Rosenquarz
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Rosenquarz

Erzählungen

  1. 128 Seiten
  2. German
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Rosenquarz

Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Eine flüchtige Affäre mit Amir, einem iranischen Geschäftsmann, ruft in Paula schmerzhafte Erinnerungen wach: Jahre zuvor, während ihres Studiums in Kalifornien, war der Campus-Kollege, den alle den "Schah" nannten, ein schöner, undurchschaubarer Mann aus einer Kultur, die ihr völlig fremd blieb, nach einem gemeinsamen Mittagessen über sie hergefallen, hatte sie vergewaltigt, hatte sie gedemütigt, seine Spuren auf ihrem Körper, in ihrer Haut hinterlassen. Vieles, was sie damals am "Schah" fasziniert hatte, findet sie nun in Amir wieder, und lange Zeit weiß sie nicht, was sie in Amir sehen soll - den Wiedergänger ihres Peinigers oder sein sanftes Gegenstück. Amir und Paula, Rupert und die rothaarige Frau, mit der er im Pool schwimmt, die unbeholfene Frau in der Buchhandlung oder der Mann im Bus - von ihnen schreibt Anne Marie Pircher in ruhigen Bildern und mit leisen Klängen. Nicht auf der Suche nach spektakulären Höhepunkten, sondern den Blick auf die schlichten Details gerichtet, begleitet Pircher sie, wandert mit ihnen an der Gratschneide entlang, die den Alltag vom Phantastischen und Surrealen trennt, und erzählt ihre Geschichten, in denen immer wieder die Magie aufblitzt, die sich in der Realität versteckt.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783709935460
Unter einem fremden Himmel
Schatten Rosen
Schatten
auf einer fremden Erde
zwischen Rosen und Schatten
in einem fremden Wasser
mein Schatten
Ingeborg Bachmann

Rosenquarz

1.

Die Gemüsefrau dreht ihr Gesicht ein wenig verlegen zur Seite. Ihre schmutzigen Finger liegen auf der gelben Tragetasche, aus der oben der Maikönig herauslugt. Paula treibt es kleine Schweißtröpfchen auf die Stirn. Unter dem Maikönig liegen noch eine Ananas, ein Kilo Orangen, zwei Gurken und ein Bund Karotten. Sechs Euro zwanzig zusammen. Es ist Paula etwas peinlich, für einen derlei geringen Betrag die Bankomatkarte vorlegen zu müssen. Doch erst als die Gemüsefrau bedauert, sie hätte keinen dazugehörigen Apparat, wird die Situation wirklich unangenehm. Noch ehe sich Paula aber auf den Weg machen kann, das Geld außerhalb des Geschäfts an einem Automaten zu beheben, legt eine braune, schöne Männerhand einen 10-Euro-Schein auf die Theke. Paula sieht zur Seite und dort einen hochgewachsenen, etwas dunkelhäutigen Mann um die vierzig. Eine leichte Röte steigt in ihr Gesicht. Die Gemüsefrau schaut zuerst ein wenig verdutzt, nimmt aber nach kurzem Zögern die Banknote und legt sie in die bereits geöffnete Kasse. Paula lächelt beschämt, stammelt schnell, dass sie doch zu einem Automaten laufen könne und das nicht nötig sei. That’s okay, no problem! entgegnet ihr der Mann ganz unerwartet auf Englisch, macht dabei eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Für einen kurzen Augenblick steht Paula ohne Worte, überrascht von der englischen Sprache. Die Gemüsefrau hält das Restgeld ungeduldig in ihrer Hand über der Theke, unsicher, wem es denn nun zustehe. Der Mann macht keine Bewegung, das Geld zu nehmen, sodass Paula ihre gewölbte Hand hinhalten muss, um es aufzufangen. Als sie sich damit zu dem Unbekannten dreht, wehrt der wieder mit einer Geste ab: That’s okay, sagt er noch einmal, so als sei es da, wo er herkommt, ganz selbstverständlich, jemandem einen 10-Euro-Schein zu schenken. Gezwungenermaßen steckt sie sein Restgeld in ihr leeres Portemonnaie und sagt dabei etwas kleinlaut: Thank you. Einen Moment lang denkt sie an eine