehen“, und schüttelt noch einmal ihren Kopf, diesmal mehr seitlich, um das Wasser aus den Ohren zu schleudern.
Erst in diesem Augenblick, in dem einer der vielen Wasservögel, die er bis auf die Möwen alle nicht kennt, schreit oder krächzt, als sei er allein, erst in diesem Augenblick also, in dem Jonathan mit etwas Mühe – das lange Sitzen! – aufsteht, um die Frau zu begrüßen, die jetzt mit immer noch leicht schräg gelegtem, aber nicht mehr geschüttelten Kopf vor ihm steht, sieht er, dass da nicht weit von ihm die Zeitung liegt, die er am Morgen im Zug auf dem Nebensitz gefunden und dann eingesteckt hatte. Nun ist sie zu einem Viertel etwa im ehemals goldgelben, jetzt allmählich haargrauen Sand vergraben, und was er sieht, ist eine kopflose Nackte. Jonathan hebt langsam den Blick, entdeckt zwei sehr große Füße mit sehr langen Zehen im Sand und gleich darauf die grauen Augen der Frau – ja, graue Haare, graue Augen – und sagt: „Kein Wunder, ich meine, ich Sie ja auch nicht, bin doch gerade erst aus Altona angekommen, vor ein paar Stunden, so ist das, ja.“
Sie dann auf sein Gestottere hinauf, ihn sinnend anblickend: „Von Altona also – und wohin?“
„Schwer zu sagen“, war da die Antwort des jungen Mannes, der der Frau nicht in die Augen schauen wollte, der seine Augen stattdessen neuerlich im Sand bei der kopflosen Nackten herumsuchen ließ, ohne dass er es bemerkte. „Vielleicht bin ich ja auch schon angekommen. Die Vögel haben jedenfalls bislang nichts Wesentliches gegen den neuen Gast einzuwenden“, und jetzt schaute er sie doch an.
„Die Möwen sind egoistische, törichte Viecher“, sagte die Graue nach einer Pause, während der sie ihn sehr ansah. „Was hat Sie denn hierhergebracht? Ich meine, ich verstehe ja, dass man nicht in Altona sein möchte, aber warum unser Dorf?“
„Weil – es ist jemand gestorben, der aus dieser Gegend stammt, jemand, der – also, die mir nahestand.“ Jesus, was sagte er denn da, das ging diese Frau doch überhaupt nichts an, warum sagte er sowas zu einer Fremden?
„Das tut mir leid. Aber – wo haben Sie sich denn einquartiert in diesem Ort?“
„Nirgends, ich weiß ja kaum, wo genau ich hier bin“, gestand Jonathan.
„Nun“, war da die Antwort, wieder nach einer Pause, „da ich allmählich anfange zu frieren und darum nach Hause will, kann ich nur sagen: Wenn Sie wirklich bleiben wollen, aber noch nicht wissen wo, dann kommen Sie doch heute in die Waldvilla. Ich bin Johanna“, fuhr sie fort und streckte ihm die kühle Hand hin, die er vorsichtig ergriff, „jeder im Dorf weiß, wo ich wohne. Sie haben bei mir keine andere Pflicht, als von sich zu erzählen. Morgen machen Sie dann, was Sie wollen. Jetzt muss ich aber laufen –“, und schon ging sie, oder vielleicht war es wirklich ein Laufen, kreuzweis flogen ihre Beine, und kurz bevor sie hinter dem Strandweg verschwunden war, rief er ihr noch hinterher: „Aber Sie kennen mich doch gar nicht“, und ohne im Laufen innezuhalten, sie drehte nur den Kopf, rief sie zurück: „Sie mich doch auch nicht.“

2
Zug fahren, ankommen

Es war wirklich kühler geworden während des kleinen, seltsam einladenden Gesprächs, nachdem sie weg war, merkte er es deutlich, und es war auch nicht mehr so hell. Auf die Sonne hatte er schon eine Weile nicht mehr Acht gegeben, aber irgendwann musste sie damit angefangen haben, sich fallen zu lassen, und – galt das nicht auch für ihn? Ein Aufsteiger in Herzensangelegenheiten war er ganz sicher nicht, darüber brauchte er gar nicht erst nachzudenken. Er schämte sich, das war die Wahrheit, und er hatte allen Grund dazu.
Er hatte beschlossen, die Einladung nicht anzunehmen. Wild und fremd kam ihm die Graue vor – Johanna, der Name hatte gerade noch gefehlt. Wie kam er dazu, sich ein Nachtquartier einzuhandeln im Gegenwert seiner Privatgeschichten?
Der Himmel war inzwischen blau wie Dokumenten­tinte, und der Wind machte sich selbständig. Der Sand wirbelte, und der Strand war – bis auf die Kopflose – mit einem Mal menschenleer. Jonathan stand, seit Johanna verschwunden war, da wie einer aus Altona am Bahnhof, blond und schüchtern, wes­wegen er auf einmal das Gefühl hatte, etwas tun zu müssen. Ans Meer gehen zum Beispiel, ins Meer, und das tat er jetzt auch. Er setzte sich wieder, zog Schuhe und Socken aus, steckte letztere in erstere und ging leicht bergab, dem Wasser entgegen. Dann krempelte er sich die Hosenbeine herauf und stand kurz darauf im fast schwarzen Meer und konnte in dem Moment eigentlich nichts damit anfangen. Dabei war es ihm gerade noch als das einzig Richtige erschienen, ja nicht nur das, er hatte drängend das Gefühl, dass jetzt etwas von ihm erwartet wurde, er bloß nicht wusste, was.
