Lebenskörner
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Lebenskörner

Roman

  1. 272 Seiten
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Lebenskörner

Roman

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Ostermontag im Jahr 1927. Giuseppina und Giuseppe Ingannamorte verlassen im Morgengrauen ihr Heimatdorf, um sich gegen den Willen des Vaters trauen zu lassen. Als Rosina Strumpflohner knapp siebzig Jahre später mit dem Auto ins Tal hinabbraust, ist die Welt eine andere. Sie sind nur drei jener Menschen, deren Leben Astrid Kofler vor dem Hintergrund der politischen Umwälzungen im Südtirol des 20. Jahrhunderts auffaltet. Behutsam schildert sie Schicksale aus alter und neuer Zeit, die sie zur bewegten Geschichte eines Dorfes verwebt. Der Alltag der Dorfbewohner rückt in den Mittelpunkt, das tägliche Miteinander, aber auch der Umgang mit den wichtigen Dingen des Lebens: Geburt und Tod, Arbeit und Liebe, Glaube und tägliches Brot.Kofler hat ein Buch vom Gehen-Wollen und Gehen-Müssen geschrieben, vom Sein und Bleiben, vom Ziehen und Sesshaftwerden, von moderner Migration. Den Blick stets auf den Menschen gerichtet, zeichnet sie geschichtliche Entwicklungslinien nach und nimmt den Leser mit auf eine bewegende Reise vom Damals ins Heute.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783709975152

1. Mai 1940

Als Seppl und Rosina Strumpflohner in den Wolken lasen

Die Blätter der Birken schlugen noch heftig aufeinander, das Wasser hing an ihnen und hielt sich fest, bis die Schwerkraft es brach, das Gras, die Ähren lagen flach, als hätten sie sich zum Schlafen gelegt. Das erste Sommergewitter war vorüber, die Wolkendecke brach auf. Der Wind hatte sich beruhigt, es dampfte nach Feuchtigkeit und es duftete nach Nadeln und Erde und Holz, es duftete nach Leben und Moder und Sauerteig, es war, als hätten sich die Sabbat haltenden Hexen verzogen.
So dunkel war der Himmel zuvor geworden und so schwer die Wolken, dass Kreszenz glühende Kohle aus dem Ofen genommen hatte, ins Rauchfass gebettet, etwas Olibanum darüber gebröselt und damit hinaus war, ihr Land in heiligenden Duft und Nebel zu legen, Weihrauch gegen die Wetterfront.
Jetzt waren die Berggipfel klar und nah und aus jedem Tal, aus jedem Krater kroch Nebel und löste sich im Pastell. Seppl lag mit seiner jüngsten Schwester Rosina am Abhang, sie hatten Sauerampfer zwischen den Zähnen und betrachteten die Wolken, es war nach den alten Kalendern der Beginn der warmen Jahreszeit, der Stichtag zwischen der Tag- und Nachtgleiche des Frühlings und der Sommersonnenwende. Weiß waren die Wolken wie der Rauch aus Großmutters Pfeife. Das Nass, das durch die Hosen, den Kittel, durch den Loden hindurch aus der Erde bis zur Haut sich saugte, merkten sie nicht.
