Nachprüfung eines Abschieds
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Nachprüfung eines Abschieds

Erzählung

  1. 120 Seiten
  2. German
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Nachprüfung eines Abschieds

Erzählung

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Über dieses Buch

Eine Erzählung ohnegleichen: Markant, aufwühlend und kompromisslos schildert Franz Tumler die schmerzlichen Erfahrungen zweier Menschen, die voneinander Abschied nehmen. In stetem Einkreisen und Beschreiben rekonstruiert er deren Begegnung, deckt auf, was zwischen ihnen geschehen und warum es geschehen ist. Bis in die tiefsten Gründe des Zwischenmenschlichen dringen seine Sätze vor - und zutage tritt eine Einsamkeit, die Liebende bis heute begleitet. Nachprüfung eines Abschieds gehört zu den beachtlichsten Prosastücken nicht nur Franz Tumlers, sondern einer ganzen Autorengeneration. Mit seinem literarischen Schaffen prägt Tumler die moderne Erzählliteratur der Nachkriegszeit nachhaltig. Zu seinem 100. Geburtstag wird nun seine bekannteste Erzählung mit einem aktuellen Nachwort von Johann Holzner neu aufgelegt. Gleichzeitig fällt damit der Startschuss zu einer fortlaufenden Ausgabe, in deren Rahmen die wichtigsten Werke Franz Tumlers in Einzelbänden erscheinen.

