Kopfüber an einem Baum
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Kopfüber an einem Baum

Erzählungen

  1. 136 Seiten
  2. German
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Kopfüber an einem Baum

Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Kopfüber an einem Baum versammelt Erzählungen von Anne Marie Pircher, geboren 1964, Kuens bei Meran. Es sind Geschichten aus dem Dorf und aus der Fremde, Geschichten aus einer Welt des Weiblichen, erzählt von einer Frau: schwebend zwischen Realität und Surrealem, zwischen Wahrheit und Mythos, in einer kraftvollen Sprache, die hart und weich sein kann, die Traurigkeit und Erotik, Melancholie und Leidenschaft ausstrahlt.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783709935699

Der Gorilla

Meine Tochter hat den Zug verpasst. Ich sitze meinem Mann im Eurostar gegenüber, der uns von Rom nach Bozen bringen soll, und schaue ihn verdutzt an. Soeben waren wir noch zu dritt gewesen. Der Zug pfeift aus dem Bahnhofsgelände. Ich bin außer mir und beuge mich aus dem Fenster. Ich sehe tausend Menschen aller Hautfarben: Weiße, Braune, Gelbe und sogar Rote. Sehe beinahe alle Menschenrassen auf einem Schlag. Aber meine Tochter kann ich nirgendwo erkennen. Sie ist untergegangen im Getümmel. Ich habe sie für einen Moment aus der Hand gegeben. Um meinem Mann irgendetwas zu erklären, wofür ich meine zweite Hand brauchte. Ich kann schlecht Erklärungen abgeben, ohne beide Hände zu benutzen. Und jetzt ist sie mir entglitten. Dabei ist Alma doch erst neun. Ich schreie ihren Namen aus dem wegrasenden Zug. Schreie in die gleißende Abendsonne, in die ewige Stadt, die meine Tochter verschluckt hat. Mein Mann sagt, beruhige dich, man wird sie uns wiederbringen. Sie ist neun und wird sich zu helfen wissen. Ich renne durch den Zug, von Abteil zu Abteil. Vielleicht ist sie doch noch eingestiegen und sucht uns jetzt. Ich hetze vorbei an den vielen Köpfen, die sich hinter Zeitungen oder in wichtigen Gesprächen verstecken. Mi dispiace, sagt ein Mann hinter seiner Brille, dem ich meine Tochter beschreibe, ma si rivolga al conduttore, signora. Der Schaffner ist ein kleiner Mann mit einer Kugel vor dem Bauch. Silenzio, sagt er, quì siamo in prima classe. Ich schiebe mich an seiner Kugel vorbei in die zweite Klasse. Draußen rasen die Pinien Richtung Süden. Es sind nicht mehr jene von Rom, wir sind schon weiter nördlich. Alma kann nicht allein im Süden bleiben. Im Speisewagen packe ich eine Kellnerin bei den Schultern: la mia bambina, rufe ich in ihr abwesendes Gesicht, ho perso la mia bambina! Meine Augen treten ganz weit hervor, um ihr den Ernst der Lage zu zeigen. Die Frau hat einen schwarzen Pferdeschwanz, der ihr das Gesicht freimacht. Aber sie spricht kein Italienisch, auch kein Englisch. Sie ist eine aus den ganz neuen Ländern und versteht nicht, warum ich sie angreife. Sie hat Angst, dass sie ihre Arbeit verliert, und bleibt mucksmäuschenstill. Sie ist gar keine Kellnerin, sie macht hinten den Abwasch und ist zufällig in den Speisewagen gekommen, um schmutzige Gläser abzuräumen. Sie hat keine Sprache und kann mir nichts zu meiner Tochter sagen. Die Notbremse, denke ich, jeder Zug hat doch eine Notbremse. Ich muss diese rasende Raupe aufhalten, die mich immer weiter weg bringt von Alma. Und schon renne ich zurück durch die schmalen Gänge und suche nach dem stählernen Arm mit der roten Kugel darunter. Ich lese in meiner Aufgebrachtheit das Wort emergenza und versuche, eines der Gesichter für meinen Ausnahmezustand zu gewinnen. Aber für all diese Menschen scheint der Zug eine Befreiung zu sein. Sie haben