Ich möchte fliegen, ich möchte mich nicht mehr spüren, ich will fliegen können und nicht fallen, wie Wolken schweben. Wie wird die Welt da oben aussehen, was ist jenseits des Nebels. Hügel, Türme, Schlösser, Luftschlösser. Träume. Ich will fliegen, kleine Rosina, kommst du mit mir, ich werde fliegen, auch wenn es der Krieg ist, der mir das Fliegen schenkt.
Schau ein Hund, sagte da Rosina und deutete hoch hinauf. Ein wolliger Hund, bejahte Seppl und begann zu suchen. Da ein Monster, ein Ungeheuer mit einem großen Maul, ein Schaf, ein Fisch. Sag Wolke, sagte er zu Rosina. Wolte sagte sie: Rosina kannte schon viele Worte, aber das g und das k konnte sie nicht. Sag Kuh, sagte Seppl, Tuh sagte Rosina.
Woltenballen, Woltentürme, Woltenhäuser, Woltenstraßen, Woltenflüsse, Woltenseen, Woltentreuze, Woltentotentöpfe, Woltenterzen, Woltentnödel, Woltenmus, Woltenhühner, Woltenvötel, Woltenhunde, Woltentermteit, Woltenschleier, Schleiertanz, Hexenleich, Engelsfedern.
Da muss es schön sein, da oben, dachte Rosina.
Es war das erste Mal während des Krieges gewesen, dass sie ein Flugzeug gesehen hatte.
Ein Ozeandampfer wie auf der Postkarte in Großmutters Zimmer, ein Feuerdrache mit großem Maul, ein zum Ausnehmen aufgehängtes Reh, ein Schwan. In Windeseile, gleich verweht.
Seppl hatte die ganze Zeit seinen Arm so liegen, dass sie ihren Kopf darauf lassen konnte und hochschauen, warm und weich. Die Hand war ihm eingeschlafen und er presste die Augenlider aufeinander, als es im Arm zu stechen begann, und er bewegte ihn nur unmerklich, um Rosina nicht zu stören in ihrem Traum mit offenen Augen. Der Einberufungsbefehl war schon da, bald war die Zeit gekommen. Bis dahin will ich noch täglich mit Rosina hinauf in die Wolken schauen, dachte er. Sie dachte an Murmeln und Puppen und Pilze und stinkende Morcheln und Räuber und Feen und Hölle und Himmel.
Er dachte an Weite und Weggehen und kein Gewicht haben und an einen Vater, den er nicht kannte, und eine Mutter, die er liebte, und einen Vater, den er nie enttäuschen wollte.
In der Ferne mähte ein Bauer frisches Gras, einen Rücken voll für seine Hasen. Er mähte mit der Sense von oben nach unten, gebeugt von der Arbeit.
Aus den Ähren wird Schrot und Korn gebrochen, mal ist es fein, mal ist es grob. Der Sensenmann gibt Tod und auch Leben, in sechs Monaten ist Allerheiligen, dachte Seppl, da stirbt die Kraft der Sonne, da wird der Winter wieder König. Und Rosina stand auf wie schlaftrunken, weil sie merkte, dass ihre Kleider feucht waren von Maitau und Regen.
Am Abend, als die Mutter den Ofen einheizte, um nasse Tücher darauf zum Trocknen auszubreiten, als sie den Ofen einheizte, da es unsicher war, ob das Wetter halten würde, und sie die Wäsche der Nachbarin gewaschen hatte, die ihr achtes Kind zur Welt gebracht hatte, als die Tücher auf dem Ofen zu dampfen und zu rauchen begannen und Rosina schon meinte, es würde gleich brennen, erklärte ihr Seppl, warum es dampft, warum es regnet und wie Wassertropfen zurück in den Himmel steigen. Er erklärte ihr, wie Wolken entstehen. Und Träume.