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Information

Jahr
2012
ISBN
9783852187112

III

In den letzten Jahren bin ich immer nur über Absdorf hinweggefahren wie über ein Gelenk, und dann nach der einen Richtung oder der andern Richtung – nach Westen in die Stadt am Gebirgsrand vor der Grenze, oder nach Osten in die Stadt an der Donau. Es gibt Leute, die jeden Tag so fahren, sie heißen ,Pendler‘; ich war ein Pendler am Wochenende und manchmal erlebte ich dabei etwas wie diese Geschichte, bei der ich geahnt habe, wie es sein könnte, wenn man auf einen anderen Menschen achtet. Früher habe ich auf andere nicht, sondern nur auf mich selbst geachtet; davon erzähle ich nicht gerne. Deshalb habe ich der Frau auch die eine Geschichte zuerst erzählt. In ihr komme ich noch gut weg; aber sie wäre die letzte Geschichte oder die vorletzte, wenn ich überhaupt alles erzählen wollte. Um es zu tun, müßte ich nachrechnen. Diese Jahre zuvor – drei oder vier Jahre – sind mir so vergangen, daß ich mich immer in der Zeit irre. Manchmal ist mir, als wäre ich jedes Mal in demselben Wagen gefahren, nur die Farben waren anders: das eine Mal braunes Holz, das andere Mal gelbes helles Holz, oder ein Abteil mit Leder­bänken; die Nummern über den Sitzplätzen wechselten, Tag und Jahreszeit waren geändert. Auf der Strecke nach Osten kamen zuerst die Schottergruben; über die Heide dahinter dehnte sich ein Flugplatz mit Häusern, die keine wirklichen Häuser sind, sondern nur als Tarnung erbaut: sie sehen aus wie schmucke Siedlungen, aber alles sind nur Würfel aus Beton, die Giebel, Fenster und Terrassen perspektivisch aufgemalt. Dann kommen im Herbst die langen Mauern der aufgeschichteten Zuckerrüben, zu denen die Bauern ihre Ladungen karren. Immer fahren dort die Gespanne und Schlepper mit Anhängern, immer wird umgeschaufelt mit den Gabeln, die an ihren Spießen runde Kugeln haben, damit das Erntegut nicht verletzt wird; was verletzt wird, fault; immer wird gewogen, gezählt, werden Papiere getauscht, Geld kommt später. In der Richtung nach Westen herrscht andere Luft, dort kommen Wälder, Fischteiche, Bäche, die nach Regen­güssen über die Straße fluten; das Gebirge kommt nahe, es geht über eine Steigung, und an ihrer höchsten Stelle ist ein Punkt, an dem man tief hineinsehen kann bis an den Gletscher. Von da geht es abwärts. Ich merkte es jedes Mal an dem anderen Rollen der Räder, dem schnelleren Takt. Und immer war für mich Absdorf das Gelenk, an dem ich zustieg oder ausstieg und auf die Bilder zuging, in der einen oder der anderen Richtung, oder von ihnen Abschied nahm.
Aber das alles ist Ausrede: daß ich mich in der Zeit irre, daß ich die Wagen verwechsle – ich will die Wahrheit nicht sagen, deshalb gebe ich vor, die Reihenfolge nicht zu kennen. Das hört jetzt wieder auf. Seit ich hier in der Stadt wohne und in der Höhe meines Mundes auf die Erde sehe, und seit du hereinkommst von oben, hört es auf. Als neulich abends die Lichter angingen – ich sah es ja nicht, aber ich konnte sagen: Einmal werden wir es sehen!, da merkte ich, daß es aufhört. Eines Tages werde ich wieder so erzählen können wie jemand, der über die Straße geht: jetzt ist er herüben, jetzt ist er drüben, und ein Schritt kommt nach dem andern. Ich muß nur vorsichtig sein und mich gedulden. Mir geht es noch so wie der blinden Person, daß ich die Richtungen verwechsle. Das Haus, als wir es gesucht hatten, war besetzt. In das unschuldige Haus kann niemand zurück, und das zweite Haus ist nicht das erste; schuldig gewohnt und schuldig weggegangen, wo sollen wir anfangen?
Ich könnte mit dem Ende anfangen. Gestern war Weihnachten in Absdorf, der Regen klopfte und sprang von den Blechdächern, und Nässe rann durch das Dunkel, und ich bildete mir ein, ich führe, weil Weihnachten ist, mit lauter Verdammten durch die Hölle; das war gestern, das heißt, vor der Zeit, ehe ich hierher kam; und damit hört es wieder auf. Aber auch davon will ich jetzt nicht erzählen. Ich muß die frühere Geschichte erzählen, von der ich vorgebe, daß ich sie verwechsle. In Wahrheit höre ich genau die Stimme.
