Konrad
Manchmal grolle ich meinem toten Freund, und doch möchte ich ihm nur gut sein, denn wir haben den Blick auf diese Welt brüderlich geteilt. Überall in meinen Zimmern stoße ich auf Merkzettel mit Gedanken und Fragen, die ich an ihn, Konrad, richten wollte. Ich habe seine Telefonnummer noch immer auf dem Festtelefon kleben, obwohl ich diese Nummer seit Jahrzehnten im Kopf trage. Ein Jahr nach seinem Tod habe ich auch seine Nummer auf meinem Handy nicht gelöscht. Ich kann das nicht, ich werde das nie tun, ich werde ihn nicht auslöschen.
Er war mein Freund, mein bester Freund, aber vielleicht habe ich ihn nicht wirklich gekannt. Eigentlich war unsere Freundschaft – das wird mir mehr und mehr bewußt – eine von mir hingenommene Beleidigung. Daher mein Groll, der in kurzen Momenten in Zorn umschlagen kann.
Mein Freund hatte in seinem Leben eine verschlossene Zimmertür. Solange er lebte, hat mich diese verbissen gehütete Tür seiner Lebensweise nicht gestört, und schon gar nicht wäre ich gegen sie angerannt.
Wir haben immer wieder über die Liebe geredet. Und ich weiß, daß er geliebt hat, denn ich habe ihn einmal, ein einziges Mal, auch deswegen weinen gesehen. Aber ich habe nie einen Menschen gesehen oder gar kennengelernt, den er geliebt hat. Ich habe nie eine Person mit ihm gesehen, die er liebte, weder Frau noch Mann. Er kam immer alleine, wenn wir uns trafen, ins Kino, ins Theater, ins Restaurant, zum Ausflug in die Berge oder ans Meer. Er kam stets auf seine Art exzellent vorbereitet auf diese vereinbarte Stunde oder den ganzen Tag. Sein Gesicht leuchtete in den Augenblicken der Begrüßung. Wir feierten jedesmal das Leben, lauthals, gestikulierend, Wein trinkend. Alles Schöpferische priesen wir, zelebrierten wir, vernichteten wir manchmal auch mit ätzender Kritik, mit Empörung oder schallendem Lachen. Ich sehe sein Gesicht vor mir, faltenlos und sonnengewärmt, manchmal leicht gebräunt, zumeist aber bleich, immer belebt von Neugier oder Neugierbereitschaft, zuletzt mit eingesunkenen Wangen, dennoch ein Gesicht, das sich um kein Altern zu kümmern schien. Ich dachte, daß er sich bis zuletzt jung fühlte oder fühlen wollte. Fünf Monate vor seinem Sterben umarmten wir uns zum letzten Mal.
Heute glaube ich, wir lebten eine Freundschaft der einseitigen Gleichgültigkeit. Mir war es, wenn ich grausam ehrlich bin, gleichgültig, was Konrad irgendwo, in Rom, in Wien oder in einem Alpental suchte, fand oder erlebte. Einiges davon berichtete er ja von sich aus. Nur hatte das, was er erzählte, nichts mit seinem Leben als Liebender oder Liebesuchender oder Liebesenttäuschter zu tun. Darüber, was ihn bewegte, was ihn aufwühlte, glücklich oder traurig machte – darüber redeten wir kaum oder überhaupt nicht.
Was für eine Freundschaft war das dann schon?
Im düsteren Eingangsbereich des Wiener Stephansdoms, im Orgelrauschen eines ausklingenden sonntäglichen Hochamtes wurde ich von einem anderen Freund auf Konrad aufmerksam gemacht. Und so sah ich ihn erstmals schemenhaft von der Seite mit seinem hochgewellten Haar, einen unbekannten Landsmann, jetzt hier in Wien. Draußen auf dem Stephansplatz schüttelten wir uns die Hände. Noch heute sehe ich ihn in aller Schärfe, wie ausgeschnitten, vor mir: die von Freundlichkeitspflicht freigelegten Zähne, ein fast schutzloses Neugierlachen, ohne Worte im ersten Moment, dem dann gleich ein hastig wiederholtes Fragen folgte nach meinem Namen und meinem Universitätsfach, ohne aber weiter etwas wissen zu wollen über mein Woher und Wohin.