plumpe Anmache, aber der Mann scheint nicht an ihr interessiert zu sein, denn er wendet sich sofort, nachdem er jetzt an der Reihe ist, der Gemüsefrau zu. Paula will noch etwas sagen, überlegt aber, wie lange es wohl her ist, dass sie mit jemandem Englisch gesprochen hat, und schweigt. Sie überlegt, ob sie sofort zum nächsten Bankomaten laufen soll, um dem Mann eine glänzende 10-Euro-Banknote zurückzubringen. Dann fällt ihr ein, dass er in der Zwischenzeit nicht mehr hier sein könnte, und sie beschließt, auf ihn zu warten. Mit einer Schuld will sie das Geschäft nicht verlassen. Ohne jede Eile zitiert der Mann mit seinem schlanken Zeigefinger die Gemüsefrau zu einigen der Körbe, die in einer Reihe hinter ihr stehen. Mit ein paar englischen Ausdrücken, die die Gemüsefrau erraten muss, ordert er Kiwis, Orangen, Bananen und Avocados in die leuchtend gelbe Tasche. Eine Weile überlegt er noch, entscheidet sich dann zusätzlich für eine Mischung von Nüssen, nachdem er sie sorgfältig begutachtet und eine davon getestet hat. Er trägt einen dunkelgrünen Trenchcoat, unter dem Paula eine stattliche Figur ausmacht. Um seinen Hals wölbt sich ein rubinroter Schal, der einen aufregenden Kontrast zu seinem dunklen Haar ergibt. Sein Profil ist zweifelsohne südländisch, wenn nicht gar orientalisch. Paula schwindelt ein wenig bei seinem Anblick. Ein leichtes Ziehen geht durch ihren Körper, das sie weder deuten kann noch will. Sie hasst solche Situationen, die ihren Tagesablauf in Unordnung bringen. Vor allem ärgert sie sich, dass sie nicht im Stande ist, die Freundlichkeit des Mannes einfach anzunehmen und dankbar das Geschäft zu verlassen. Zehn Euro sind nicht die Welt. Der Mann sieht nicht bedürftig aus, im Gegenteil, eher wohlhabend. Zu neunzig Prozent kommen bundesdeutsche Touristen in diese Gegend, im Sommer auch die Italiener. Was diesen Mann in eine Provinz wie diese verschlagen hat, ist Paula einerlei. Sie beißt sich ungeduldig auf die Lippen und hofft, bald dieser Situation zu entkommen, ohne sich in irgendein Gespräch verwickeln zu lassen. Als der Mann endlich abgewogen und bezahlt hat, dreht er sich zur Tür. Wie er Paula da noch stehen sieht, liegt ein Ausdruck auf seinem Gesicht, als wundere er sich darüber. Er streift sie jedoch nur mit einem freundlichen Blick und tritt rasch vor ihr auf die belebte Geschäftsstraße, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen. Noch bevor sie ein Wort hervorbringt, geht er mit zielsicheren Schritten Richtung Innenstadt. Paula steht eine kurze Weile perplex. Wie kann dieser fremde Mann, dem sie zehn Euro schuldet, sie einfach so, ohne Wiedergutmachung zurücklassen! Spätestens jetzt könnte sie es bleiben lassen. Seine freundliche Geste war also wirklich frei von Hintergedanken. Einen Moment lang scheint sie diese Tatsache sogar zu bedauern. Das Ziehen in ihrem Körper wird stärker. Es geht vom Unterleib aus und verläuft quer durch ihren Bauch bis hin zur rechten Brust. Beinahe ist der Mann schon in der Menschenmasse verschwunden, nur das Gelb seiner Tasche hebt ihn noch wie ein Leuchtstift aus dem Getümmel hervor. Paula spürt eine Art Panik, dass er ihr verlorengehen könnte. Die gelbe Gemüsetasche in ihrer rechten Hand wirkt plötzlich wie ein Sog und zieht sie der seinen hinterher. Einen Moment lang hat sie dieses Bild im Kopf: dass diese beiden leuchtenden Gemüsetaschen zusammen gehen müssen. Dass es ein Zeichen, ein Omen oder dergleichen ist, dass in diesem Moment nur sie beide mit auffallend grellen Gemüsetaschen hier unterwegs sind. Die eine Gemüsetasche schuldet der anderen etwas. Und vielleicht liegt vor dieser Schuld noch eine andere Schuld und dann noch