Venezuela
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Venezuela

Roman

  1. 128 Seiten
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Roman

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Über dieses Buch

Deutschland, 1941. Auf einem Fliegerhorst in Brandenburg geht Alfredo Guzman seiner Arbeit nach - als Gynäkologe im Dienst des Führers. Wie es dazu gekommen ist, erstaunt ihn, sobald er darüber nachdenkt. Eines Tages wird hoher Besuch erwartet: Fliegerheld Ernst Udet hat sich angesagt. Auf dem Empfang zu seinen Ehren bringt sich Guzman in Turbulenzen, die ihn zur Flucht zwingen, gleich am nächsten Morgen. Nur: wohin? Überraschenderweise hilft ihm Udet, nach Venezuela zu entkommen, von wo Guzmans Vater stammte. So wird die Flucht vor dem Deutschen Reich zugleich zur Suche nach einer Vergangenheit, die hinter dem Schleier von Familienlegenden liegt.Es stellen sich dem Ich-Erzähler, der von seinem Vater und dessen Vater erzählt, entscheidende Fragen: Was tun in einer Zeit, die Haltung verlangt, wenn man wenig hat, dafür aber Sehnsucht und die Begabung, ganz im Augenblick aufzugehen? Was geschieht, wenn man sich der Welt nicht mit Prinzipien nähert, sondern sich einfach überwältigen, davontreiben lässt? Die Reise, auf die Jochen Jung seinen Protagonisten in einer kühnen Mischung aus Dichtung und Wahrheit schickt, ist voller überraschender Wendungen (und Einsichten), sie führt um die halbe Welt - und mitten ins Zentrum der eigenen Existenz.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783709975138

1

Mein Vater war ein Nazi, kein Zweifel. Er stand immer daneben.
Kein Zweifel, auch wenn ich keine Beweise habe, aber es gibt hier ja auch nichts zu beweisen. Denn die Briefe, die er meiner Mutter schrieb und die ich kenne, sind Briefe eines Familienvaters an seine Frau, die mit ihren beiden Kindern den Mut nicht verlieren sollte. Und Mut, fand mein Vater, konnte unter den gegebenen Umständen nicht er machen, sondern nur der Führer. Also schrieb er, was er in seinen Briefen schrieb, und fügte am Ende, knapp vor dem Heil Hitler, etwas in der Art hinzu, daß der Führer es schon richten werde. Es und die Feinde.
Meine Mutter war jedesmal ein wenig beleidigt, daß er ihr zumutete, so etwas in seinen Briefen zu lesen. Erst war sie beleidigt, zuletzt war sie nur noch enttäuscht, und vielleicht wußte damals selbst sie eine Zeitlang nicht mehr, ob von ihrem Mann oder vom Führer.
Sie hatte in den drei Jahren ihrer Ehe sehr rasch das Gefühl gehabt, ihren Mann so gut zu kennen wie er sie. Und mußte schließlich, ungern, feststellen, daß sie ihn weitaus besser kannte. Sie behauptete jedenfalls immer, alles längst geahnt zu haben. Und da mein Vater damals, wie sie annahm, auf dem Fliegerhorst saß und sie mittlerweile im Dorf ihres Vaters, ließ sich das auch nicht mehr nachprüfen. Sie sah es so, seit sie ihn kaum noch sah, und sie glaubte es, vielleicht weil es sonst für sie kaum noch etwas widerspruchslos zu glauben gab.
Im übrigen habe ich das Verhältnis meiner Eltern zueinander nie ganz verstanden, geschweige denn durchschaut. Es hat zwischen beiden vermutlich nicht mehr Mißhelligkeiten und Streit gegeben als eheüblich, und sowohl mein Vater als auch meine Mutter schienen ebenso froh zu sein, wenn sie sich eine Weile nicht sahen, wie wenn sie sich nach einer weiteren Weile wiedersahen. Trennung und Wiedersehen waren offenbar gleichermaßen angenehm und der Grund dafür beiden nicht wichtig.