17. August 1942

Als Pfarrer Dominikus Schrott der Obrigkeit ein Kreuz legte und das Zeitliche mit dem Ewigen tauschte

Mitten in den Krieg hinein starb der Pfarrer, völlig unerwartet, er lag in der Früh des Mariähimmelfahrtsamstages tot in seinem Bett. Und das just an dem Tage, nachdem ein Seiltänzer im Dorf gewesen war und das Seil vom Rathaus hinübergespannt hatte bis zur Schule, mehrmals war er hin- und hergegangen mit seiner Balancierstange und sogar gesessen war er oben und gegessen hat er und geturnt und ein Rad geschlagen und erst zum Schluss war er ins Netz gefallen, das mit ihm schwang, so dass die Zuschauer die Köpfe einziehen mussten und lachten. Geld hat man ihm gerne gegeben, nicht viel, es waren harte Zeiten, aber doch, denn er hatte sie für kurz vergessen lassen.
Mitten im Krieg, an dem Tag, als das Bild eines von einem Panzer überrollten russischen Soldaten die Zeitung schmückte, die im Wirtshaus auflag, völlig unerwartet war Pfarrer Dominikus Schrott gestorben.
Er hatte sich gut arrangiert, der Pfarrer, mit den Örtlichkeiten, war in den Süden gegangen, die Sprache der neuen Landesherren zu erlernen, und war so seiner Gemeinde erhalten geblieben, ob sie ihn mochten oder nicht. Er war kein großer Redner gewesen, aber Sinn für Dramatik hatte er und eine Leidenschaft für das Umgangsspiel in der Kirche, und als jenes verboten ward und auch die Blasmusik nicht mehr erlaubt, verlegte er die Prozessionsgänge weg vom Inneren des Dorfes, da ihm ohnehin der Weg zu kurz erschienen war, der Weg aus dem Seiteneingang der Kirche hinaus zum Schulhaus, beim Widum vorbei zum Platz mit dem Gasthof und der Handlung und dem Rathaus und dann gleich durch den Friedhof wieder und durch den Haupteingang in die Kirche zurück.
Aus der Prozession eine inszenierte Zurschaustellung aller Heiligenfiguren und Statuen zu machen, die er aufbieten konnte, das war nicht der einzige Grund gewesen, weshalb der Pfarrer sich für eine Verlängerung des Weges entschied, den die Gemeinde abzuschreiten hatte.
Dass gerade gegenüber dem Hauptportal der Kirche sinnlose Sprüche die Häuser zierten, credere obbedire combattere, stand auf dem Gasthaus, und am Rathaus gegenüber der Kirche war zu lesen: una forza divina ci fa marciare e vincere. Dass gerade gegenüber dem Gotteshause solches zu lesen war, dass eine göttliche Kraft es sein sollte, die marschieren lässt und siegen, hatte ihn ohnehin schon verärgert, und als er diese Sprüche erstmals gesehen hatte, hätte er am liebsten den Schleim gesammelt, der ihm im Halse steckte, und ihn auf die Straße gespuckt, genau dorthin, wo die Carabinieri ihr offenes Auto zu parken pflegten.
Dass sich zudem genau am Platze vor dem Rathaus die Bittgänger jedes Mal stauten, weil der Eingang in den Friedhof schmal war, man aber hier an der Westseite durch den Friedhof musste, um zum Hauptportal zu kommen, dass sich gerade am Platze direkt unter der flatternden Tricolore die Menschen stauten, auch das hatte Pfarrer Schrott schon öfters gestört. Es musste doch aufgefallen sein, so hatte er beschlossen, dem Bürgermeister gegenüber die Verlegung zu begründen, es musste doch aufgefallen sein, dass das Gebet gestört würde durch die Unruhe vor der Kirche und ein Fließen geziemender sei im Sinne der Botschaft als das Drängen und Schieben, das ihn zudem jeweils in Angst und Schrecken versetze, was da wohl passieren könne, wenn einem schlecht würde oder ein Vieh auskomme und in die Menge gerate.
Dass in fast jeder Kirche der Altar im Osten lag, da vom Osten die Erlösung kam, im Westen aber die Sonne unterging, im Westen also das Dunkle, das Böse liege, dass in diesem Dorfe im Westen der Kirche nun das Hauptquartier allen Unheils zu finden war, das hatte er einmal angedacht, darüber weiterzudenken sich aber verboten.
Ein erweiterter Prozessionszug schließlich würde alle Bewohner herbeizitieren, das wiederum beschloss er mit Gott zu besprechen: Dass sie geeint durch die Straßen gingen, Dableiber und Paradiessucher, dazu musste eine lange Straße her, eine die bis hinunter zum See führte und wieder zurück. Da würde dann offensichtlich, wer sich drückte. Beim Aufwärtsmarschieren mit den Figuren auf den Schultern, den Lattengestellen zwischen Hals und Knochen, würde ihnen das Streiten schon vergehen.