Ich bemühe mich, es in Ordnung und Reihenfolge vorzubringen.
Heute spreche ich mich schuldig, damals spürte ich nichts von Schuld. Die Sache dauerte ein paar Jahre. Der Mann kam dahinter, die Frau verließ ihn, sie ging zu ihren Verwandten. Sie rechnete mit mir, daß ich sie heiraten werde. Ich ließ sie im Stich. Manches an ihrem Verhalten ist mir nicht klar. Sie war schlau wie eine Füchsin und in der Welt mehr zuhause als ich. Es sah immer so aus, als bewege sie sich lautlos, sie wirkte unscheinbar, nur ihr rotes Haar fiel auf. Sie trug häßliche Kleider, aß wie ein Mann, dachte groß­zügig und kühn wie ein Mann – es kommt mir jämmerlich vor, solche Dinge aufzuzählen; sie bleiben übrig, wenn eine Sache vorbei ist. Es muß etwas anderes in ihr gewesen sein, wahrscheinlich habe ich es nie kennengelernt. Was habe ich überhaupt von ihr erfahren? Als ihre Scheidung kam, deutete sie mir kaum etwas an, als wäre das nur ihre Sache. Ihre Empfindung mochte ihr sagen, daß man einen Menschen verliert, wenn man ihn binden will, solange er nicht selbst es will.
Schon war es ein unmögliches Verhältnis, aber ich ließ mir den Zustand gefallen, ohne mich zu erklären. Wenn ich es so erzähle, sieht es aus, als hätte ich ihn ausgenutzt. Ich will nichts beschönigen, wahrscheinlich hatte ich damals keine Vorstellung von Liebe und war unfähig, über mich selbst hinauszugehen zu einem anderen Menschen. Es klingt wie Anmaßung, aber ich war in einem bestimmten Sinne unschuldig; ich gebrauchte die Sprache der Liebe wie einen Schatz von Formeln, deren man sich in gewissen Umständen bedient, um sich anzupassen; ich kam den Umständen nach und meinte, es sei Liebe. Aber ich drang nicht vor bis zu dem, was die Frau war; ich sah nur, daß sich ein anderes Wesen genähert hatte. Ich machte etwas, das der Liebe täuschend ähnlich sah. Die Frau täuschte sich lange Zeit darüber, sie liebte mich ja. Später sagte sie zu andern von mir: Wir waren nie zusammen – wenn wir an einen Ort gefahren sind, bin ich mit ihm gefahren, oder er mit mir, aber miteinander sind wir nicht gefahren. Heute verstehe ich: sie riß an etwas Unbeweglichem, Unkenntlichen in mir, von dem ich selbst damals nichts wußte; sie konnte es nicht verrücken.
Ich müßte genauer sagen: ich war unschuldig und böse, so wie dies beides zusammengehört. Aber auch das ist mir unsicher wie alle Erforschung von Gründen; so bleibt mir nichts übrig, als daß ich die Tat­sachen erzähle. In ihnen läßt sich freilich eine Folge niemals herstellen. Wir wollten zusammenkommen, statt dessen kamen wir auseinander. Das ist die ganze Geschichte. Es war nicht Streit, sondern ein Vorgang: Bewegungen in einem Netz damals schon – es setzte sich aus Punkten von Ort und Zeit zusammen, aus Ankunft, Aufenthalt, Station, Abfahrt und festgelegter Minute. Hier muß ich mich fragen, wie solche Ereignisse eintreten: Trennung und Verlust. Es war nicht ein Entschluß, sondern ein Knoten in einem gelegten Netz: ein Faden verknotete sich, die Maschine lief weiter, sie nahm den Faden nicht mehr mit, er fehlte dann.
Du mußt es dir so vorstellen. Ich will versuchen, es festzuhalten. Aber nur, weil du hereingekommen bist und mir zuhörst, fange ich an, es zu sehen, und erkenne die Farben.
Es war in einem Winter bald nach Kriegsende, ich kam an einem frühen Morgen in der kleinen Stadt an, am Vormittag traf ich die Frau, zu Mittag fuhr ich mit ihr weiter. Ich hatte sie in einem Brief gefragt, ob sie sich ein paar Tage freimachen könne, sie konnte es, und nun machten wir diese Reise. Ich mußte bis zu einem Punkt an der Grenze fahren, bis zu einem Paßübergang im Gebirge, dort sollte ich warten auf einen Vetter, der drüben auf der anderen Seite wohnte. Er sollte mir Dokumente bringen. Ich hatte meine Papiere im Krieg verloren, ich war drüben, jenseits der Grenze, geboren, ich brauchte neue Urkunden. Es gab damals keine Erlaubnis, über die Grenze zu gehen, es gab auch keine sichere Postverbindung; genaue Verabredung war unmöglich, daher dieses Warten. Der Ort beherbergte in Friedenszeiten Gäste, die zum Ski­fahren oder auf Urlaub kamen; ich hatte mir ausgedacht, daß ich mit der Frau die Zeit dort so haben könne, als ob wir Urlaub machten. Ich sagte es ihr mit diesen Worten. Sie sagte: Es ist schon wieder so – als ob!