Meine Mutter war übrigens – irgend jemand hatte einmal gesagt: aus Paritätsgründen – eine wirklich schöne Frau, dafür allerdings weniger begabt für das, was man damals ein trautes Heim nannte. Wie auch immer, als mein Vater seinen Einberufungsbefehl erhielt, machten die beiden, gleichsam unter dem Siegel des Patriotismus, die beste Flasche auf, die sie in ihrem kleinen Keller hatten, und tranken auf ein baldiges, also siegreiches Ende des Krieges und, da sich der Führer damit noch ein wenig Zeit zu lassen schien, auch auf den ersten Heimaturlaub des jungen Ehemanns.
Mein Vater war ein Nazi und Gynäkologe. Er hat seinen Beruf etliche Jahre und noch über Kriegsbeginn hinaus in Hamburg ausgeübt. Dann kam er nach Brandenburg, auf den Fliegerhorst, 1941. Dort gab es sozusagen keine Frauen. Eine einzige Patientin hatte mein Vater allerdings: die Frau des Generals, die einzige Offiziersfrau, die auf dem Horst wohnte. Die angestellten Frauen, Reinigungspersonal, Helferinnen, Sekretärinnen, waren dem Frauenarzt in der Stadt zugewiesen. Die Frauen der Piloten und anderen Offiziere kamen nur besuchsweise, und das zunehmend selten. Die Frau des Generals aber war immer da, wohnte im Horst und hatte dort ihre Tage. Und ihre Beschwerden. Dafür wiederum – aber nicht nur dafür – war mein Vater da.
Mein Vater diente also als Stabsarzt auf einem Fliegerhorst der Wehrmacht, weil die Frau seines Generals es so wollte. Sie hatte ihn gleichsam für sich entdeckt, als sie ihn wenige Wochen zuvor auf einem Fliegerabend in Berlin gesehen und zu seiner grenzenlosen Überraschung mit ihm geschlafen hatte. Sie brachte tatsächlich ihren Mann dazu, den offiziellen Antrag für die Versetzung eines Gynäkologen in den militärischen Bereich zu stellen, und ihr Mann oder sie (oder mein Vater) hatten damit auch Erfolg. Zum einen, weil das gelang, obwohl Ärzte in diesen Jahren zunehmend schwerer zu verpflichten waren, nachdem zahlreiche mit der Truppe in Frontnähe gerückt waren und dort einen häßlichen Heldentod gefunden hatten, zum anderen, weil mein Vater, der wenig Lust auf ein ähnliches Schicksal hatte, nach Absprache mit dem General gleichzeitig als stationärer Gynäkologe und Facharzt für männliche Geschlechtskrankheiten ausgegeben wurde (letzteres ein Gebiet, von dem er zunächst wenig genug wußte). Für mich, hatte der General gesagt, sind Sie Facharzt für unten. In der Tat hatte mein Vater alsbald reichlich Besuch von Soldaten, die aufgrund ihres Leidensdrucks die Grenzen medizinischer Fachausbildung kaum erkennen wollten und meinem Vater ihre teilweise recht ramponierten Schwänze ohne besondere Hemmungen vorführten. Was er bisher nicht gewußt, ja nicht einmal geahnt hatte, lernte er auf diese Art sehr rasch.
Noch etwas kam hinzu, und das war der Name meines Vaters: Alfredo Guzman. Sein Vater wiederum, mein Großvater also, stammte aus Puerto Cabello in Venezuela – was man dem kleingewachsenen Mann auf den wenigen Fotos, die die Familie von ihm hatte, auch ansah – und war als ehrgeiziger Händler von Südfrüchten, einem damals gerade aufblühenden Geschäft, nach dreiwöchiger Reise auf einem Apfelsinendampfer frierend in Hamburg angekommen, hatte dort eine junge Frau geehelicht, die die schöne Tochter eines wohlhabenden Fabrikanten von Saitlingen war und deren sohnloser Vater, glücklich über den tüchtigen Schwiegersohn, diesen dazu brachte, Südfrüchte gegen Wursthäute zu tauschen und sich in Hamburg niederzulassen.
Bereits nach einem Jahr verschwand dieser hoffnungsvolle Nachfolger spurlos, ließ seine hochschwangere Frau in ihrem Blankeneser Eigenheim – einem Hochzeitsgeschenk ihres Vaters – allein zurück, um nicht zu sagen sitzen, und wurde nicht wieder gesehen. Das heißt, in Puerto Cabello vermutlich schon, aber der Saitlingfabrikant gab seine Nachforschungen mangels Ergebnissen, aber auch weil er seine Tochter nicht zwangsweise verehelicht sehen wollte, bald auf, und meine Großmutter beschränkte sich darauf, meinem Vater den Namen des immer noch geliebten Verschollenen zu geben, Alfredo eben, was ihm, der überhaupt ein eher schüchterner Knabe gewesen ist, das Leben nicht unbedingt leichter gemacht hat.