Schon vor dem Kriege hatte er sich vorgenommen, alle Figuren wieder auferstehen zu lassen, sie sollten lebendig werden hinter ihrer Schrundigkeit, ihre Geschichten sollte man kennen, wie das Bauchweh der Nachbarin, dass der heilige Josef nicht immer der Landespatron war, dass der heilige Georg einst das Land beschützte, dass der heilige Romedius auf einem Bären ritt und die heilige Notburga auch für die Dienstboten zuständig war und nicht nur für die Bauern, dass der selige Heinrich auf die Holzfäller schaute.
Vor dem Krieg hatte er das Gefühl gehabt, dass Legendenkunde Not täte, dass seine Schäfchen zu wenig wüssten. Nach dem Kriege war ihm klar geworden, dass er über Heiligen- und Märtyrer- und Engelsgeschichten beitragen konnte, sie in ihrer Muttersprache zu beflügeln.
Der Herr Pfarrer war ein Patriot gewesen und war gerne in den Krieg gezogen und hatte die Soldaten gesegnet und getröstet und wieder gesegnet und war ein Patriot geblieben, der unvermindert seinen König liebte: Für das kleine Sterbekreuz und das Kreuz, das er auf Baumstümpfen aufzustellen gepflegt hatte bei den Messen unter freiem Himmel vor der Schlacht, hatte er einen besonderen Platz eingeräumt nach seiner Rückkehr in dem langen Gang im Widum, von dem aus Türen in die Küche führten, ins Musikzimmer und die Bibliothek, in sein Zimmer und das der Häuserin, das sie aber nur hie und da bewohnte. Einen Holztisch hatte er in den Gang gestellt und darauf die Decke gebreitet, die er während des Krieges mit sich getragen hatte, das Sterbekreuz, das Feldkreuz und dahinter die helle Ledertasche, in der er während der vier Jahre seine Utensilien sicher bewahrte. Und darüber hingen seine Auszeichnungen, fünf Orden hingen da, die er für seine Tapferkeit und Standhaftigkeit erhalten hatte.
Der Krieg hatte ihn aufgehalten, aber schon gleich nach der Heimkehr hatte Dominikus Schrott begonnen, die jungen Männer einzuteilen, wer aufzuräumen hatte im Dachboden des Widums und in jenem der Kirche und im alten Küsterhaus. Vor allem das Küsterhaus hatte es ihm angetan, es war einst der Kornkasten gewesen des Dorfes, dann hatten die Mesner darin gewohnt und als Schule war es benutzt worden, bis der Wirt die Pferde unterstellte und das Haus zur Abstellkammer wurde aller Gegenstände, die man aus der Kirche warf. Überhaupt war die Kirche zu oft restauriert worden in des Pfarrers Augen, immer wieder hat man weggeschmissen, was einst neu war, sogar die Krypta hat man zugeschüttet und den Hochchor niedergeschlagen, den Volksaltar nach hinten versetzt, als würden diesem kleinen Dorfe mit einem Male noch viel mehr Söhne und Töchter geboren. Völlig leeren ließ er das Küsterhaus, und als alles geputzt war und sortiert, ließ Hochwürden wieder einräumen, die Bücher zurück in die Bibliothek und die Bilder und Monstranzen und Votivtafeln und Reliquienherzen in die alten Schulschränke und die Figuren ließ er aufstellen und zudecken mit Leinentüchern, auf dass sie geschützt waren. Allerlei war gefunden worden in dem Gerümpel: der große Schutzengel, der in der Luft schwebte, eine Hand nur auf dem Kopfe eines kleinen Engels ruhend, ein Meisterwerk in der Ausarbeitung, dass der kleine Kopf alleine den großen Engel hielt und ihn auch nicht zum Kippen brachte, wenn vier Menschen das Bildnis trugen und aus dem Rhythmus kamen und abwärts gingen und über Geröll und Holperstein. Die Schmerzenskönigin, mit den sieben Schwertern in ihrer Brust, ein Mantel von einem Blau aus unendlicher samtener Tiefe, ein Beutel am Gürtel mit ihrem Namen drauf, Maria, geschrieben auf zwei Zeilen in einem Quadrat, Ria in der unteren, in der oberen das A und das M so verschränkt, dass sie drei Zacken ergaben, eine Krone oder zwei Fische, ineinander verschmolzen. Eine Pietà und auch ein Schmerzensmann ward gefunden im Gerümpel, in rotem Umhang sitzend, der Herr im Elend, ecce homo hat der Statthalter des römischen Kaisers gerufen, als er dem Volke den gegeißelten und mit Dornen gekrönten Christus zeigte, seht, der Mensch.
Die neuen Machthaber sind an dieses Land gekommen wie Pilatus ins Credo. Es brauchte sie wirklich nicht.
Er war ein Patriot gewesen, der Herr Pfarrer. Er hatte sich oft mehr gedacht, als die Gemeinde wusste, er glaubte auch nicht, dass sie verstehen mussten, was er dachte. Als zwei kleine Statuen gefunden wurden, die die Kinder gerne getragen hätten, weil sie leicht waren und nicht groß, als er verstand, dass es Darstellungen des Anderle von Rinn waren und des Simele von Trient, ließ er sie gar nicht erst putzen, sondern schnell wieder verschwinden, in seinem Dorf wurde nicht der Legende gefrönt, dass die zwei unschuldigen Kinder vor Hunderten von Jahren von Juden ermordet worden wären.
