Täglich Fieber
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Täglich Fieber

Erzählungen

  1. 128 Seiten
  2. German
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Täglich Fieber

Erzählungen

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Über dieses Buch

Ja, die Liebe, gewiß. Wo hätte sie denn auch nicht ihre Finger im Spiel, vor allem, wenn's ernst wird. Was in diesen zwölf Geschichten allerdings eher selten der Fall ist, oder doch? Wie auch immer, die Liebe ist schließlich kein Sonntagsgefühl, eher etwas, was uns im Alltag steuert, auch wenn oft genug offen bleibt, wohin. Das junge Paar in der Sauna, die Eheleute im Ferienhotel, die beiden Alten, die Bordell spielen - seltsame und doch ganz alltägliche Paare sind es allemal. Es kann um Beiläufigkeiten gehen oder um Leben und Tod - Hauptsache, man nimmt die Erde wahr, auf der man unterwegs ist.Ein sehr eigener und ungewohnter Ton ist es, mit dem Jochen Jung seine Leser verunsichert und zugleich amüsiert, so wie er es schon in seinen Märchen in dem Buch "Ein dunkelblauer Schuhkarton" gemacht hat. So schrägt er sich stilistisch brillant durch eine Realität, die, auf phantasievolle Weise anders scheinend, eindeutig als unsere erkennbar ist

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783709975121

Die Frau

Ihr Herz pochte freudig,
und nur darum, weil es pochte.
W. H
Sie hob den Kopf. Die Luft bewegte sich, ohne daß daraus wirklich Wind wurde. Ihr Haar rührte sich kaum, über die Augäpfel aber strich eine leichte Kühle. So empfand sie es, während sie in die Richtung blickte, aus der der Bus kommen sollte; und der war, wie so oft, verspätet.
Der Himmel schien eine einzige kompakte Masse zu sein, ein unbewegter asphaltgrauer Riegel. Dabei war dieses Grau keine Ankündigung von Regen; es war vielmehr wie eine scheinbar endgültige, in Wahrheit aber nur unentschiedene Unbewegtheit zwischen Blau und Schwarz. Es war eine Wetterlage, wie die, die da auf den Bus wartete, sie besonders schätzte, ein Nicht-Wetter, anspruchslos, nichts fordernd, nichts vorbereitend.
Niemand hob bei solchem Himmel den Kopf. Sie aber tat es, erleichtert. Und zugleich wünschte sie mit einer sie selbst verwundernden Inständigkeit, der Himmel möge für immer in diesem Grau verharren, so als hätte er dann die Farbe gefunden, nach der er jahrtausendelang gesucht hatte, und der Bus möge nie kommen und sie bis ans Ende ihrer Tage hier und nirgendwo anders stehen. Ohne müde zu werden.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, so sah sie es, ging ein gefleckter Hund.
Schlich nicht, trottete nicht, ging.
Sie verlor sich.
Und als sie sich gefunden hatte, hatte es doch angefangen, behutsam zu regnen, und sie wußte wieder, daß es außer Raum und Zeit noch ein Drittes gab, von gleicher Bedeutung und Selbständigkeit: das Wetter. Ja, das war es: Raum und Zeit und Wetter, ein Viertes gab es nicht. Und zugleich wußte sie, daß sie den Bus hatte kommen, halten und wegfahren sehen, daß sie nicht eingestiegen war und es ganz selbstverständlich gefunden hatte, nicht in den Bus einzusteigen, auf den sie lange genug gewartet hatte. Und der Himmel, der nun regengrau war, gab ihr recht, wortlos, als sei noch etwas ganz anderes geschehen, als daß sie einen Bus verpaßt hatte.
Wieder hob sie den Kopf. Schräg gegenüber dem Hochhaus, das sie als das Verwaltungsgebäude des Krankenhauses nur zu gut kannte, begannen sich nun Wolkenbänke hinaufzuschieben, ohne daß sich daraus ein Muster ergeben hätte, geschweige denn eine veränderte Situation. Aus der entgegengesetzten Richtung, von dort, wo der Bahnhof lag, zeigten sich Helligkeiten, Abschilferungen des Dunklen, unter denen immer Helleres, dann immer Blaueres sich zeigte, und in dem Augenblick, als der Himmel dort aufriß und Licht in einen irgendwo entfernten Stadtteil fiel, kam neuerlich der Bus, und sie schaute sich um nach den beiden buntbedruckten Plastiksäcken, die sie dort, wie ihr schien, vor langer Zeit abgestellt hatte.