Rom hinter sich gelassen und werden in Florenz, Bologna oder Verona aussteigen. Manche werden wie ich bis nach Bozen fahren, um dort ihren Dingen nachzugehen. Niemand von ihnen scheint eine Tochter oder einen Sohn zu vermissen. Sie haben nichts verloren, sondern tragen alle ihre Schuhe, ihre Aktenkoffer, ihre kleinen Handtäschchen, in denen sie nach Gegenständen wühlen, nach Papiertaschentüchern, Lippenstiften, Kugelschreibern oder kleinen Lutschbonbons. Niemand würde meine Not verstehen, denn ihre Kinder warten schon in den Häusern und Wohnungen auf sie. Manche haben auch keine Kinder und andere haben sie mit auf die Reise genommen und sie nicht aus der Hand gelassen, nur, um irgendwelche Erklärungen abzugeben. So wie ich. Nein, ich kann die Handbremse nicht ziehen, man würde mich für verrückt erklären. Man würde sagen, diese Frau war nicht imstande, auf ihr Kind aufzupassen und also ist sie nicht erziehungsfähig, nicht würdig, ein Kind zu haben. Man sollte es ihr wegnehmen. Das arme Kind. Man sollte es beim Vater lassen, der in solchen Augenblicken ruhig bleibt. Der wie jeder zivilisierte Mensch weiß, dass dem Kind schon nichts passieren wird. Es gibt ja Menschen am Bahnhofsgelände. Beamte und Polizisten. Man würde es auf die Polizeistation bringen. Es kann ja schon ein bisschen italienisch. Was soll dem Kind passieren. Niemand würde eine Notbremsung für angemessen halten. Das wäre eine kleine Katastrophe für alle Reisenden in diesem Zug. Nicht auszudenken, welche Unannehmlichkeiten in ihr Leben treten würden. Sie würden zu spät kommen für die Dinge, die in den wichtigen Stationen, in den wichtigen Straßen und Gebäuden auf sie warteten. Allein der Schock, den eine solche Radikalbremsung auslösen würde. Ihre versteckten Gesichter müssten sich aus den Zeitungen und Gesprächen recken. Sie müssten sich auf einmal alle auf ein-und dasselbe Geschehen richten. Müssten sich in die Augen schauen und ihr gegenseitiges Staunen über solche Unannehmlichkeiten ertragen. Viele von ihnen, die in anderen Abteilen sitzen, würden gar nicht wissen, dass es sich um eine Notbremsung handelt. Sie würden nur den gewaltigen Ruck spüren und sofort an einen Zusammenstoß, eine Entgleisung oder dergleichen Schlimmes denken. Mit Leichtigkeit würden sie aufschreien, um den letzten Sekunden ihres Lebens doch noch einen Sinn zu geben. Viele würden sich an den Händen halten, die vorher in den Achselhöhlen vergraben waren. Würden aufspringen aus ihren übereinandergeschlagenen Beinen. Manche würden sich vielleicht aus einem Instinkt heraus noch schnell auf den Weg machen, einen Verantwortlichen zu suchen, einen, der die Situation unter Kontrolle hat. Und dann, wenn sie gemerkt hätten, dass sie noch lebten, dass der Zug nicht entgleist, sondern nur unvorbereitet angehalten worden war, dann würden sie sich beschweren über diese Verrückte. Wie ein Lauffeuer würde es sich ausbreiten, dass eine Verrückte im Zug sitzt, die ihr Kind in Rom zurückgelassen hat und jetzt Aufsehen erregen will. Und sie würden sich Geschichten über sie anhören und weitererzählen, von einem Ohr ins nächste würden sie die Irre transportieren. Denn der Stillstand in ihrem Leben müsste überbrückt werden mit vielen hastigen Sätzen. Wie sonst könnten sie es ertragen, mit einer solchen Frau im selben Zug zu reisen. Es hätte ja alles viel schlimmer ausgehen können. Die Frau hätte eine Waffe bei sich tragen und um sich schießen können. Das alles wussten sie schon aus ihren Zeitungen, in denen alles stand, was sie noch nicht wussten. Sie waren alle aufgeklärt mit ihren Handtäschchen und Aktenkoffern, mit ihren wichtigen