Je nach Feiertag hieß er die Prozessionsfiguren hinuntertragen zum See, die Heilsgeschichte vom Sündenfall bis zur Auferstehung, die Stationen des Kreuzweges Jesu, fünfzehn Figuren hieß er sie schleppen, die leichteren gab er den Kindern und alten Männern, die schweren den wenigen Burschen, die die Einberufung bislang verschont hatte, dem Sohn des Bürgermeisters gab er die schwerste, der unabkömmlich war, weshalb auch immer, die heilige Muttergottes aber hieß er die Frauen tragen, die stark waren und die Schwernis gewohnt, die Haare von Wachsblumenkränzen umfangen, von Kränzen aus Blumen und Blättern und weißgelblichen Perlen, wie viele Stunden waren sie gesessen, die heißen Tropfen aufzufangen und auf Draht zu wickeln und zu binden.
Es war eine Zeit, in der vieles anders ging und man Regeln interpretierte und Auswege und Umwege suchte, um sich treu zu bleiben und seinem Glauben.
Das habe ihm Gott so eingegeben, hatte der Pfarrer dem Commandante gesagt, er sei ihm erschienen und habe gesagt, dass sie zum See gehen sollten, zum brüllenden See, um ihn zu beruhigen. War nicht der Fisch das Symbol von Gottes Sohn, hatte der Pfarrer noch gefragt, bevor er eine Antwort erhalten hatte und ohne auf eine Antwort zu warten. In dem See, da würden Irrlichter gesichtet, immer wieder, auch das hatte er einmal in einem für ihn richtigen Moment bemerkt, das seien Geister, die beruhigt werden wollten.
Er war ein Dableiber gewesen, er hatte, was er dachte, durchaus von der Kanzel gepredigt, er hatte, als ein Geher vor dem Stoffgeschäft der Dableiberin abwehrende Position bezog, sich auf den Dorfplatz gestellt und gewinkt und gerufen, dass alles Leinen reduziert sei und die Frauen bitte Vernunft gelten lassen sollten vor Verblendung.
Nie aber hat er einen Unterschied gemacht, und jede Totenpredigt war schön.
So trug man auch ihn in seinem Sarg hinunter zum See und alle schritten mit und man ging mit ihm entlang des Ufers bis zum Steg, an dem die Frauen die Wäsche zu spülen pflegten, vorbei am Marterle gingen sie, das Fremde hier aufgestellt hatten in Gedenken an ein Kind, das in dem Jahr ertrunken war, als der große Streit ausbrach unter ihnen, als hätten sie es mit den neuen Machthabern nicht eh schon schwer genug. Und voraus gingen Frauen und Kinder und trugen in Körben Korn und Eier und Brot und sogar eine lebende Henne ward gebunden und getragen, das Leben ging weiter nach dem Tod.
Eine Menge Olibanum in granis hatte der Kooperator in Säckchen abgefüllt, fleißig ließ er sie die Ministranten schwenken, ganze Hände voll getrocknetem gekörntem Weihrauch, und des alten Pfarrers Haushälterin Tresl weinte den ganzen Weg und ein Krampf folgte dem nächsten und ihr Körper ward davon geschüttelt und man war überrascht und war stets der Meinung gewesen, ihr Gemüt müsse so erhärtet sein wie die Knochen der Schädel, die sie mit ihrer Schwester bemalte, und manch einer dachte sich, so ein Geheule würde sich nicht ziemen für die Köchin eines Pfarrers.
Just als sie ankamen am See, begann es zu regnen, zunächst zaghaft fielen schwere Tropfen vom Himmel auf das gekräuselte Wasser, in dem sich vom Wind geblasene und von der Strömung mitgerissene Wellen stritten. Zaghaft begann es zu regnen, große schwere Tropfen, die von der Oberfläche angezogen wurden wie Magnete und wenn die Tiefe sie verschlang, so erschien die Haut wie gelöchert.
Jeder Tropfen war ein Rin...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. 18. April 1927, Ostermontag
  7. 8. Dezember 1927
  8. 24. September 1939
  9. 6. November 1939
  10. 1. Mai 1940
  11. 17. August 1942
  12. 9. September 1943
  13. 3. Dezember 1943
  14. 7. Juli 1944
  15. 11. November 1944, St. Martin
  16. 18. Jänner 1945
  17. 30. März 1945
  18. 10. Juli 1945
  19. 27. Juli 1946
  20. 28. Februar 1947
  21. 18. September 1949
  22. 9. November 1949
  23. 11. August 1950
  24. 6. April 1953, Ostermontag
  25. 18. Juni 1956
  26. 23. Februar 1958, Holepfannsonntag
  27. 20. Jänner 1960
  28. 14. Februar 1960
  29. 20. August 1961
  30. 24. Juli 1964, St. Christophorus
  31. 11. September 1965
  32. Dienstag, 1. Juli 1969
  33. 24. Dezember 1970, Heiligabend
  34. Donnerstag, 8. Juni 1972
  35. 19. April 1973, Gründonnerstag
  36. 17. November 1973
  37. 4. November 1974
  38. 3. November 1980
  39. 11. Juli 1982
  40. 6. Jänner 1990, Perathnacht
  41. 24. Juni 1992
  42. 6. Februar 1993
  43. 3. März 1993
  44. 9. April 1993
  45. 15. August 1994
  46. 12. September 2001
  47. 14. und 15. August 2004, Mariä Himmelfahrt
  48. 13. Dezember 2005
  49. 10. Juni 2006
  50. 13. Dezember 2006
  51. 10. August 2007