Später hat er übrigens zeitweise und eher halbherzig auf das o des Vornamens zu verzichten versucht, aber irgendwer in seiner Umgebung wußte immer schon von diesem o und hängte es ihm wieder an; Überlegungen, auch den Nachnamen zu ändern, gab er sofort wieder auf, nachdem ihm als allererstes nichts Besseres als Gutsherr eingefallen war. Eines immerhin hatte Guzman senior seinem Sohn hinterlassen: die richtigen Papiere. Für seine Hochzeit und die knapp darauf geplante Einbürgerung hatte er sich und auch seine lieben Eltern und Großeltern als katholisch und spanischen Bluts in wenigstens drei Generationen belegt, womit für meinen Vater der Ariernachweis problemlos wurde. Um so besser, denn schließlich hatten ihm seine Vorfahren Gesichtszüge hinterlassen, die nicht so waren wie die der meisten, die da auf den reichsdeutschen Straßen herumliefen. Auch seine Hautfarbe war nicht von jener Blässe, die man von Ariern erwartete. Und nicht zuletzt war mein Vater schön. Nicht hübsch, nicht gutaussehend, sondern schön, ungeachtet seiner ungewöhnlich abstehenden Ohren. Hieß Alfredo Guzman, Gynäkologe im Dienste des Führers, und war schön.
Schönheit war schließlich auch damals nicht einfach Geschmackssache, mal dies, mal das. Zweimal hatte mein Vater das als junger Mann nachhaltig gemerkt, als jemand in der Straßenbahn zustieg, ihn sah und bis ins Mark zu erschrecken schien. Das erste Mal war es eine Frau, das zweite Mal ein Mann, und beide Male hatte mein Vater so etwas wie ein schlechtes Gewissen.
Ich hatte es da leichter. Ich kannte nur die Hamburger Fotos, und für mich sah mein Vater aus wie mein Vater.
Die Frau des Generals, weder feige noch ängstlich, wie sich gezeigt hatte, konnte sich dieser Schönheit nicht entziehen und hatte zugegriffen. Dazu war sie auch an diesem Tag entschlossen, der in einer offiziellen Feierlichkeit enden würde, wie ihr Mann beschlossen hatte. Nur eine Maschine hatte man in den letzten vierundzwanzig Stunden verloren, der Engländer dagegen vier. Und Ernst Udet war zu Gast, Held mittlerweile zweier Kriege und einer aufgeregten Zwischenkriegszeit – „dem Führer sei Dank!“ Schon um drei Uhr hatte es bei leichtem Regen eine kleine Zeremonie gegeben: Eine Ehrenkompanie war angetreten und stand, da Udets Auto, obwohl bereits in Sichtweite, für fünf Minuten (man erfuhr nicht, warum) am Straßenrand gehalten hatte, ohne daß er ausgestiegen wäre, im Nassen. Diese fünf Minuten Nieseln hatten freilich die Stahlhelme um so glänzender gemacht, zumal wegen des Nachmittags-Termins die Hoflampen schon eingeschaltet waren.
Die Feier, die der General am Abend ausrichten ließ – es war der 15. November 1941 –, fiel auch im Brandenburger Fliegerhorst, wo man das ständige Überleben an sich zu feiern verstand, etwas aus dem Rahmen: Udet war schließlich nicht irgendwer. Außer den beiden Offizieren, die die Witwe des Abgeschossenen aufzusuchen hatten, waren alle da, auch der erst vor zwei Monaten eingestellte Doktor Guzman. Es gab, was die Küche hergab, und es gab Sekt, Henkell, reichlich.
Die Frau des Generals stand, wie es zu erwarten war, neben ihrem Mann, als dieser eine Rede hielt, beginnend mit einem Räuspern, das klang, als ob es schon dazugehörte, und mit etwas unklaren Bemerkungen über einen gewissen Jupiter tonans und endend mit einem unglücklichen Vergleich des Gottes Donar mit Adolf Hitler, eine Rede, die war, was sie war: angemessen und zu lang.