Mein Freund ist tot. Ich sitze an einem weißen, runden Tisch, durch ein großes, offenes Fenster strömt die Sommerluft herein, zwischen grünblättrigen Zweigen leuchtet sonnig der blaue Julihimmel. Konrad ist am letzten Maitag gestorben, im Koma, vielleicht nach einem Herzinfarkt, niemand, der ihn kannte, war bei ihm.
Ich versuche ihn für mich zurückzurufen, lebendig zu machen. Es sind keine großen Bilder, die in mir auftauchen, und sie erscheinen nur zögerlich wie aus einem Nebel, es ist, als hielten sie sich zurück in einer Warteschlange, vielleicht wollen sie alle einzeln aufgerufen oder herbeigesehnt werden.
Warum weiß ich nach so langer Freundschaft so wenig von ihm, fast nichts? Obwohl wir Jahr für Jahr die Weltlage besprochen, analysiert, zerkaut und verflucht haben. Obwohl wir so oft miteinander Fleisch und Nudeln und Salat gegessen, Weißwein und Rotwein und Schnaps getrunken haben, weiß ich kaum etwas von seinem persönlichen Leben, von Glück und Unglück hinter der verschlossenen Zimmertür seines Alltags, wo er, vielleicht oft ohne einen geliebten Menschen neben sich, das Licht löschte, um die Nacht zu beginnen.
Ich weiß nicht einmal, wo wir uns nach der ersten Begegnung zum zweiten Mal getroffen haben. War es zufällig? Auf der Kärntner Straße, oder auf einem der Innenstadtplätze, am Schottentor oder vor dem Burgtheater? Vielleicht haben wir uns auch einfach bei einer Versammlung wiedergesehen in einem der Parterrezimmer der Hochschülerschaft: Wir waren Studenten auf verschiedenen Fakultäten, ich hatte Jura belegt, er war Philosoph, unterwegs von Sartre zu Heidegger.
Wo und warum immer, wir verabredeten uns sehr schnell zu Kinobesuchen, zu Theaterbesuchen und natürlich auch zum Debattieren in den Fensterbuchten der Cafés. Regelmäßig trafen wir uns sonntags am frühesten Nachmittag. Ich kam immer noch halb hungrig aus einer der Wiener Öffentlichen Küchen, kurz WÖK genannt, Gaststätten mit Niedrigpreisen für Burenwurst und Linsen oder Faschiertes mit Erdäpfelpüree.
Am liebsten saßen wir im Café Schwarzenberg. Vor den großen Fenstern die braunschwarzen Stämme der Alleebäume, die den Blick auf das Hotel Imperial gegenüber vertikal zerstückelten. Aber uns interessierte nicht so sehr der Balkon dieses Hotels, von dem herunter Adolf Hitler einst und später Breschnew und John F. Kennedy den begeisterten Wienern zugewinkt hatten. Wir lasen lieber Theaterkritiken und Buch- oder Filmbesprechungen, überhaupt lieber die Feuilleton-Seiten als die politischen. Wir fühlten uns damals noch in der Geistesnähe von Mark Twain oder Edgar Allan Poe, aber wir schlüpften schon in die Phantasie von Hemingway, Sartre und Camus. Stundenlang saßen wir bei einer einzigen Flasche Bier, oft bis zum Abend, bis die Kellertheater den Einlaß freigaben. Manchmal bummelten wir zuvor noch durch den Stadtpark an dem versteinert geigenden Johann Strauss vorbei und über den Ring zur Oper, durch die Kärntner Straße zum Stephansdom und über den Graben wieder zurück zur Michaelerkirche, vorbei an der Augustinerkirche zur Oper und zur Ringstraße.
Ohne Abmachung galt für uns, nach dem Verlassen eines Theaters oder eines Kinosaals zu schweigen. Wir traten auf die Straße, meistens ins Abendlicht oder ins Nachtdunkel hinein, und mein Freund drehte sich auf den Fersen und streckte den rechten Arm aus, jedes mögliche Sprechen damit abwehrend. Das kam mir entgegen, auch darin trafen wir uns.