Da standen sie ja, kaum einen halben Meter voneinander entfernt, und während sich ihre Finger in die längst weich ausgezerrten, ein wenig feuchten Grifföffnungen schoben, verlor sie sich aufs neue, sah sich, wie sie sich zu einer Quelle hinabbeugte – und nie bis dahin in ihrem Leben hatte sie überhaupt eine Quelle gesehen – und das Kühle, wunderbar Nasse war so dicht vor ihr, wie nur irgend etwas sein konnte, was wunderbar war und dicht vor ihr.
Kann ich Ihnen helfen? Die Stimme, die das aus einer ziemlichen Ferne zu ihr sagte, wirkte nicht störend, aber auch nicht willkommen. Es war ein junger Mann, vielleicht gerade zwanzig, und sie hörte, wie sie zu ihrer eigenen Überraschung antwortete: Ich bin doppelt so alt wie Sie, wissen Sie das?
Ich frage nur, ob ich helfen kann, und jetzt sah sie das kurzgeschnittene Haar, die Augen, das dunkelgrüne T-Shirt, die hellen Jeans und dazwischen, darüber das Grau, die sanfte Farbe, und sie hörte sich sagen: Sie waren das also, danke, und in ihr Lächeln hinein, das jedes Mißverständnis begreifbar zu machen schien, mischte sich seine Ratlosigkeit.
Der Bus hielt.
Sie hatte Glück, falls das schon Glück war: Der Bus, in dem sie nun saß, war einer der üblichen, kein Gelenkbus. Diese verursachten bei ihr starkes Unbehagen, seit sie einmal in einen eingestiegen war, der so voll besetzt war, daß sie auf der rotierenden Mitte stehen bleiben mußte. In einer scharfen Kurve geriet dann eine alte Frau, die neben ihr stand, aus dem Gleichgewicht, sie hatte versucht, sie aufzufangen, mit dem Ergebnis, daß sie beide fielen, und zwar sie selber so, daß sie, während der Bus wieder in die Gerade einbog, spürte, daß sie nun halb auf der Drehscheibe und halb in der anderen Bushälfte lag.
Nein, dieses Mal hatte sie einen Sitzplatz, und sie schaute aus dem Fenster. Allmählich lockerte sich die Bebauung, die in der Vorstadt bisweilen dichter war als im Zentrum. Der Bus hielt, und sie blickte auf die gegenüberliegende Seite, wo rundlich große grüne Container für Flaschen bereitstanden, die offensichtlich so restlos überfüllt waren, daß man zahllose weitere Flaschen drumherum abgestellt und übereinandergestapelt hatte. Wie oft schon hatte sie – vor allem montagmorgens – Männer mit schweren Wagen an solchen Containern halten sehen, die dann mit großen Plastiksäcken vor den Öffnungen standen, die sie zwangen, jede Flasche einzeln und unter weithin dringendem Krachen und Splittern dort hineinzuversenken, wobei sie jedesmal um sich blickten, als könnte man sie hier bei etwas Unanständigem ertappen: Sie schauten nach links, und sie schauten nach rechts, und sie schauten wie Hunde, die ihr Geschäft für eine Weile zu unbeweglichen Sündenböcken macht.
Wenig später sah sie die Glasfront jener Halle, auf die sie bei dieser Fahrt eigentlich immer wartete. Es war eine Art Hangar, wo im Halbschatten riesige Lastautos standen, monströse Zugmaschinen einer Spedition, die die Buchstaben ihres Namens rot und riesig aufgemalt bekommen hatten, eine Farbe, die sie jederzeit sprungbereit zu machen schien. Sie sah das und sah, daß die Riesen, solange sie hinsah, unbeweglich blieben, und das gab ihr ein Gefühl der Stärke.
Sie erinnerte sich sofort daran – und tat das jedesmal, wenn sie dort vorüberfuhr –, daß sie einmal gedacht hatte, wie es wohl wäre, in so ein Führerhaus hineinzusteigen, den Schlüssel neben dem riesigen Steuerrad hineinzustecken und dann –. Und dann? Und dann hätte sie ganz gewiß nicht weitergewußt, kein Wohin, kein Wieso und kein Womit, und sicher hätte ihr niemand geholfen, irgendwohin zu finden. Aber die Vorstellung, in so einem Steuerhaus zu sitzen, viele Meter – ja, so kam es ihr vor: viele, viele Meter –, also hoch über allen anderen, das jedenfalls und sicher nur für kurze Zeit, aber genug, um das Gefühl haben zu können: Es reicht. Weiter will ich nicht.