eine und so weiter. Paula greift sich im Gehen an den Kopf. Wie kommt sie dazu, derlei Unsinn zu denken. Aber schon beschleunigen ihre Füße das Tempo. Mit raschen Schritten folgt sie dem gelben Cursor des Mannes durch die belebte Romstraße, rennt schließlich und kommt dabei leicht außer Atem. Das Ziehen in ihrem Körper wird jetzt zu einem Schmerz. Eine Stimme in ihr befiehlt, dass sie umkehren soll. Aber ihr Körper ist schon eine eigene Instanz, die nach anderen Gesetzen und Regeln funktioniert. Ihr Herz schlägt so laut, dass der Straßenlärm nur noch wie ein undefinierbares Brummen aus einer anderen Welt zu ihr durchdringt. Sie hat das Gefühl, jeden Moment wegkippen zu können. Ihr ganzer Körper ist getrieben von dem Drang, die gelbe Tasche und den dazugehörigen Mann einzuholen. Atemlos erreicht sie mit ein paar letzten kraftvollen Schritten, die sie am Ende drosselt, ihr Ziel. Sie zieht ihr blaues Portemonnaie aus der Handtasche, die ihr von der Schulter geglitten ist. Excuse me, stammelt sie atemlos, versucht ohne großen Erfolg, ihre Aufregung im Zaum zu halten. Schnell hält sie ihm ihre Visitenkarte vor sein Gesicht, das er jetzt überrascht zu ihr hingedreht hat. Als er sie wieder erkennt, lächelt er etwas gequält über ihre Hartnäckigkeit, nimmt aber die Karte und wirft einen schnellen Blick darauf. At least, sagt Paula schnell, noch bevor er etwas sagen kann, let me cut your hair, und fügt, weil seine Augen so fassungslos blicken, etwas beschämt hinzu: if you need to … Noch ehe der Mann auf diese außergewöhnliche Einladung zu antworten weiß, überquert Paula mit erleichterten Schritten die Straße und verschwindet unter seinem Blick im Nichts dieser kleinen, bezaubernden Provinzstadt.

2.

Paula schiebt die Vorhänge zurück und kneift die Augen zusammen. Es ist Anfang März, ein Samstag. Am Abend zuvor hat es am Ende dieses kalten Winters noch einmal zu schneien begonnen. Eine noch zaghafte, aber grelle Frühlingssonne taucht jetzt die schneebedeckten Gehsteige und Gärten ihres Stadtviertels in ein blendend weißes Licht. Müde haucht sie ihren Atem gegen das Glas. Es wird ein aufreibender Tag im Salon werden. Drei Dauerwellen und einige Haarfärbungen. Außerdem ein halbes Dutzend Haarschnitte, dazwischen Waschen, Föhnen, Aufräumen und zu alledem freundlich sein. Dem Schnee zu entfliehen, denkt Paula und setzt Wasser auf. Im Radio singt irgendein freundlicher Mann: … ja, ich würd es immer wieder tun … Der Teekessel pfeift und dampft aus allen Öffnungen, während Paula sich an den Traum zu erinnern versucht. Doch da ist nur noch das Grab, aus dem sie auferstanden ist. Und die Mühsal, die sie empfindet. Der Tee stößt heiße Dampfwolken in die Wohnung. Es riecht nach Baumrinden und Rosenblättern. Sie steigt unter die Dusche und wirft sich mit offenen Händen eiskaltes Wasser ins Gesicht. Dann wäscht sie sich die letzten Reste der Nacht von ihrem Körper. Mit fünfzehn hat sie damals kaltes Wasser für sich entdeckt. Irene, ihre abenteuerlustige Schulfreundin, war mit der Wette einverstanden. Am See ist sie daraufhin an einer kleinen, versteckten Bucht zwischen hohen Fichten, völlig unbekleidet, in das kalte, grün-trübe Wasser gestiegen. Irene hat ihr vom Ufer aus zugesehen und ihre Verrücktheit mit lauten Rufen begleitet. Es war Anfang Mai und das Wasser in diesem See, der im Sommer zum Baden einlädt, noch kalt genug, um sich eine teuflische Erkältung zu holen. Paula aber ist schnell und mit kräftigen Bewegungen geschwommen. Bald schon ist die beißende Kälte in ein hartes, aber warmes Gefühl übergegangen, das sich wie ein Schutzmantel um ihren Körper gelegt hat. Diese Mutprobe hat ihren wackeligen fünfzehn Jahren