Konrad war ein wilder Suchender, abgebremst vielleicht nur von dem Zeigefinger und dem Moralgemurmel seiner Kindheit und seiner tief katholischen Bauernfamilie. Als ich ihn kennenlernte, hatte er schon die Ruhe und die Sicherheit eines Selbstbefreiten, und zwar ohne Verneinung oder gar Verachtung seiner Herkunft. Mein Freund war ein freisinniger Mensch, als wir uns kennenlernten. Wir hatten in dieser ersten Zeit unserer Freundschaft wenig oder kaum Geld für anderes als die Zimmermiete und das karge Mensa-Essen. Trotzdem reichte es immer (aber wir sahen uns in der Regel ja nur am Wochenende), um nach einem Theater- oder Kinobesuch in einer schwachbeleuchteten Kneipe das Gesehene und Gehörte zu bereden, meist bei einem Glas Cola und Rum. In diesen schummrigen Kneipen, wo der Tabakqualm das Lampenlicht vernebelte und wo die mit Plakaten verklebten Wände uns das Gefühl gaben, daß sie uns nicht die Welt verklebten, sondern daß dahinter die farbenfroheste Zukunft auf uns wartete.
Wenn wir nach Sartres „Die Eingeschlossenen“ in unserer Lieblingskneipe in der Berggasse hockten, fast gegenüber von Sigmund Freuds Zimmern des Denkens, Liebens und Praktizierens, dann sprachen wir auch über den Tod. Ich bin der erste Mensch, der nicht sterben wird!, schrie mir Konrad ins Ohr mitten in einem Celentano-Lied, das aus der Musikbox schallte. „Die Eingeschlossenen“ waren für uns eine Metapher der Freiheitssehnsucht, des Widerstands gegen jedes aufgesetzte Müssen, gegen Mode und gegen Massenkonsens. Wir waren lebenszornige Existentialisten.
Nie hätten wir uns damals eine Zugfahrt nach Paris leisten können. Aber wir saßen wie selbstverständlich in einem der Cafés in Saint-Germain oder im Quartier Latin und hörten die rauhe Stimme der Gréco. Wir waren literarisierte Phantasie-Reisende, und der Planet hatte ohne tägliches Fernsehen viele Arten von Nähe. In unserem Kopf waren wir in Kalifornien bei John Steinbeck und hunderte Meilen weiter bei Henry Miller, die Welt des Mississippi war uns durch Mark Twain und William Faulkner vertrauter als der Neusiedler See.
In besonderer Erinnerung ist mir ein Abend in einem Kino am Rand des Wiener Praters. Gezeigt wurde ein Film des japanischen Regisseurs Kurosawa. Der Held, ein barfüßiger Diener der unerreichbar geliebten Herrin, einer einsamen Witwe mit einem kaum zehnjährigen Sohn. Vor diesem Sohn, den er wie sein Kind liebt und auf ein Leben des Widerstandes hin erzieht, kämpft der Diener an einem Sportfest mit den letzten Kräften um einen Triumph. Barfuß hat er alle seine sportlich weitaus besser trainierten Konkurrenten besiegt. Die Mutter des Jungen jubelt spontan mit dem Kind, kann aber dem siegreichen Mann, der sie liebt, jedoch tief unter ihrer gesellschaftlichen Schicht und also ohne Ansehen ist, ihre Bewunderung und Zuneigung nicht zeigen. Der Film endet in meiner Erinnerung in einer Winternacht auf der Schaukel eines Kinderspielplatzes – der Barfüßige, inzwischen gealtert, bewegt sich kaum, schaukelt fast unmerklich in die fallenden Schneeflocken hinein und zurück. Und der Schnee bedeckt seinen Tod.
Als ich mit meinem Freund an diesem Oktoberabend aus dem Kino hinaustrat, machte jeder von uns einige Schritte weg vom anderen. Es brauchte nicht Konrads zurückweisend gestreckten Arm, ich bewegte mich stumm auf einen Parkbaum zu, ein lautloses Schluchzen würgte mich. Als mein Freund sich näherte, brach es aus mir heraus, es war wohl so etwas wie ein kleiner Nervenzusammenbruch, der mich schüttelte. Ich verfiel ins Lachen, als ich merkte, daß Konrad mich umkreiste, aber das Lachen ging jäh über in ein immer hemmungsloseres Weinen, das ich nicht und nicht zu unterdrücken vermochte. Irgendwann sah ich meinen Freund, wenige Alleebäume entfernt, mit dem Gesicht an der Rinde einer Roßkastanie.