Kugelschreibern und Lippenstiften. Der Zug würde eine lange Weile inmitten der toskanischen Hügel wie eine Riesenschlange liegen, auf die sich die Dämmerung legte. Panik würde sich in den Eingeweiden der Schlange breit machen. Eine stumme Angst vor der hereinbrechenden Nacht, die so nicht geplant war. Andauernd würden sich die Frauen und Männer und Kinder in der Schlange die Frage zuwerfen, wann denn die Reise endlich weitergehen würde. L’hanno già portata via? würden sie den conduttore fragen, der nervös hin- und herlaufen müsste, um die Menschen zu beruhigen. È tutto a posto, würde er sich auf die Stirn schreiben, um dem Eurostar nicht die Würde zu nehmen. Denn es ist ein schöner Zug. Mit bequemen großen Sesseln, die vor allem eines sind: sauber. Die Reisenden können sich bedenkenlos darin zurücklehnen, denn die weißen Kopfbezüge werden nach jeder Fahrt gewechselt. Er ist nicht ganz billig, der Zug, aber man fährt in fünf Stunden von Bozen nach Rom und umgekehrt und steigt am einen oder anderen Ende erholt aus. Jeder hat seinen reservierten Platz und es werden nur so viele Personen zusätzlich aufgenommen, als auch Plätze frei sind. Es steht also niemand im Gang herum und jeder Reisende bekommt ein Päckchen Erdnüsse und ein Getränk als Aufmerksamkeit. Durch einen Lautsprecher begrüßt der Lokführer die Gäste auf Italienisch, Deutsch, Englisch und Französisch. Denn der Zug fährt von Bozen aus auch noch weiter bis nach München und vielleicht darüber hinaus.
Ich aber bin mit dem Eurostar immer nur von Bozen nach Rom und zurück gefahren und kenne nur diese Strecke. Jetzt habe ich mich etwas beruhigt, weil mich die Gedanken an die Notbremse gezwungen haben, die Sache realistisch zu sehen und die damit verbundenen Folgen abzuschätzen. Ich werde zu meinem Mann zurückkehren, mich auf meinen reservierten Platz setzen und versuchen, eine Weile zu schlafen oder zumindest die Augen zu schließen. Als er mich sieht, nimmt er mich in den rechten Arm und deutet auf die schöne Landschaft draußen, die langsam in der Dämmerung verschwindet. Er vermisst unser Kind gar nicht. Alma ist auch so anders als er. Sie hängt an mir und ist in seiner Welt nicht so recht zu Hause. Sie gräbt gerne Schildkröten aus der Erde oder hängt sich kopfüber an einen Baum, um dort stundenlang zu verharren. Ich glaube, es gibt keine Seelenverwandtschaft zwischen meinem Mann und Alma. Er kennt sich in den praktischen Dingen aus, weiß, wie man das Leben anpackt, wie man sich ihm nähert und wieder entfernt. Sie aber liebt die Dinge unter der Oberfläche und bleibt dort tage- oder wochenlang. So kann es sein, dass sie sich oft über längere Zeit nicht sehen, mein Mann und meine Tochter. Ich bin dann das Bindeglied, das sie zusammenhält, damit sie sich nicht endgültig aus den Augen verlieren. Aber er ist es gewohnt, dass sie untertaucht in unregelmäßigen Abständen. Und auch, dass sie immer wieder über mich zu ihm zurückkehrt. Aber jetzt ist es anders. Jetzt habe ich sie verloren, und während der Zug in Richtung Norden fährt, streunt sie irgendwo im Süden in einer Riesenstadt durch eine anbrechende Nacht. In Florenz werde ich aussteigen, denke ich, und den nächsten Zug zurück nach Rom nehmen. Ich werde sie finden dort und nicht mehr aus der Hand lassen. Aber der Zug hält nicht mehr in Florenz, er rast vorbei an Olivenhainen, dunklen Häusersilhouetten und gefährlichen Autobahnen. Früher, als ich noch unbedachter war und nirgends aussteigen wollte, hielt der Zug immer in allen bedeutenden Stationen zwischen Rom und Bozen. Jetzt aber scheint er es eilig zu haben, viel eiliger als zu anderen Zeiten.