Nun suchte sie den Blick aus dem gegenüberliegenden Fenster und streifte dabei ein verlorenes Profil unter dunklem Haar, das sie sofort an den jungen Mann erinnerte, den sie derzeit als harmlosen Leistenbruchfall auf der Station liegen hatten. Für wenige Augenblicke war sie sich sicher, daß er es sei: Er war gewiß mit Abstand ihr hübschester Patient seit langem, und die anderen Schwestern gefielen sich immer wieder in frechen und manchmal sehr unmißverständlichen Andeutungen.
Ja, er war hübsch, und er lag allein in einem Zweierzimmer. Sie konnte sich gleichsam mit aller Gelassenheit an ihm erfreuen, da es natürlich die jüngeren Kolleginnen waren, denen seine Anspielungen galten. Zuletzt hatte sie ihn vor kurzem beim Nachtdienst gesehen: sie war wie üblich in sein Zimmer gekommen und hatte wahrgenommen, daß er schlief. Und im gleichen Augenblick sah sie das stumme Fernsehbild und sah dort ein Paar, das da wie in höchster Aufregung Liebe machte.
Das dumpfe Knacksen, mit dem sie rasch und wie ertappt den Apparat ausschaltete, kam ihr vor wie der Schuß aus einer schallgedämpften Pistole, ein Geräusch, das sie auch wieder nur aus dem Fernseher kannte. Der junge Mann lag unbewegt, und nachdem sie die Tür leise hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie für ein paar Sekunden an der Wand des Flurs, lächelnd.
Als der Bus wieder hielt, stieg sie aus, zusammen mit zwei älteren Frauen. Jede hatte einen Blumenstrauß bei sich, die eine in der Linken, der anderen schaute er aus einer Art Einkaufstasche heraus. Sie blieb kurz vor dem Denkmal für die Gefallenen eines Krieges gegen Frankreich stehen: Auf einem sicher zwei Meter hohen Sokkel kniete eine junge Trauernde, leicht überlebensgroß, der der eine Träger von der Schulter gerutscht war und die nun wie beteuernd, aber vergeblich ihre Nacktheit mit einer Hand zu verbergen suchte.
Sie liebte diese Figur, vielleicht gerade weil sie sich über ihre Lächerlichkeit so wenig täuschen konnte wie über ihr Anziehendes. Es war Fleisch aus Gußstein, und es verführte sie dazu, sich noch einmal umzudrehen, während sie mit unbewegtem Gesicht und entschlossen – aber zu was? – auf das hohe Tor zuging. Vor ihr, mit geringem Abstand voneinander, sah sie die beiden Frauen mit den Blumensträußen. Sie bogen gleich hinter dem Tor nach rechts ab, sie aber mit ihren beiden Plastiksäcken nach links.
Natürlich wußte sie, wo das Grab ihrer Eltern war. Sie wußte, warum sie dort hinging, und sie wußte, wie sie dort hinkam, ganz exakt: an vier Querwegen vorüber geradeaus, dann nach rechts, dann wieder nach links und dann, nach der nächsten Abzweigung, nach rechts das zweite Grab, auch rechts. Zweimal im Jahr besuchte sie es, und jedesmal sagte sie sich, daß sie es ausschließlich tat, um zu kontrollieren, ob die Friedhofsgärtnerei, die sie damit beauftragt hatte, es auch so hielt, wie ihr Katalog es versprach. Das, fand sie, war sie nicht ihren Eltern, wohl aber sich selbst schuldig.
Bis jetzt war immer alles in Ordnung gewesen, und auch dieses Mal sah das Grab aufgeräumt und, wie es heißt, gepflegt aus. Billig war das nicht, aber sie hätte auch noch mehr dafür bezahlt, das Grab nicht selber pflegen zu müssen.
Und doch hatte sie bis jetzt noch jedesmal ein paar Topfblumen mitgebracht, kleine, dauerhafte, die sie dann mit einer Plastikkinderschaufel am Fußende der beiden Gräber einsetzte. Vor allem waren es sogenannte Usambara-Veilchen, eine Blume, die sie selbst sehr gern hatte und von der sie wußte, daß ihre Eltern, Mutter und Vater, sie nicht hatten ausstehen können.
