LOS
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LOS

Eine Erzählung

  1. 88 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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LOS

Eine Erzählung

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Eine ergreifende Geschichte über die Annäherung an einen verstorbenen Freund, der sich eines Tages aufmacht, um nicht mehr zurückzukommen, weil er sich "verwandert" hat. Aus wenigen Episoden und Standbildern entsteht das ganze Leben eines langsam Verschwindenden und gleichzeitig ein tiefer Eindruck von Vergänglichkeit. Klaus Merz braucht nicht viele Worte, um große Literatur zu schreiben. In LOS erzählt er in präzisem, knappem und dennoch lyrischem Stil, in Sätzen, die man - so kurz sie auch sind - umso länger im Sinn behält. "Ein kostbares Buch." (Der Standard, Stefan Gmünder)

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Information

Jahr
2012
ISBN
9783709974247

Start

Wir hatten nach dir gesucht, gerufen, ge­graben. Aber alle Rettungskolonnen kehrten unverrichteter Dinge ins Tal zurück. Die Hubschrauber landeten ohne Ergebnis, wurden aufgetankt und standen wieder für andere Aufgaben zur Verfügung. Auch auf dein Passbild im Fernsehen gab es keine Reaktionen. Die Hell­seher führten uns ausnahmslos in die Irre. Mehr konnten wir nicht tun, als unseren Vermutungen zu folgen. Und ein Abtauchen in die Karibik kam nicht wirklich in Frage, nicht für dich, nicht für uns. Auf deinen Konten keine Bewegung.
„Mein Thaler hat sich verwandert.“ An diesen Satz deiner Frau klammerten wir uns, zusammen mit deinen großen, schweigsamen Kindern, und begannen nach allen gescheiterten Nachforschungen unseren Alltag ohne dein Dabeisein langsam wieder in seine gewohnten Bahnen zurückzulenken. – Nur in den Träumen kehrtest du zu uns zurück. Als ob nichts gewesen wäre, tratest du in unsere Stuben und Zimmer, setztest du dich an unsere Tische, legtest du dich in dein Bett. Bis wir dich insgeheim darum baten zu bleiben, wo du jetzt bist.
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Unter der herbstlichen Hochnebeldecke rücken die Häuser des Quartiers zu einem Rudel zusammen. Keine Wölfe, Schafe eher von der ängstlichen Art. Die Flachdächer der Wohnblocks sind noch am mutigsten. Sonst lauter Verzagtheit unter den kleinen spitzen Giebeln.
Nach Fanny und Herta sind auch die beiden Sturmtiefs, deren Namen man sich schon nicht mehr gemerkt hat, grollend übers Land gefahren. Und als wär er ein Neufundländer, bellt ein junger Mann am Radio seine selbstverfasste Morgen­lyrik ins Mikrofon hinein. Thaler stellt ihn ab und greift nach seiner Mappe. Der zerfledderte Störig, die „Kleine Weltgeschichte der Philosophie“, bleibt auf dem Tisch liegen.
Als Thaler ins Freie tritt, gibt er sich unter der Tür einen Ruck. Die Kinder rundherum sind längst eingetan in Horte und Schulen. Oder sie haben bereits eine Lehrstelle, um zu werden wie wir. Als unverbesserlicher Hoffnungsträger kreist einzig der Postbote mit seiner Makulatur durch den regenfeuchten Ort.
Im Sommer sind die drei Gebäude der Groß­garage frisch verputzt worden. Und eine Neonsäule mit Symbol und Namen der altbekannten Automarke steht seither am Straßenrand, um die Region mit noch mehr Nachdruck auf ihren allzeit bereiten Motorenkönig aufmerksam zu machen. Gratis und digital werden den Vorüberfahrenden Lufttemperatur und genaue Zeit auf ihren Weg mitgegeben. – Vor der Tankstelle richtet der Pöstler täglich seine Uhr, sein Nullmeridian liegt zwischen Bleifrei und Diesel.