Mein Mann ist eingeschlafen. Für ihn gibt es nichts schöneres als in einem Zug einzuschlafen, der ihn nach Hause bringen wird. Im Grunde genommen reist er gerne. Aber immer nur, weil er weiß, wie schön es dann ist, wieder nach Hause zu fahren. Nach Rom fährt er mit mir, weil ich dort etwas zu suchen habe. Ich muss meine Hauptstadt kennen, sage ich. Das leuchtet ihm ein. In Wirklichkeit fahre ich immer wieder nach Rom, um den Zoo zu sehen. Anfangs sitzen wir noch, wie es sich gehört, auf der Spanischen Treppe, über uns die Kirche Trinitá dei Monti, um dann weiterzuschlendern zum Trevi-Brunnen, wo Alma eine Münze hineinwirft. Auch ich tue es, stelle mich neben sie mit dem Rücken zum Brunnen, weil ich immer wieder nach Rom zurückkehren möchte, und beide werfen wir dann gleichzeitig eine Münze mit der linken Hand über die rechte Schulter ins Wasser. Nur mein Mann braucht keine Münze, er weiß, dass er auch so nach Rom zurückkehren wird, weil er weiß, dass ich meine Hauptstadt kennen will. Für ihn könnte die Hauptstadt auch Bozen sein. Er macht sich nichts aus Hauptstädten. Seine Welt liegt anderswo. Also tun wir noch eine Weile so, als läge uns allen drei sehr viel an den Sehenswürdigkeiten von Rom. Kaufen uns Tickets für die U-Bahn und steigen beim Kolosseum aus, um uns dort auf eine der Stufen zu setzen und zu wissen, dass Rom hier gekämpft hat. Aber bald schon nehmen wir die U-Bahn zurück zur Via Veneto und steigen von dort den Weg hinauf zur Villa Borghese, wo Rom sehr grün ist. Hier liegt das wahre Ziel meiner Rom-Reise: der Zoo. Auch Alma ist jetzt nicht mehr zu halten und beide rennen wir dem großen schwarzen Gorilla entgegen, der uns schon in seinem Riesenkäfig erwartet. Er ist das Hauptziel unserer Reise überhaupt. Wir setzen uns auf dem Boden vor ihm nieder und bleiben eine Stunde oder auch länger, nur um ihn zu beobachten. Dabei vergessen wir alles, was um uns herum geschieht. Mein Mann legt sich dann irgendwo ins grüne Gras und vergisst, dass er in Rom ist. Alma und ich aber sind in unserer Hauptstadt. Keine der Städte, die wir miteinander besuchten, hatte so einen wunderbaren, großen, schwarzen, dickhäutigen Gorilla aufzuweisen wie der hier. Während wir ihn anglotzen, stopft er Bananen, Äpfel und Getreide in sein Maul. Dann schreitet er aufgeblasen und mit einem überheblichen Grinsen in den Augen vor uns auf und ab, klatscht die Hände auf den Boden, setzt sich ins Heu, um sich nach einer Weile zu erheben und den Hintern zu putzen. Er genießt es, wenn man ihm dabei zusieht. Über die Jahre hinweg hat er sich an das Glotzen der Menschen hier gewöhnt. Er zieht eine Show ab, für die er viel Applaus erhält. Alma und ich klatschen nie. Wir beobachten ihn und lassen ihn nicht eine Sekunde aus den Augen. Dass wir nicht klatschen, ärgert den Gorilla, und er kehrt uns oft beleidigt den Rücken zu. Er weiß aber, dass wir friedlich sind, und kann uns nicht zwingen zu klatschen. Der Käfig, in dem er sitzt, schützt uns vor seinem