An ihre Antwort erinnere ich mich genau. Es war das erste Mal, daß ich an ihr Eigensinn spürte, einen Vorwurf hörte, Empfindlichkeit wahrnahm. Nun saßen wir wie gezwungen in der Vorortbahn, die uns von der kleinen Stadt im Gebirge in die größere an den Hauptbahnhof brachte. Es war eine der altmodischen elektrischen Bahnen, wie sie aus der Zeit vor dem ersten Krieg übriggeblieben sind. Die Wagen rumpelten unter den verschnörkelten Masten neben der Landstraße dahin. Obwohl Januar war, lag kein Schnee; die Straße war trocken und staubig. Die Sonne außen an den Fenstern spiegelte Wärme vor. Am Hauptbahnhof mußten wir eine Weile warten, dann kam der Personen­zug, mit ihm hatten wir noch vier Stunden zu fahren.
Das zweite, an das ich mich erinnere, war Empfindlichkeit in diesem Zug. Wir hatten ein leeres Abteil gefunden, das machte mich übermütig, brachte mir die Lust an der Reise zurück. Statt die Frau zu versöhnen, zeigte ich mich – ungerührt von ihrer Verstimmung – kindisch heiter, sprang auf die Bank, turnte zwischen den Gepäckträgern – ich erlag der Versuchung, die immer von einem Ort ausgeht, an dem man sich für gewöhnlich gesittet zu benehmen hat: ist man an einem solchen Ort ohne Aufsicht, fühlt man sich zu Übermut herausgefordert. Außerdem freute ich mich, daß ich mit der Frau allein war. Ich sah ihren roten Haarschwall; und dieses Bild ist mir noch jetzt deutlich vor Augen: das Abteil hatte eine Wand aus schmalen Holzleisten, sie waren hellgelb gestrichen, die Farbe war abgeschabt, vor dem Hinter­grund aus Rissen und Spänen leuchtete das rote Haar, eine üppige Woge voll Geruch über der weißen Haut. Ich setzte mich der Frau mit einem plötzlichen Schwung auf den Schoß, dann zog ich mich wieder hoch und hielt mich halb schwebend in dem Luftraum vor ihrem Platz. Ich setzte mich ihr gegenüber und legte ihr die Hand aufs Knie und schob ihr den Rock zurück. Ich spürte zuerst die Seide, dann das weiche warme Fleisch. Sie ließ sich berühren wie jemand, der ausgeliefert ist, aber dann sagte sie: Ich verstehe dich jetzt langsam! Ich zog die Hand zurück, sie sah forschend zu mir herüber.
Erst später begriff ich, wie sehr die Vertraulichkeit sie verletzt haben mußte, wo ihr Vertrauen schon fehlte. Statt ihre Empfindlichkeit zu schonen, hatte ich mich ihr genähert; da hatte sie gemerkt, wie wenig ich auf sie achtete.
Eine dritte Sache kam, als wir in dem Hauptort des Grenzbezirkes aus dem Zug gestiegen waren und dort Aufenthalt hatten. Wir sollten mit einem Postauto weiterfahren. Der Halteplatz der Autobusse lag auf dem sandigen Gelände eines Viehmarktes. Wir kamen hin und hörten, der Autobus führe erst gegen Abend. Schon verdroß es uns, daß wir warten sollten, da sagte uns der Platzmeister, wenn wir an die Grenze wollten, müßten wir uns schon hier, am Sitz der Behörde, einen Passierschein holen. Nun waren wir froh, daß uns der Aufenthalt Zeit gab; wir suchten das Amt auf. Es war provisorisch in einer Villa untergebracht; ein Gendarmerieoffizier empfing uns in einer wohnlichen Stube. Er bat uns, Platz zu nehmen, und strengte sich zu Höflichkeit an, als wären wir bei ihm zu Besuch. Er stellte mir den Schein aus, er sagte: Der gilt auch für Ihre Frau! Ich erklärte ihm, daß wir nicht verheiratet seien, ich sagte es als Auskunft für das Amt. Der Offizier stutzte einen Augenblick, der Frau entging es nicht. Als er sich nun anschickte, ihr einen zweiten eigenen Schein auszustellen, hörte ich, wie sie ihm stockend ihren Namen ansagte; ich sah, sie war blutrot im Gesicht.