eine Art Halt gegeben. Gegen die Vergangenheit und die Gegenwart. Vor allem aber gegen die Zukunft, die damals so unüberschaubar vor ihr lag und sich oft genug wie ein großer, schwerer Berg vor ihr auftürmte. Ihr Wille allein hat genügt, das Wasser und die Kälte zu bezwingen, und sie spürte so etwas wie Macht über sich und Irene und die Welt überhaupt. Wann immer sich seitdem die Möglichkeit ergab, stieg Paula in irgendwelche Gewässer, die kalt genug aussahen, um sie erneut zur Siegerin machen zu können. Vor allem aber begann sie, sich beinahe täglich kalt zu waschen. Eine Art Selbstprüfung, die sie sich auferlegte. Als sie jetzt aus der Dusche steigt, spürt sie erneut das prickelnd harte Gefühl, das ihren Körper wie eine zweite Haut umgibt. Aus dem Radio singt nun ein anderer freundlicher Mann: … alle Rosen dieser Welt …, aber noch bevor er weiter singen kann, schneidet Paula ihm mit einem schnellen Druck auf die Off-Taste das Wort ab. Erneut spürt sie jenes Ziehen in ihrem Körper, das ihr gestern bei der Verfolgung des unbekannten Mannes zum Schmerz geworden ist. Sie erinnert sich an die dumme und so ganz und gar beklemmende Episode und wünscht sich schon hundert Tage weiter, wenn das Ereignis nur noch als schwacher Nebel ab und zu in ihr hochkäme. Wie hat sie einem wildfremden Mann ein derartiges Angebot machen können! Dabei erinnert sie sich jedoch auch an die sogartige Wirkung des Augenblicks und daran, wie sich ihr Körper entgegen ihres sonst so klaren Verstandes nicht erwehren konnte, dem Mann zu folgen. Sie nimmt einen Schluck Tee und isst ein großes Stück Brot mit Butter und Honig. Dann versucht sie, den gestrigen Tag mit einer langen Dehnung ihres Körpers fortzuscheuchen wie eine unangenehme, lästige Aufgabe, zu der sie sich verpflichtet hat, die sie jetzt aber, im Licht des neuen Tages, nicht mehr wahrnehmen will. Das etwas gequält wirkende Lächeln des Mannes beim Entgegennehmen ihrer Visitenkarte und das Staunen in seinen dunklen Augen beflügeln ihr Hoffen, dass er die Karte in den nächsten Müllcontainer geworfen und sie, Paula, längst vergessen hat. Warum sollte er sich ausgerechnet von ihr die Haare schneiden lassen? Nur weil sie zufällig in einem Gemüseladen keinen Euro in der Tasche hatte und genauso zufällig er daneben stand und ihr freundlicherweise aus der unglückseligen Situation half? Sie steht auf, geht ins Badezimmer und schminkt mit schnellen, eingeübten Fingern ihr dreiunddreißigjähriges Gesicht. Ihr schwarzes, schulterlanges Haar bindet sie zu einem Knoten. Dann schlüpft sie in Jeans und einen schwarzen Pullover, reißt Jacke und Schal von der Garderobe und flüchtet aus der Enge ihrer Wohnung in die kalte Morgenluft. Aus der Garage holt sie das Fahrrad und schiebt es bis zur Einfahrt. Die Straße ist von einem leichten schmutzig-weißen Flaum überzogen. Der Frühverkehr hat zwei parallel laufende Spuren darin zu einer matschigen Soße verarbeitet. Bis zum Mittag, denkt Paula, wird die Sonne wohl auch die letzten Schneereste aufgeleckt haben. Dann schwingt sie sich aufs Rad und lenkt es in eine der glitschig nassen Spuren. Dabei hat sie anfangs Mühe, ihr Gleichgewicht zu finden, aber bald schon tritt sie fest in die Pedale und fährt, den kalten Fahrtwind im Gesicht, einem neuen Arbeitstag entgegen. Don’t worry … be happy, singt sie dabei, um gegen das schleichend bedrückende Gefühl des Morgens anzukämpfen. Gierig nimmt sie den neuen Tag in seiner ganzen Frische in sich auf. Und schon nach zwei, drei Minuten liegt die Bedrückung dort, wo sie jetzt hingehört: in der untersten Schublade ihrer Wahrnehmung, weit unter dem noch harten, von der Frühlingssonne aber schon geküssten Boden.