Um so lieber griff man anschließend zu den bereitgestellten Gläsern, brachte den Toast auf den Führer und den hohen Gast aus und verteilte sich in der engen Messe, so gut es eben ging.
Unvermittelt fand sich mein Vater plötzlich neben dem General. Er hob sein Glas knapp auf Kinnhöhe und lobte mit einem Darf ich? die rhetorische Eleganz des Gastgebers, die nichts als donnernden Applaus verdient habe. Und während nun mein Vater – schneidig, hätte er vermutlich selbst gesagt – noch etwas über Wind, Wetter und Wehrmacht von sich gab – weder er noch seine beiden Zuhörer registrierten das im einzelnen –, starrten ihn die Frau des Generals und der General Udet an, beide mit (sie leicht, er unübersehbar) offenem Mund. Als mein Vater seine Ausführungen mit ebenso offenem Mund auf dem Wort „wunderba“ endete, war, so wie in diesem Moment der General in den Augen Udets, mein Vater in denen der Frau des Generals und sie in den seinen verloren.
Tatsächlich konnte sich der General nicht von dem Blick Udets trennen, und beide standen sich so gegenüber, wie man es nur unter damaligen Umständen nicht seltsam finden konnte: Udet mit seinen einszweiundsechzig und der General, einseinundneunzig, brachten den stählernen Blick von unten und den schmelzenden von oben so überzeugend in eins wie sonst wohl nur der Führer und sein Volk oder die Frau des Generals und mein Vater.
Der General selbst, der sich fleißig nachschenken ließ, war bereits Minuten später, während mein Vater und nun auch Udet nur noch seine Frau im Visier hatten, ganz in seiner Begeisterung aufgegangen und schilderte seinen jungen Fliegern die spektakulärsten der 62 Abschüsse seines Ehrengastes. Mehrfach hatte Udet den General im Laufe des Abends gebeten, ihn doch einfach „Herr Generaloberst“ zu nennen – der General jedoch bestand auf dem offiziösen „Generalluftzeugmeister“ und kümmerte sich, statt wenigstens gelegentlich um seine Frau, ausschließlich um Udet. Der hingegen hätte sich selbst viel lieber um dessen Frau gekümmert, um die sich, wie ihm nicht entging, nun schon eine ganze Weile mein Vater kümmerte.
In diesem Augenblick ergriff einer der Adjutanten die Initiative und forderte Udet zu „ein paar Worten“ auf, die Gott sei Dank länger dauerten, als die Frau des Generals und mein Vater, die nun beide begriffen hatten, was sie wollten, brauchten, um sich, von den übrigen kaum, das heißt eigentlich gar nicht bemerkt, in den Gang zu den Toiletten und von dort in die kleine Praxis meines Vaters zurückzuziehen. Es war Nacht, und es war dunkel. Und daß die Betrunkenheit des Generals inzwischen in eine totale Betrunkenheit übergegangen war, wurde nur von Udet, der ganz gegen seinen Ruf stocknüchtern geblieben war, als unerfreulich vermerkt. Alle anderen versuchten vielmehr, sich ihrem Vorgesetzten anzuschließen, und mein Vater tat dies ja gewissermaßen auch. Wer war schon Udet?
Er sollte es herausfinden. Und zwar gleich am nächsten Morgen, der allerdings für meinen Vater in dem zweiten, kleinen Behandlungszimmer neben dem eigentlichen Ordinationsraum, aber nicht wie gewohnt im Bett begann, sondern auf einem sogenannten Fleckerlteppich, einem Geschenk der heimgekehrten Ostmark an das Reich: eintausend Fleckerlteppiche, die umgehend der Wehrmacht übergeben und von dieser nach wie immer undurchschaubarer Bevorzugungspraxis verteilt worden waren. Mein Vater blickte gern darauf, vielleicht weil er immer wieder ein erkennbares Muster darin zu finden hoffte – vergebens.
Da lag er nun, mein Vater, neben seinem Feldbett. Er starrte auf den weißgestrichenen Blechschrank, in dem er Medikamente, Instrumente und Formulare aller Art hütete und den er jetzt geradezu zu riechen meinte. Er versuchte die Fetzen seiner Erinnerung irgendwie – viel weiter kam er minutenlang nicht.