Beleidigt-Sein. Wer weiß, was er mit uns anstellen würde, wenn er rauskönnte. Er würde uns wahrscheinlich in Stücke reißen und uns vor den Augen der Neugierigen aufessen. Alma und ich aber haben keine Angst. Wir sitzen mitten in der Zivilisation auf den ausgebreiteten Windjacken und lernen ihn kennen. Aus dem sicheren Abstand eines Zoogeheges zu seinen Besuchern. Wir prüfen den Maschendraht, der uns vor dem Gorilla schützt, suchen nach etwaigen Löchern oder Unebenheiten. Aber die Sicherheitskontrollen scheinen zu funktionieren. Erst wenn wir ganz sicher sind, dass der Riesengorilla nicht ausbrechen kann, dass es nicht irgendwo im Drahtgeflecht ein kleines Loch gibt, das er mit seinen großen Pranken ausbauen könnte zu einem Notausgang, um seine Kränkung über den fehlenden Applaus an uns zu rächen, erst dann schlendern Alma und ich weiter und suchen die anderen Tiere im Zoo. Die weit weniger wichtigen, aber dennoch nicht zu unterschätzenden. Auch sie gehören zu unserer Hauptstadt. Und kennen wollen wir sie alle.
Der Zug rast Richtung Norden, ohne irgendwo anzuhalten. Ich kann nicht schlafen, wenn ich an den Gorilla denke. Wer weiß, ob Alma nicht zum Zoo hinaufsteigt, um mich zu suchen. Es ist dunkel jetzt, stockfinstere Nacht draußen. Modena haben wir schon hinter uns gelassen. Aus der Hand habe ich sie gegeben. Für einen kurzen Augenblick. Ich muss mit dem Lokführer sprechen. Er muss anhalten, in Verona muss er mich aussteigen lassen. Ich renne nach vorne, vorbei an schlafenden Gesichtern, die sich verstecken in irgendwelchen Träumen. Vorbei an der Notbremse, die ich scheue. Es muss doch einen Verantwortlichen geben in diesem Zug. Einen einzigen, mit dem man reden kann. Es muss nicht meine Muttersprache sein. Ich spreche auch Italienisch oder Englisch. Mitunter ein wenig Französisch. Je parle français … aussi. Ich habe nichts gegen die Franzosen. Auch Russisch würde ich sprechen, wenn ich es je gelernt hätte. Alle Sprachen der Welt, nur um meine Tochter wiederzubekommen. Alma hat kluge Augen. Solche Kinder darf man nicht im Stich lassen. Man muss sie suchen und darf nicht darauf warten, dass sie schon irgendwie zurechtkommen in der Nähe eines Gorillas. Wer weiß, vielleicht hat er nachts Ausgang, der Gorilla, und darf sich frei bewegen. Vielleicht hat er sie schon getroffen im nächtlichen Park der Villa Borghese. Auf ihrer Suche nach Schildkröten unter der Erde erwischt er sie womöglich, rücklings, ohne Vorwarnung. Er würde seine schwarzen Tatzen um ihre Hüften legen, sie hochheben und zu sich drehen, um ihre klugen Augen anzugrinsen. Sie würde ihre Schildkröten fallen lassen, im Schreck, und ihn anlächeln, weil sie weiß, dass sie es ihm schuldig ist. Ihr fehlender Applaus für seine Show im Gehege würde ihr jetzt zum Verhängnis werden. Und ich, ihre Mutter, würde nicht da sein, um sie an der Hand zu halten. Sie würde nicht weinen. Alma ist ein starkes Mädchen, aber sie hätte schreckliche Angst und würde dem Gorilla den Applaus geben, den