Mitte September sind wenige Meter unterhalb der Garage zwei Autos aufeinander ge­prallt. Der eine der beiden Fahrer ist mit ein paar Verletzungen davongekommen, der andere ist noch auf der Unfallstelle verschieden. Seither erinnern stets frische Blumen am Straßenbord an den schnellen, unsinnigen Tod des Mannes. Besonders an Nebeltagen gemahnt die traurige Markierung Thaler immer auch an den Süden, wo diese Art wilder Gedenkstätten schon seit langem gebräuchlich und das Licht heller ist als bei uns.
Neben der Tankstelle macht ein Knabe bei den Blumen Halt. Er trägt einen feldgrünen Militärmantel, hängt den Sturzhelm an die Lenkstange seines Mopeds. Der hochgeschossene Jüngling steht unschlüssig und verlegen am Straßenrand – oder als habe er etwas Ungehöriges im Sinn. Aus den Augenwinkeln schaut er den schnellen Wagen und Motorrädern nach, die schon kurz vor der Außerortstafel beschleunigen und röhrend an ihm vorbeischießen. In den nahen Schaufenstern verdämmern die immer gleichen Möbel­stücke.
Als der Knabe seinen Blick wieder von der Fahrbahn löst und sich der Stelle überm Bordstein zuwendet, um seines toten Vaters zu gedenken, ins Gras zu schauen, die Lider einen Augenblick lang zu schließen, leuchten am Ärmel seines ausrangierten Militärmantels die goldenen Rangabzeichen eines Wachtmeisters auf. Auf seinem täglichen Schulweg hat Thaler den Knaben schon dreimal gekreuzt.
Thaler geht an diesem Tag nicht in die Schule, er ist unterwegs zum Internisten. Aber vorher will er noch einmal eine Rauchwurst essen in der Gartenwirtschaft, denn die Sonne drückt durch. Von seinem Tisch aus, Messer und Gabel sind schon aufgetragen, fällt sein Blick auf das alte Steinkreuz am Straßenrand: Jesus fehlt. Nur seine Hände, Füße und sein nacktes Herz stoßen reliefartig aus dem gemauerten Kreuzgebälk hervor. Folter- und Kreuzigungswerkzeuge, säuberlich aufgereiht, bieten zusätzliche Vorstellungshilfe für den Guten Glauben. Thaler beißt ins Brot.
Zwischen „Kreuz“ und dem Kreuz am Brunnen machen Ross und Reiter Halt. Das Tier säuft fast den Trog leer, ein kleines Mädchen lässt sich in den Sattel heben, der Reiter holt am Schanktisch Bier. Ein Cabriolet kurvt um den Gartenzaun, Fahrer und Mitfahrerin nehmen die kurze Aufhellung ernst. Aus ihren Boxen dröhnen die Bässe.
Er muss den scharfen Senf beschwören, damit es ihm die Wurst zerreißt. In einer der vergangenen Nächte hat man in Thalers Bauch ein Nashorn deponiert, aus Stein. Und schon trägt er einen Becher in der Hand fürs Wasser. Das Blut fließt warm, der Arzt ist freundlich. Auf Segantinis Bildchen über der Liege bleibt es Winter. – Hinter der Fensterfront des Nachbarhauses liegt eingeklemmt ein junger Mann in einer Kraftmaschine und stemmt Gewichte. Auch Thaler macht den Oberkörper frei. Zwischen den Apparaten wartet er aufs Röntgen: „Wozu ein Lendenschurz? Den Hirnhelm, bitte!“
Zum Schluss der zweiten Novemberwoche züngelt das Licht dann noch einmal hell und gnadenlos unter die schwer gewordenen Augendeckel hinein, schießt ins Hirn, fällt Thaler warm in den Rücken, zieht an den Zehen.
Seit Tagen schon liegt ihm auch die Zunge, deren grüner Belag einen chinesischen Heiler dazu bewogen hat, nach der häufigsten Todes­ursache in seiner Verwandtschaft zu fragen, wie ein totes Tier im Rachen. – Was soll er sagen dazu? Wenn er den Mund auftut, möchte er am liebsten erbrechen. Und er ist wieder mit dem Wort „Neuntöter“ im Kopf unterwegs gewesen, durch keine lustige Nacht: Ab drei Uhr in der Frühe hält ihn meist ein Albtraum in Schach. Thaler windet sich, wirft sich vom Bauch auf den Rücken, vom Rücken auf den Bauch, sieht sich mit einer Banane in der Hand nackt in einen Affenkäfig gesperrt, die Schülerschaft steht vor den Gittern und lacht. Thaler erwacht mit brandheißem Kopf aus dem ätzenden Dämmer, sein Rücken ist schweißnass.