Fiebermessen. Jedesmal, darauf konnte sie schon warten, mußte sie, sobald sie vor dem Grab ihrer Eltern stand, ans Fiebermessen denken, und nicht an irgendeines, sondern an ein bestimmtes Mal, als sie fünf oder sechs Jahre alt war und, soweit sie sich erinnern konnte, zum ersten Mal wirklich krank. Ihr Vater war damals plötzlich nachts an ihrem Bett gestanden und hatte ihr das Thermometer unter die feuchte und fieberheiße Achsel gesteckt, und dieses Thermometer war eiskalt, kälter als die Hand, die ihr ihr Vater auf die Stirn legte.
Sie hatte geschrien und das Thermometer gegen den Willen ihres Vaters immer wieder weggetan, auch als es schon längst nicht mehr so kalt war, aber dann kam ihre Mutter, schob den Vater beiseite, beruhigte sie und zeigte ihr, daß sie das Glasröhrchen nur vorher eine Weile in der geschlossenen Hand zu halten brauchte, um es anzuwärmen, und das war es, was sie dann auch tat.
Seither war es für sie ausgemacht, daß ihre Mutter klüger war als ihr Vater, auch wenn alles andere dagegen sprach. Alles andere? Ja, hatte sie in den folgenden Jahren immer wieder gedacht – obwohl sie wußte, wie unüberlegt das war –, ja, alles andere.
So kontrollierte sie also das Grab ihrer Eltern, und sie hatte sich eingeredet – gegen diesen Gedanken konnte sie sich nie wehren, obwohl sie wußte, daß auch das unüberlegt war –, sie hatte sich eingeredet, diese Kontrolle sei so etwas wie Fiebermessen, als würde sie ihren Eltern, die da gestorben vor ihr unter der Erde lagen, das Fieber messen.
Sie blickte um sich. Und noch ehe sie, wie sie auch das immer tat, die Inschrift auf dem Granitstein halblaut vor sich hergesagt hatte, sah sie drüben, bei dem kleinen Gartenhäuschen, Bewegung, obwohl sie dort, in dem Areal, wo sie war, niemand anderen gesehen hatte und die beiden Frauen nach rechts abgebogen waren. Sie murmelte die Namen ihrer Eltern, erst den Vater, dann die Mutter, dann die Jahreszahlen und schließlich das, was über all dem eingraviert war und sie jedesmal mehr ergrimmte als zuvor: Ruhet in Frieden. Nein, sagte da etwas in ihr sehr laut und sehr bestimmt: Nein, nein.
Sie stand vor dem Grab und hörte, was sie sagte, und schaute zugleich nach drüben, dorthin, wo sie gemeint hatte, etwas gesehen zu haben. Aber es war ja ganz still, geradezu erwartungsvoll. Und sie sah mit einem Mal ihre Eltern vor sich, wie sie vor dem Grab der Großeltern standen – das war eine ganz andere Stadt, fast ein anderes Jahrhundert, ja beinahe eine ganz andere Familie.
Sie hatte seit langem schon den Plan einer Reise und hatte dabei oft an die norddeutsche Landschaft gedacht, aus der ihre Großeltern in den Süden gekommen waren, eine Landschaft, die sie nie gesehen hatte, nur von Bildern ein wenig kannte und die für sie im übrigen auch etwas Friedhofsruhiges hatte. Sie würde selbst später gern auf einer dieser grünen Wiesen unter einem weißen Stein liegen, in England hatte sie so etwas gesehen, und sie dachte sich das auch für Norddeutschland so; jedenfalls wollte sie, wenn es einmal soweit sein würde, nicht in einer derart aufgeräumten Kleinstadt liegen, wie es für sie dieser Friedhof war, wo sie sich nun auf einer nahen Bank ein wenig vom Hocken und Knien ausruhte.
Ja, sie war reiselustig, sehr. Wie sonst sollte sie dieses Gefühl nennen, das sie mit einem Mal derart sogartig von ihren Eltern entfernte, die da ganz klein vor einem fernen Grab standen und nun nur noch ein Punkt waren, der erlosch. Aus derselben Richtung kam es jetzt wie eine sehr starke Welle auf sie zu, ging über sie hinweg, und sie verlor sich, verlor sich ein drittes Mal an diesem Tag.
Sie saß, soviel wußte sie, schon seit längerem auf der Bank, die neben anderen an dem Hauptweg aufgestellt war, und hob jetzt den Kopf und sah als erstes das grüne T-Shirt, das sie sofort erkannte, wußte, daß sich jetzt etwas ereignen würde, das sie seit langem erwartet hatte und gegen dessen Gewalt sie sich wehren müßte, alle würden das von ihr erwartet haben, sie selbst ebenso.