er nötig hat. Sie würde alles tun, um seinen Zorn im Zaum zu halten. Würde sich von ihm in sein Gehege tragen lassen und sich ganz ruhig verhalten. Ich kenne Alma, sie ist eines von jenen Kindern, die sich an Situationen anpassen können wie ein Chamäleon an seine Umgebung. Sie würde nicht schreien, nicht versuchen wegzulaufen. Nein, nichts dergleichen würde sie unternehmen, denn sie ist ein kluges Mädchen. Sie weiß schon, wie man mit Gorillas umgehen muss, um ihr Freund zu werden. Und es würde ihr sogar gelingen. Er würde seine Zähne fletschen und ihr großer heimtückischer Freund werden. Er würde ihr scheinheilig zu essen geben, von seinen Bananen und Äpfeln. Würde ihr sogar den Hintern putzen und sie in seinen Armen in den Schlaf wiegen. Dann aber, wenn ihre wachen Augen zufielen, würde er zuschlagen. Würde mit seinen Pranken so lange auf ihren Kopf schlagen, bis sie bewusstlos wäre und sich an nichts erinnern könnte. Er würde ihren Kopf zumachen mit Heu und Stroh aus seinem Gehege, damit ihre Augen, falls sie sich doch noch öffneten, nichts sehen könnten. Denn im Grunde hätte der Gorilla in seiner ganzen Größe Angst vor ihren Augen. Diese müssten verwischt werden, mit Heu und Stroh, um keine Wahrheit durchzulassen. Denn der Gorilla dort im Zoo in Rom ist ein wahrheitsscheues Tier. Er ist es gewohnt, seine Show abzuziehen, für die er Applaus erhält. Dass seine Wahrheit im Urwald liegt, weiß er nicht. Das hat ihm nie jemand gesagt.
Jetzt bin ich beim Lokführer angekommen. Ich habe mich zu ihm durchgerungen, all die Hürden der Mitreisenden und Bediensteten überwunden. Ich stehe mit zerzaustem Haar und fuchtelnden Armen hinter ihm und versuche zu erklären, was passiert ist. Devo uscire! rufe ich. La prego! Der Lokführer ist ein schöner Italiener. Er hat vor allem schöne, saubere Hände, die auf den unzähligen Knöpfen vor ihm liegen. Mit diesen sauberen Händen ist er imstande, einen so schnellen Zug anzuführen. Wie langsam seine Bewegungen sind im Vergleich zu den vorbeirasenden Lichtern draußen in der Nacht. Er versteht meine Aufregung nicht und wirft mir einen beiläufigen Blick zu. Mein Anblick scheint ihn nicht aus der Ruhe zu bringen. Ich rede wie ein Wasserfall und mein Italienisch saust den Berg hinunter. In meiner Aufregung ändern sich Silben und Endungen, spreche ich in der Mehrzahl, wenn es um die Einzahl geht, verwechsle ich weibliches und männliches Geschlecht, entfallen mir die Wörter und ich vergesse, ihn in der Höflichkeitsform anzusprechen. Das alles ist ihm zu viel, dem Lokführer, und er sagt ganz langsam, aber bestimmt: si calmi, signora, a Bolzano puó scendere, in einer knappen Stunde werde man dort sein. Ei...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Zwischen den Dörfern
  6. Schattenlauf
  7. Zihuatanejo
  8. Der Gorilla
  9. Der Taucher
  10. Der Furchenmann
  11. Das dritte Kind
  12. Spondeo
  13. Marktszenario
  14. Anders
  15. Ein bisschen
  16. Das fünfte Element
  17. Erwischt
  18. Die Einladung