3.

Je suis en retard, denkt Paula mit einem Blick auf die Uhr. Das Französische hat keine wirkliche Bedeutung mehr. Aber immer noch denkt Paula manche Sätze auf Französisch. Einfache, leicht konstruierbare Sätze. Einmal hat sie ein Mann an einem heißen Julinachmittag unter den Lauben angesprochen. Sie trug ein ärmelloses Kleid über dem sonnengebräunten Körper und einen wunderbar femininen leichten Strohhut auf ihrem Kopf. Der Mann schritt geradewegs auf sie zu und fragte sie ganz aufgeregt, ob sie Französin sei. Er war Italiener und Tourist in dieser von Gästen überlaufenen Provinz. Paula errötete ein wenig und sagte dann auf Italienisch, ihrer Staatssprache, dass sie Einheimische sei. Lei mi piace da morire, sagte der Mann mit einem tiefen Ernst und hielt wie im Gebet die Hände vor sein Kinn. Wie immer wusste Paula auf eine solche Anmache nichts zu antworten. Lange Zeit hat sie den Strohhut dann nicht mehr getragen. Seltsamerweise kam ihr danach beim Anblick des Hutes immer der Gedanke des Verrats. Aber die französischen Sätze, wie auch die englischen, vermochte sie nicht abzulegen. Sie sind seit ihrer Jugendzeit, seit dem Sommer in Angers und dem halben Jahr in Kalifornien, zur Gewohnheit geworden. Einige gedachte Sätze am Tag in einer anderen Sprache. Das ist für sie so etwas wie eine Zeitung aufzuschlagen, das Radio anzumachen oder sich aus dem Kühlschrank etwas zu trinken zu holen.
Frau Zanetti wartet schon mit trippelnden Füßen vor dem Salon. Es hat entgegen aller Voraussicht wieder leicht zu schneien begonnen und Paula muss das Fahrrad die letzten Meter schieben. Guten Morgen! ruft die Kundin schon von Weitem. Kaum betreten die beiden Frauen den Salon, beginnt Frau Zanetti, eine Apothekerin, wie ein Sturzbach zu erzählen. Diesmal geht es um alle Details ihres letzten Urlaubs. Während Paula noch ihre Jacke ablegt, erzählt sie vom stürmischen Anflug auf die Kapverdische Hauptinsel Santiago, gerade so, als hätte sie ein gefährliches Abenteuer um Haaresbreite noch einmal überlebt. Dann schwärmt sie mit rollenden Augen von weiten, unberührten Stränden und meterhohen Wellen, von der Schönheit der Landschaft im Inselinneren und den bunt gekleideten Frauen auf den Märkten. Aber die Kinder, seufzt sie, als sei sie persönlich verantwortlich für diesen Flecken Erde, diese Armut, da müsste etwas getan werden! Paulas Bewegungen indes gleichen jenem zielgerichteten Tun eines Arbeiters in einem Kontrollraum irgendeines Sicherheitssystems: Sie zieht die Rollos hoch, schaltet die Lichter ein, entsichert die Kasse und bringt die Espressomaschine in Gang. Dann hört sie den Anrufbeantworter ab, was Frau Zanetti in ihrem Geplauder nicht im Geringsten zu stören scheint. Zwischendurch spielt Paula der Frau mechanisch einige rhetorische Fragen zu, um ihren Redefluss aufzufangen. Und noch bevor sie ihr einen schwarz-weiß gestreiften Kittel umgeworfen und ihren Kopf mit sanftem Druck in die Ausbuchtung des Waschbeckens gelegt hat, weiß Paula mehr über die Kapverdischen Inseln, als sie in einem Reiseführer jemals zu lesen bekäme. Sie blickt durch die Frontscheibe ihres Geschäfts, während sie mit kreisenden Bewegungen das blonde, mittellange Haar der Frau unter einer Schaumwolke begräbt. Draußen beobachtet sie die tanzenden Schneeflocken, die jetzt immer dichter werden. Viele Jahre hat es im März nicht mehr so geschneit und Paula denkt an den letzten