Bis Udet auftauchte, in seinem Kopf. Nein, eigentlich nicht Udet, sondern dessen Augen, und zwar wie sie zunächst mit Schleifen und Loopings um den Leib der Frau des Generals herumflogen und dann an ihm auf- und abmarschierten, zügig, wieder und wieder, bis sie auf einmal den Blicken meines Vaters begegneten, die dort ebenfalls unterwegs waren.
Für kurze Zeit schob die Erinnerung meines Vaters Udet beiseite, er kletterte in sein Bett und überließ sich eine Weile sozusagen mit Eindringlichkeit ganz der Vorstellung von jener Frau, was prompt eine Erektion mit sich brachte, die augenscheinlich nicht nur wußte, was sich da erst vor Stunden mit größtem Eifer abgespielt hatte, sondern auch auf dringender Fortsetzung des Erlebten zu bestehen schien. Mit tonlosen Ausrufen wie Herrgott, ja, allerhand, na bitte und anderem ähnlich Dümmlichen kommentierte mein Vater das Imaginierte vor sich hin.
Sobald er nämlich die Tür zu seiner Praxis hinter der Frau des Generals zu- und sie ihm die Knöpfe seiner Uniformjacke (die ihm übrigens nach eigenem Urteil ausgezeichnet stand) aufgemacht hatte, da hatte sie sich auch schon mit kaum unterdrücktem Kichern (der Henkell?) auf seinen gynäkologischen Stuhl geschwungen.
Während in der Messe der General weiterhin und zunehmend unverständlicher das Loblied seines Gastes und der Fliegerei überhaupt sang und während sich in der Praxis meines Vaters mit geradezu rauschhafter Geschwindigkeit vollzog, was sich vollziehen mußte, war es Udet gelungen, dem General klarzumachen, daß er am nächsten Morgen einen dringenden Termin habe und also ins Bett müsse. Daß er dann, um zu seinem Quartier zu kommen, ausgerechnet an der kleinen Praxis meines Vaters vorbeiging und daß da schon seit dem Nachmittag ein Klappfenster offenstand und daß er von dort gerade in diesem Augenblick eine ihm inzwischen bekannte Stimme immer wieder „schöner Mann, schöner Mann“ sagen oder richtiger rufen hörte mit einer Art von Jubel, der ihm durch Mark und Bein ging, das zwang ihn, sich kurz – und ausgerechnet unter jenem Klappfenster – an die Wand zu lehnen. Was er dann die Frau des Generals gleichsam singen hörte, das kam ihm vor wie ein letztes Durchstoßen der Wolkendecke, wie die Vertonung dessen, was er in der Luft zumindest manchmal und bei den vielen Frauen eigentlich nie gefunden hatte, wie der ultimative Looping.
Er schüttelte sich, als er weiterging. Jetzt brauchte er die Flasche, das war Ernüchterung genug gewesen. Mein Vater hingegen, der davon natürlich nichts mitbekam und im übrigen auch nichts davon verstanden hätte, hielt sich in diesem Augenblick für einen sogenannten Mordskerl, und viel mehr war er da auch nicht.
Mein Vater hatte sich also von dem Fleckerlteppich, den er sozusagen aus lauter Glück als Schlafplatz für richtig befunden haben mußte, ins Bett und von dort eine Viertelstunde später in die Senkrechte bewegt, da er wußte: Von elf bis eins hatte er Praxis, und selbst wenn niemand kommen würde, er hatte dazusein, in Uniformhose und weißem Kittel. Auch das stand ihm übrigens, vielleicht sogar besonders gut, wie er auch an diesem Morgen, sachlich, aber doch, feststellen konnte.
Wie auch immer, als es um viertel nach elf an seine Ordinationstür klopfte, ahnte er, warum auch immer, wer das war, und wäre, wenn er sich getäuscht hätte, sehr irritiert gewesen. So aber konnte er noch im Öffnen der Tür feststellen, daß ihn seine sichere Einschätzung nicht verlassen hatte, und er bat Udet,...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Kapitel 1
  5. Kapitel 2
  6. Kapitel 3
  7. Kapitel 4
  8. Kapitel 5
  9. Kapitel 6
  10. Kapitel 7
  11. Kapitel 8