Oder doch? Obwohl seine Füße immer kälter wurden, war ihm heiß. Er schämte sich auf grässliche Weise, er fing an zu klappern, rührte sich aber nicht und blieb stehen, wo er war. Erst als noch einmal die Möwen dazwischenkamen, vier waren es diesmal, und herumlärmten, als würde sich ein ganzer Heringsschwarm anbieten, besann er sich. „Angeber!“, rief er zu ihnen hinauf und beeilte sich, aus dem kalten Wasser zu kommen. Er trocknete sich die Füße mit den Socken, die er dann anzog, knüpfte die Schuhe und sagte sich: „Jetzt.“
Sollte er womöglich zurück zu dem kleinen Bahnhof und schauen, ob andere Züge woandershin fuhren, irgendwohin? Das Aussteigen hatte ihm leid­getan, hätte er es nicht von Anfang an vorgehabt, wäre er am liebsten sitzen geblieben. Denn auf den Plätzen rechts von ihm in dem offenen Abteil waren zwei ältere Frauen einander gegenübergesessen, deren vorgereckte Köpfe sich fast berührt hatten und die derart miteinander tuschelten, dass er zwar kein Wort verstand, wohl aber eine vertraute Melodie hörte – den Singsang, den er im Ohr hatte, seit er einmal einen Kindersommer lang nicht genau hier, aber in der weiteren Gegend gewesen war. Und war das nicht auch der Grundton in der Stimme seiner Mutter gewesen?
Zunächst hatte er befürchtet, sie redeten über ihn, da sie aber kein einziges Mal zu ihm herübergeschaut hatten, verlor sich seine Sorge, und er ließ sich von den beiden einfach etwas vorsingen. Auch die Kaffee­serviererin mit dem dicken Zopf, die ihre Schiebkarre durch die Gänge schob, hatte diesen Singsang.
Er saß am Fenster und blickte hinaus in das heruntergekommene Land, in dem Spaziergänger mit Hund herumirrten, als wären sie ausgesetzt. Auf einer Koppel stand unbewegt ein Storch, wie verzaubert. Stundenlang hätte Jonathan da sitzen können und zusehen, wie das Land immer wieder neu an ihm vorüberzog und doch stets dasselbe war. Die Schienen sahen aus, als ob sie mindestens eine Handbreit über den Bohlen schwebten, verbotenerweise, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn die Lokomotive weißen Rauch ausgestoßen hätte. Erst als drei junge Männer einstiegen, mit schwerem Metall an Ohr und Braue, die ihre Bierdosen aus einer Tasche holten – es waren nicht die ersten, und es würden nicht die letzten sein, die sie an diesem Nachmittag leerten – und die sofort sehr laut wurden, leider auch im Singsang, aber dröhnend – vor allem einer, der obendrein einen langen Vollbart hatte –, erst da nahm er sich vor, doch an der nächsten Station auszusteigen.
Auf dem Bahnsteig stand dann nicht nur er – etwas schief, denn ihm war im Zug ein Fuß eingeschlafen –, sondern auch die beiden Frauen waren ausgestiegen und standen jetzt mit ihm und sonst niemandem auf dem braunen Bahnsteig, beide in Hosen, die viel Platz für die Hüften ließen. Sie hatten ihm sogar gleichzeitig freundlich zugenickt, wie Zwillinge, und so, als kennte man sich schon lange, und sie waren gerade dabei, sich zu entfernen, als ihm einfiel, dass er sie klugerweise fragen sollte, wo man denn hier am besten ein anständiges Zimmer bekomme. Anständig sei hier alles, war daraufhin die Antwort der einen, während die andere ergänzte, die besten Zimmer gebe es im „Seegarten“, das Haus liege außerdem direkt am Strand und habe eine hübsche Terrasse, er solle an der nächsten Ecke nach rechts abbiegen und dann wieder rechts, dann komme er direkt ans Wasser. Wenn er hier schon als Fremder übernachten wolle, dann doch sicher nicht mit dem Blick in den Ort, sondern aufs Meer, und das finde er, wenn er kein Villenbesitzer sei – sie lachte –, dort besser als irgendwo sonst.
Man trennte sich. Die beiden Frauen gingen gerade­aus – auf einem kleinen Straßenschild las er tatsächlich das Wort Centrum, mit C, und dahinter einen Pfeil –, und er schob die Daumen unter seine Rucksackgurte und ging, wohin man ihm geraten hatte. Sel...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Zitat
  3. 1 Am Wasser, die Graue
  4. 2 Zug fahren, ankommen
  5. 3 Auf der Holzbank
  6. 4 Ein Hund ist da
  7. 5 Nur fünf Minuten?
  8. 6 Zum Haus und im Haus
  9. 7 Man kommt zusammen
  10. 8 Was Frau Schwansen so schwant
  11. 9 Der Handel
  12. 10 Jonathan möchte etwas erzählen und tut es auch
  13. 11 Was Frau Schwansen daneben denkt
  14. 12 Am Fenster, nachts, und dann
  15. 13 Ein dreizehntes Kapitel
  16. 14 Es geht um den Hund
  17. 15 Am Meer
  18. 16 Im Kiosk
  19. 17 Was Jonathan Hannah eigentlich erzählen wollte
  20. 18 Aus dem Dunkel
  21. 19 Was daraufhin Hannah Jonathan eigentlich erzählen wollte
  22. 20 Einschlafen und aufwachen
  23. 21 Kein Weltgericht
  24. 22 Ein sehr stiller Morgen
  25. 23 Von Schuld und Huld
  26. 24 Hannah Helferin
  27. 25 Da vorn, wo sonst?
  28. 26 Zitronen, Orangen, Bananen nicht
  29. 27 Vor dem Horizont
  30. 28 Plato meldet sich zum Schluss bei Frau Hansen
  31. Jochen Jung
  32. Zum Autor
  33. Impressum
  34. Weitere E-Books aus dem Haymon Verlag