Sommer, der heiß gewesen ist, und dann an den vorletzten, dessen Hitze alle Rekorde gebrochen hat. Sie mag den Winter nicht besonders und wartet immer ungeduldig auf sein Ende, mit dem sie jedes Jahr aus einer Art Halbschlaf steigt. Ihre Augen erhalten dann immer jenen neugierigen Glanz zurück, der sie als Kind geprägt hat. Im Tanzen der Schneeflocken versucht Paula einen Zauber auszumachen, der der Realität des überraschend zurückgekehrten Winters seine Härte nehmen und das Reisegeschwätz der Frau unter ihren Händen überdecken würde. Eigenartigerweise erliegt sie dabei einem Bild, das irgendwo weit aus der Erinnerung auftaucht und sich ohne jede Vorwarnung vor den von ihr gewünschten Zauber stellt. Es ist das Bild einer sehr jungen tanzenden Frau in einem roten Kleid. Das unheilvolle Ziehen im Unterleib kehrt mit einem Mal zurück und erinnert Paula wieder an die gestrige Begegnung mit dem unbekannten Mann im Gemüseladen. Rasch wendet sie ihren Blick vom Fenster in das Innere des Salons und damit dem Augenblick zu. Mit eingeübter Hand schlingt sie ein Handtuch um Frau Zanettis Kopf zu einem Turban und führt sie zu dem mittleren der drei Ledersessel vor dem großen Spiegel. Wie ein schützender Engel steht Paula hinter der Frau, die ohne Haare im scharfen Licht der Halogenlampen Mitleid erregend aussieht. Kaffee oder Tee?, fragt sie mit dem üblichen freundlichen Ton. Die Apothekerin hat sich mittlerweile ein wenig eingebremst und konzentriert sich auf ihr Spiegelbild. Nervös streicht sie mit den Fingern ihre Augenbrauen hoch und lächelt dabei etwas gekränkt, so als sei jemand anderer schuld daran, dass sie im Augenblick so unvorteilhaft aussieht. Aus ihrer Handtasche unter dem Sessel zieht sie einen Lippenstift, mit dem sie sich schnell über den Mund fährt. Dann reibt sie energisch die Lippen aneinander, um die Farbe gleichmäßig darauf zu verteilen, und lächelt ihrer Friseuse im Spiegel zu, als wolle sie sich deren Solidarität versichern. Paula löst das Handtuch und zupft die platten, nassen Haare der Frau auseinander. Nach kurzer Absprache nimmt sie ihr Werkzeug, Kamm und Schere, und beginnt mit schnellen Bewegungen, das Haar der Apothekerin von seinen Spitzen zu befreien. In diesem Tun ist sie durch nichts mehr zu beirren. Wie ein Wirbelwind zieht sie einmal hier, einmal dort die feuchten Haarsträhnen nach oben und schneidet mit sicherer Hand über den Kamm. Einmal in Fahrt, zeigt sie sich als eine Virtuosin ihrer Zunft, der die Kunden im Spiegel nur noch mit angehaltenem Atem zusehen können. Auch Frau Zanetti wird unter Paulas quirligen Händen für eine Weile ganz still. In ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck des Gefühls, einer höheren Macht zu unterliegen. Einer Macht, die sie auf teuflische Weise in ein anderes Wesen verwandeln könnte, wenn sie nur wollte. Ein wahrer Zorn liegt in Paulas Tun und alle, die sich das erste Mal von ihr die Haare schneiden lassen, sitzen anfangs stocksteif in den Sesseln. Am Ende aber, wenn ihnen aus dem Spiegel das Ergebnis entgegensieht, lächeln sie zufrieden und kommen wieder. Frau Zanetti weiß bereits um diesen Augenblick und atmet bald schon wieder entspannt. Erneut beginnt sie, über ferne Ufer, raue Winde und melancholische Lieder zu erzählen. In Tat und Wort sind die beiden Frauen nun einander ausgeliefert und ergeben zusammen das Bild eines mit größter Leidenschaft ausgetragenen Kampfes.