So spitzte es sich zu bei ihr, ich wollte es nicht sehen und nicht anerkennen. Aber dann, als der Autobus endlich abfuhr, schien sich die Spannung zu lösen. Der Abend macht freundlicher und freier, und nun dämmerte es schon draußen. Bald war es völlig dunkel, und als die Straße den ebenen Talgrund verließ, sahen wir eine Weile nichts als Schwärze. Das schwere Postauto puffte und mahlte die lange Steigung empor. Nach einer halben Stunde solchen Fahrens tauchten hier und dort fahle Flecken auf, und dann trat auf einmal eine glänzende Blendung in das Licht der Scheinwerfer: wir waren weit in die Höhe gekommen, und hier lag überall Schnee. Verharschte Haufen verengten die Fahrbahn, bald wuchsen sie links und rechts zu aufgepflügten Mauern empor. Ich kannte die Landschaft, wie sie im Sommer war, und nun redete ich davon. Wie lange war es her, seit ich sie zuletzt ge­­sehen hatte; wie oft aber war ich früher hier gegangen, von drüben her über die Grenze und umgekehrt zu ihr hinauf! Die Frau belebte sich, als ich erzählte; das wieder machte mich beredt; ich sagte ihr, daß in dieser Gegend am Paß, wenn ich auch nicht hier lebte und nur meine Verwandten drüben hätte, für mich doch immer etwas wie Daheimsein geblieben sei.
Ich weiß es, sagte die Frau, ich habe oft daran gedacht, und einmal war ich auch hier!
Wie, du warst einmal hier? fragte ich. Davon hast du nie gesprochen.
Sie antwortete: Voriges Jahr, als du so lange nicht schriebst, da bin ich heraufgefahren!
Ich wußte, als ich die Frau das sagen hörte, sofort, daß es für sie eine Fahrt in Gedanken an mich gewesen war; nur um etwas von mir zu haben, etwas zu sehen, von dem sie sich aussprechen konnte, daß es zu mir gehöre, war sie auf den Einfall gekommen, diesen Ort zu besuchen. Und ich erinnere mich gut: in meiner Vorstellung bildete sich eine Kette von Empfindungen und Schlüssen, wie eine solche Mitteilung sie hervorrufen mußte: Rührung; und es war ein Zeichen von Liebe; das Bild, wie sie hier gestanden hatte; die lange anstrengende Fahrt – sie hatte sie allein gemacht, in der Zuwendung nur auf einen anderen Menschen, der andere war ich; sie hatte aber geschwiegen, jetzt gestand sie es. – Aber alles ging nur als Vorstellung in mir vorüber, und nicht als Empfindung. Ich war zwar fähig, die Möglichkeit abzuschätzen, daß sich aus der Vorstellung eine Empfindung entwickeln konnte; in mir entwickelte sich nichts. Es war, als sähe ich an einer Stange eine Reihe Kostüme hängen – ich konnte mir vorstellen, daß jemand sie anzog; ich zog sie nicht an. Das alles ging mir so schnell durch den Kopf, daß ich dazu nur einen Augenblick brauchte. Ich dachte es, und schon dachte ich es nicht mehr, und etwas anderes regte sich in mir: Abwehr. Bis dahin hatte ich ein Widerstreben, das mich der Frau entfremden wollte, nur unbewußt gespürt; jetzt blitzte es mir auf an der Sache: wenn sie an dem Ort hier so gewesen war, hatte sie etwas gesucht und sich aneignen wollen, das mir gehörte; und hatte es getan, ohne daß ich es wußte; und wenn sie es jetzt sagte, meldete sie ihren Anspruch an. Das ist mein Anteil an deinem Daheimsein, wollte sie mir sagen, und ich habe ihn mir erobert und erworben durch Liebe. Dagegen wehrte ich mich, hörte mich nein sagen und sah mich zurückweichen. In dem Augenblick wußte ich, daß ich die Frau nicht liebte. Aber auch dies, blitzschnell in Gedanken, war nur ein Vorgang, den ich wahrnahm; nicht ein Entschluß. Ich sah mir selber zu, als läse ich den Punkt, den ich nun erreicht hatte, von einer Skala ab; damit war es geschehen und vorbei; ich fühlte mich in einen Stand gerückt, der mir so natürlich war, als hätte ich nie einen anderen kennen­gelernt; ich war allein, wenn auch in Wirklichkeit die Frau neben mir am Fenster saß. Nur durch den Stoff von Raum und Zeit hing sie mit mir zusammen. Wäre nicht die schwer widerlegbare Erinnerung an die tags zurückgelegte Strecke gewesen, ich hätte es trotz dem Augenblick für eine Tatsache erklärt, die mit mir nichts zu tun hatte. D...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Widmung
  3. I
  4. II
  5. III
  6. Nachwort
  7. Editorische Notiz
  8. Anmerkungen
  9. Zum Autor
  10. Impressum