Ich dachte immer, daß mein Freund ein großer Schriftsteller werden würde, ich zeigte ihm schon als Student fast jedes Blatt, das ich beschrieben hatte. Von Anfang an war ich überzeugt, daß er so wie ich in seiner Bude schrieb. Tatsächlich führte er auch über einige Zeit eine Hochschüler-Zeitschrift und animierte mich zu einer regen Mitarbeit, die so intensiv wurde, daß ich unter verschiedenen Pseudonymen schreiben mußte. Er aber? Ich erwartete mir von Monat zu Monat eine Erzählung von ihm oder Gedichte, schließlich hielt ich ihn für eigensinnig genug, daß ich ihm sogar einen Roman zutraute. Doch er zeigte mir nichts von alledem. Ich las seine essayistischen Artikel in der Zeitschrift, bewunderte die brillante sprachliche Dichte („Alle Schrecken sind nicht dein – aufgeschrieben oder nicht aufgeschrieben. Aber ich stand in ihrem Aufwind.“), die von einer ebenso intellektuellen wie gefühlsstarken Eindringlichkeit war.
Von seiner Sprachkraft schien er auch selbst überzeugt zu sein. Denn er, der kontaktscheue Beobachter, dessen Teilnahme am kulturellen, aber auch politischen und gesellschaftlichen Weltdasein immer eher ein Dialog zwischen uns Freunden blieb, er wagte es, zu meiner Verblüffung, einmal sogar in einem öffentlichen Rede-Wettbewerb aufzutreten. In einer Riesenhalle, nicht weit vom Stadtpark entfernt, bot der Österreichische Rundfunk redegewandten oder redesüchtigen Zeitgenossen ohne Altersbegrenzung die Möglichkeit eines im Radio live übertragenen Auftritts von fünf Minuten.
Meine Frau und ich saßen in der schütter besetzten Halle, es war sommerliche Mittagszeit, zwischendurch wurden Verkehrsberichte durchgegeben und Schlagerschnulzen abgespielt. Dann trat Konrad ans Pult. Im nachhinein wunderte ich mich, daß er uns überhaupt diesen Auftritt mitgeteilt hatte, aber er, der so Diskrete, er mußte eine überquellende Siegergewißheit gefühlt haben. Es war schrecklich. Ich sehe ihn, meinen Freund, noch immer in dieser für ihn aussichtslos verlorenen, geradezu feindseligen Situation. Er sprach über die kulturell-gesellschaftliche Bedeutung der Juden in der Geschichte Wiens, er rühmte und pries die Metropole an der Donau als vorbildlichen Pott aus so vielfältig wertverschiedenen Herkunftskulturen und verpaßte den Juden für ihre unaussprechbaren Blutopfer, für ihre unaustilgbaren, nie gut zu machenden Demütigungen eine Art alles überstrahlenden, diamantenen Judenstern.
Ich wußte, daß er provokant, aber gleichzeitig auch ein Sieger sein wollte.
Vielleicht klatschte noch die eine oder andere Person außer meiner Frau und mir. Ich selbst klatschte nicht allzulange, weil ich nicht auffallen wollte. Mit einem tödlich verletzten, aber strahlend lächelnden Kunstgesicht ist er von der Pulthöhe heruntergestiegen. Nach fünf Minuten Auftritt. Es war keine Blamage in diesem von Rentnern, Witwen und Arbeitslosen zum Ausruhen benützten Saal, sondern die vielleicht erste öffentliche Selbstverletzung, die er sich zugefügt hatte. Es war kein Scheitern, es war eine Selbstentblößung, da er sich mit einer tabulosen Rede jedem Unverständnis oder Mißverständnis ausgeliefert hatte. Konrad kam auf meine Frau und mich zu in seinem italienisch hellblauen Sommeranzug, tänzelnd, wie immer. Aber mit einem Lächeln, das wie aus Gips war.