Sofort aber wußte sie auch, daß in diesem Augenblick niemand schauen würde. Aber sie schaute selbst, wußte: sie befand sich in einem Schattenwinkel möglicher Ereignisse, und sie hob den Kopf, noch einmal.
Die Hand, die ihr in die Haare gefahren war, ohne daß sie wirklich hätte sagen können, ob sie sie zugleich gerissen hatte, ergriff jedenfalls jetzt ihre Hand im richtigen Augenblick aus dem richtigen Winkel heraus, mit dem richtigen Druck und dem richtigen Zug, so daß die Bewegung, mit der sie sich dagegen wehrte, auch für sie selbst nicht zu unterscheiden war von irgendeiner der Zustimmung oder gar Aufforderung. Es war nun auch ganz gleich.
Sie spürte, wie sie um das Handgelenk gefaßt und zugleich hochgezogen wurde und wie sie dann dem grünen T-Shirt folgte, an der Hand, wie sie es sich immer von ihrem Bruder gewünscht hatte, den es nie gab. Und jetzt hob sie weder den Kopf noch den Blick, sondern sah die Jeans, und als sie in dem kleinen Gartenhäuschen angekommen waren und er dessen Holztür zugezogen und sogar verriegelt hatte, da war es ihr eine kurze Weile unmöglich, den Händen auf ihren Brüsten zu folgen, so sehr waren ihre eigenen unterwegs.
Gegen ihren Widerstand drückte er ihren Körper an die Wand. Ihren Körper, der sofort den Geruch erkannt und angenommen hatte, die Wärme und die Lautlosigkeit. Sie hörte ein schweres Luftholen, das zunehmend regelmäßiger wurde, während in ihr eine Stimme, die der ihren nur ähnlich war, sagte: Sie können mir helfen, ja, Sie können das.
Noch einmal hatte sie einen Blick auf die Denkmalsfrau geworfen, die auch jetzt nicht lächelte, und war dann in den Bus gestiegen, denselben wie vor einer Stunde, die Werbeaufschrift zeigte ihr das. Auch die beiden älteren Frauen waren wieder da, jetzt natürlich ohne Blumen, so wie sie ihre Plastiksäcke mit der kleinen Schaufel dort gelassen hatte, in einem der Abfallkübel oder auch daneben. Sie blickte aus dem Fenster, und gerade als der Bus abfuhr, fielen nun doch die ersten Tropfen, zunächst wie ohne Absicht, dann stärker. Der Himmel hatte seine Farbe kaum verändert, aber eine Elster flog jetzt vor dem Bus auf: schwarz, weiß.
Sie freute sich auf das Nachhausekommen: erst gestern hatte sie sich doch ein paar Reiseprospekte besorgt, die sie studieren wollte. Zwei Wochen Kreta, vielleicht?
Als sie ihre Tür aufsperrte, hatte sie für einen Augenblick die Vorstellung, in eine fremde Wohnung einzudringen, und diese Vorstellung gefiel ihr. Sie hielt auch noch an, als sie ihre Jacke an den vertrauten Haken hängte, und selbst, als sie in der Küche das Wasser mit einem Glas in der Hand lange laufen ließ, schien es ihr, als nähme sie sich etwas heraus. Aber schon während es ihr in kühlen Schlucken langsam durch die Kehle lief und sie spürte, wie diese Kühle sich von innen bis in die Fingerspitzen ausbreitete, blickte sie durch das kleine Fenster ihrer Küche auf den Häuserblock gegenüber, der genauso aussah wie der ihre, und sie fühlte sich zu Hause. Der Himmel zeigte immer noch sein gleichförmiges schönes Grau, während der Regen sich offenbar nicht entschließen konnte aufzuhören: Immer noch fielen da und dort Tropfen. Sie sah es mit den Augen einer Siegerin.
Etwas hatte sich ereignet, das wußte sie, und es war etwas, was sie nicht am nächsten Tag in der Zeitung lesen würde. Nur sie wußte es, und deswegen konnte es ihr auch niemand wegnehmen. Sie zog es vor, einstweilen nicht weiter darüber nachzudenken.
Das wurde ihr leichtgemacht, denn mit einem Mal und unwiderstehlich hatte sie einen wilden Heißhunger, und da sie zugleich d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Der Auftrag
  6. Das zweite
  7. Raps
  8. Der Eisberg
  9. In der Tankstelle
  10. Heidelbeerjoghurt
  11. Will Eis
  12. Nach Mallorca
  13. Die Große Kurve
  14. The Lion
  15. Sauna
  16. Die Frau
  17. Dichten