4.

Kurz nach zwölf geht Paula in das um die Straßenecke gelegene Bistro, um dort eine Kleinigkeit zu Mittag zu essen. Samstags hält sie ihren Salon von acht bis sechzehn Uhr geöffnet, nur mit einer halbstündigen Mittagspause bis halb eins. Im Bistro ist wie jeden Samstagmittag nicht viel los. Paula setzt sich an einen kleinen Tisch am Fenster, von wo aus sie behaglich das Schneetreiben und den darin stockenden Verkehr beobachten kann. Sie ist ein wenig erschöpft vom Vormittag, der sie ganz mit Arbeit eingenommen hat, und bestellt eine Cola light, um sich wieder ein bisschen in Schwung zu bringen. Dazu einen großen Salat mit Putenstreifen und getoastetem Brot. Der Nachmittag wird ähnlich stressig verlaufen wie der Morgen. Sie denkt an das lange Wochenende, an dem sie viel schlafen und einfach nichts tun will. Roberto, der Besitzer des Lokals, klappert ein paar Minuten lang in dem kleinen Raum hinter der Theke herum. Kurz darauf bringt er schwungvoll das Bestellte und setzt sich mit einem Glas Mineralwasser an Paulas Tisch. Seine Schwester sei heute krank und also nicht im Dienst, was ihn ein wenig hilflos wirken lässt. Sogleich beginnt er aber zu scherzen, über das winterliche Wetter und die verrückt spielenden Temperaturen, die nur noch heiß oder kalt seien, kein Mittelmaß mehr kennen. Er spricht dabei von einem Theater, keiner wirklich ernstzunehmenden Tatsache, und spielt ironisch auf die in der Presse vielseitig diskutierte klimatische Apokalypse an. Sein Reden ist ein Gemisch aus Italienisch und Deutsch, das am Ende in den Dialekt übergeht und Paula das Gefühl gibt, er wolle es ihr in seinem Lokal so bequem wie möglich machen. Dann beginnt er, sichtlich erregter, über das neue Rauchverbotsgesetz zu höhnen. Er schimpft diese neuen Gesundheitsfanatiker, die dem Menschen den letzten Rest von Genuss durch lächerliche Gesetze zu vergraulen verstünden, maledetti bastardi. Wenn er flucht, tut er das immer auf Italienisch, seiner Vatersprache. Paula schmunzelt ein wenig über seine von ausholenden Gebärden begleiteten Sätze, hat aber keine Lust, auf eines der Themen einzugehen. Sie kennt Roberto seit Jahren und hat oft genug hitzige Diskussionen mit ihm geführt, die ihre lockere Freundschaft zwar irgendwie zusammenhielten, am Ende aber nie wirklich fruchtbringend waren. Roberto gelingt es nur schwer, Zugeständnisse zu machen, auch wenn er von sich behauptet, ein über den Durchschnitt toleranter Mensch zu sein und sich Paulas Gegenargumente auch anhört. Am Ende eines Gesprächs mit ihm hat Paula aber immer das Gefühl, er habe sich nur zum Schein auf eine Diskussion eingelassen. In Wirklichkeit, glaubt sie, möchte er einfach permanent mit jemandem reden, um sich von seiner eigenen Existenz zu überzeugen. Unter seinen Worten, die jetzt zur aktuellen Politik übergehen, kaut sie an ihrem Salat und ist über...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Widmung
  6. Rosenquarz
  7. Mann im Bus
  8. Rot-schwarzer Ballon
  9. Louis
  10. Nachtwasser