Wir kannten uns noch nicht zwei Jahre, als ich heiratete. Ich war Student, aber nur mehr so nebenbei, tatsächlich ging ich von Montag bis Freitag in das Landesgericht. Ich arbeitete als Journalist und schrieb Prozeßberichte. Je kleiner das Drama, desto größer war der Reiz für mich, daraus eine Story zu machen. Ich schrieb mehr die Innenseite als die Außenseite der Gerichtssaalgeschichten. Meinem Freund gefielen sie.
Irgendwie, dachte ich manchmal, war Konrad wie aus Pergament, eine undurchlässige und doch atmende Haut. Er hatte viele Freunde, die meisten davon kannten ihn als denkenden Kopf, er war einer der besten Abgänger der Eliteschule des Landes gewesen. Aber mit all diesen Freunden traf er sich immer seltener auf einen Kaffee oder noch seltener zu einem gemeinsamen Essen. Wir zwei jedoch, ich glaube, ich war der einzige Freund, jedenfalls der einzige Mann, der mit ihm ins Spielerische, ins banal Alltägliche vorzudringen vermochte. Er, mit dem ich stundenlang kühl oder hitzköpfig über Heidegger diskutieren konnte, er ließ sich gern in die bunte Klamaukwelt des Praters entführen. Er, der sich auch in winterkalten Nächten vor der Oper anstellte, um eine Stehplatzkarte für Wagners „Tristan und Isolde“ zu erkämpfen, er schlenderte mit mir und meiner Frau an Sonntagnachmittagen durch die Prateralleen und frohgemut ins Getümmel und Ringelspielgekreisch rund um das Riesenrad, und regelmäßig steuerten wir auf den kiesbelegten Wirtsgarten „Zum Englischen Reiter“ zu und zerlachten uns bei saurer Wurst und Bier unter den zweifelhaften Klängen einer Veteranenkapelle, die „La Paloma“ oder den „Schneewalzer“ herunterspielte.
Wenn Konrad in Wien war, verbrachte er fast ausnahmslos Samstag oder Sonntag, zumindest den Mittag, mit uns. Seit ich ihn kannte, lebte mein Freund allein, ich aber, mit höchstens kurzen Unterbrechungen, immer zu zweit. Darunter schien er nie zu leiden. Wenn er Samstagmittag vor unserer Wohnungstür stand, war er wie ein Erzherzog, der uns die Ehre gab. Und nachdem wir die politischen und gesellschaftlichen Besonderheiten der vergangenen Tage durchgehechelt hatten, warfen wir uns geradezu dionysisch über das Essen und Trinken.
Wenige seiner anderen Bekannten oder Geistesfreunde mögen ihn je so erlebt haben. Ich redete laut, er überschlug sich mit seiner Stimme, er steigerte sich in rhetorische Figuren hinein, wiederholte halbe Sätze, fast glucksend, die Hand vor dem Mund oder die gespreizten Finger irgendwo in der Luft, er gestikulierte mit seinen langen Armen und lachte über sich selbst. Ich wußte, daß wir beide uns in vollem Bewußtsein gehenließen, daß wir diese Rollen des scheinbar unkontrollierten Banalseins in gegenseitigem Einverständnis genossen. Tatsächlich verrannten wir uns in besonders ausgelassenen Momenten in so etwas wie Stegreif-Theater ohne Publikum. Denn unsere einzige Zuschauerin war meine Frau, die aber selbst ihre Rolle in diesem Stück hatte, eben als erschreckte, ja entsetzte Zuschauerin, wenn mein Freund und ich entfesselt dazu übergingen, mit der Gabel nach einem Knödel in der Porzellanschüssel zu stechen, um diesen, auf einem Teller gelagert, vor dem Feindfreund und Eßkonkurrenten in Sicherheit zu bringen. Einmal versteckte Konrad seinen Teller mit Knödeln sogar hinter meinem siebenbändigen Brockhaus, in der Hoffnung, ihn dort gesichert zu haben vor meiner Attacke, vor der schamlosen Freßgier des Freundes und Gastgebers.
Dieses kindische Freiseinspiel bekam trotz all seiner Banalität eine Wichtigkeit, wurde etwas, worüber wir immer wieder, auch vor zufälligen Bekannten, reden und lachen konnten, etwas, das wir als die t...