Honig, drei Zitronen als Wegzehrung sind am Morgen schnell in den Rucksack gepackt und los gehts, Wasser gibts überall in den Bergen. Thaler setzt sich noch kurz ans Schreibpult, druckt seinen Text aus, an dem er schon so lange herum­laboriert, zieht das Manuskript aus dem Drucker und legt es zu den Zitronen.
Nachdem man Mutter in den Sterbetrakt verlegt hatte, besuchte ich sie noch zweimal. Am späten Nachmittag und am frühen Abend. Dazwischen ging das Gewitter nieder, das die Schachtdeckel anhob und die Bäume entwurzelte.
Die schmale Frau war, noch nicht sechzig Jahre alt, nach einer geringfügigen Operation nicht mehr auf die Beine gekommen. Und da sie die Nahrungsaufnahme konsequent verweigerte, war sie künstlich ernährt und während Wochen dauernd überwacht worden. Die Ärzte fanden aber, außer dem Fehlen des Lebensmutes, keine weiteren Anhaltspunkte für den stetigen Niedergang, die Operationswunden waren schon seit geraumer Zeit verheilt.
Als Thaler durch die Haustür auf den Plattenweg hinaustritt in seinen hohen Schuhen, witternd und noch schmaler geworden durch die selbst auferlegte Diät, stehen seine Kinder mit ihren Spielgefährten schweigend Spalier. Die Nachbarin wendet sich dem Oleander zu, ruft nach der Katze. Ein Langstreckenjet misst mit Gedröhn den tiefblauen Himmel aus, ist schnell wieder verschwunden hinterm Finsterwald.
Ein Heizöllieferant fährt vor, der Chauffeur des grün-gelben Lastwagens bremst kurz ab und fragt den Briefträger nach dem Tankraum der eben fertiggestellten Reihenhäuser. Der Pöstler weist ihn mit ein paar Handzeichen ein. – Wenn noch am Samstag Heizöl geliefert wird, ist der Winter bald da. Der Pöstler überprüft am linken Handgelenk Datum und Zeit.
Am Eintracht-Fenster sitzt wie immer der reformierte Pfarrer und schaut in seine verlorene Gemeinde hinaus. Sein Sprengel ist, um Kosten zu sparen, durch einen Beschluss der Kirchenobrigkeit vor Jahresfrist dem benachbarten Pfarrkreis mit seinem fanatischen „Gegenreformator“ zugeschlagen worden. Seither hält der hiesige Pfarrer keine Predigten mehr. Wenn er etwas sagt, bestellt er nach. Amen.
Jeden Tag könnte sich Thaler ein Zelt kaufen. Eine Mischung aus Festhütte, Iglu und Ritterburg. Für Firmenanlässe, Geburtstags­feste, Grillpartys. Gegen Regen und Schnee. Sommers und winters steht der Leichtbau am Straßenrand, bietet sich den Vorüberziehenden auch schriftlich an und erinnert Thaler stets daran, dass er nicht besonders unternehmungslustig und leutselig ist.
Wahrscheinlich wäre er aber schon längst festreif und mietwillig geworden, hätte das Zelt nicht seit Jahren auch noch zu anderen, wechselnden Angeboten am Fahrbahnrand in Konkurrenz zu treten: Zum Käse des Monats. Zum Nein der Schweizerischen Volkspartei. Zu den günstigen „Auslauf“-Möbeln. Thaler stellt sich die Tische und Stühle flüssig vor: eine nussbäumige Pfütze für die Wohnküche, das eichenfurnierte Weiherchen im Schlafzimmer, unterm Gummibaum eine Chaiselongue, die sich in der Ferne verliert.
Leichter Regen ist angesagt auf den Abend, die Landwirte führen ihre Jauche ins Feld, der Wintersaat sträubt sich das zarte Fell. Thalers Vater hätte heute Geburtstag. „Waschen, trocknen. Abdampfen inbegriffen“, liest Thaler über der Waschstraße. „Alles ist Gugelhopf“, heißt die aktuelle Losung des Bäckers. Ihm glaubt er, bei ihm kauft er sein Brot, seine Rosinen sind ihm am liebsten. Und er lügt nie, auch wenn er noch bis gestern behauptet hat, er sei ein Berliner.
Auf der Brücke, die Thaler zügig überquert, ist am Vortag eine befreundete junge Frau von einem abstürzenden Schwan getroffen worden. Sie wurde gegen das Brückengeländer geworfen, blieb jedoch unverletzt. Der Schwan, ein dreijähriges Tier, verendete auf der...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Zitat
  3. Start
  4. Nachwort
  5. Klaus Merz
  6. Zum Autor
  7. Impressum
  8. Weitere E-Books aus dem Haymon Verlag