1. VIER MÄNNER
Parnass der, griech. Parnassos, Kalkgebirge in Mittelgriechenland nördlich des Golfs von Korinth (bis 2 457 m ü.M.). Am Südfuß liegt Delphi. Der Parnass galt in der Antike als der Sitz des Apoll und der Musen; daher in übertragener Bedeutung auch „Reich der Dichtkunst“.
Der Parnass ist eine allgemein akzeptierte Metapher für die höchste Anerkennung literarischer, musikalischer oder intellektueller Leistungen. Die Ankunft auf diesem erhabenen Gipfel beweist, dass der Prozess der Kanonisierung abgeschlossen ist. Das eigentliche Thema des folgenden Quintetts von Gesprächen ist im Grunde eine eingehende Untersuchung des Verlangens nach Kanonisierung sowie des Prozesses, wodurch diese erreicht wird. Von meinen vier Protagonisten gelangte nur Walter Benjamin – der heute als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Philosophen und gesellschaftskritischen Literaten des 20. Jahrhunderts gilt – postum auf den Parnass. Die anderen drei hatten ihn schon vor ihrem Tod erreicht. Zur Zeit seines Selbstmords im Jahre 1940 attestierte nur ein kleiner Kreis vorwiegend deutscher Intellektueller – darunter Theodor Adorno, Hannah Arendt, Bertolt Brecht und Gershom Scholem – Benjamin das Format für den Parnass. Inhalt und Stil seiner Schriften waren so komplex, ja sogar verschlungen, der Umfang seiner Interessen so breit gefächert und seine Veröffentlichungen so fragmentarisch, dass nur wenige Zeitgenossen und insbesondere Adressaten seiner Briefe und Nachdrucke in der Lage waren, die außerordentliche geistige Tiefe und Spannweite dieses großen Denkers zu erfassen und zu würdigen. Um Hannah Arendt zu paraphrasieren: Um Berühmtheit zu erlangen, genügt nicht die Meinung einiger weniger. Erst als seine Schriften ab den 50er-Jahren von Adorno, dessen Frau Gretel und Scholem gesammelt und herausgegeben wurden, fand Benjamin in Europa Anerkennung. Das entscheidende Ereignis in Amerika war 1968 die Veröffentlichung der englischen Übersetzung der berühmtesten Essays von Benjamin, die Hannah Arendt unter dem Titel Illuminations zusammengestellt hatte, zu einer Zeit, als Benjamin bereits auf dem Parnass etabliert war. Aber wie Arendt in der Einleitung zu Illuminations schreibt: „Postume Berühmtheit ist etwas zu Sonderbares, um die Blindheit der Welt oder die Korruption eines literarischen Milieus dafür verantwortlich zu machen.“ Aber es muss auch der richtige Zeitpunkt sein, und das postnazistische, von der marxistischen Dialektik beherrschte Klima der 60er-Jahre, das 1968 in der Studentenbewegung kulminierte, war ideal.
Ich habe gewisse Regeln und Bedingungen für den Parnass erfunden, auf dem meine vier Protagonisten schließlich noch einmal zusammenkommen. Benjamin hatte seine Freunde Adorno und Scholem um ein Treffen gebeten, um Aufklärung über einige ihm fehlende Fakten zu erhalten, da auf meinem postmodernen Parnass alles, was zu Lebzeiten einer Person und seit ihrer Ankunft auf dem Parnass geschah, bekannt ist. Es besteht sogar Internetzugang und die Möglichkeit, ähnlich wie bei Amazon, neu erschienene Bücher zu bestellen, aber es gibt weder E-Mail-Verbindung mit der Außenwelt noch kann man neue Werke hervorbringen. Worin liegt dann Benjamins Problem? Da er als einziger postum auf den Parnass kam, weist sein autobiografisches Wissen eine Lücke auf zwischen seinem Selbstmord im September 1940 und seiner Ankunft auf dem Parnass zwei Jahrzehnte später. Können die beiden ihm helfen, diese Lücke zu schließen?
In den aberhundert einschlägigen Büchern und in Tausenden von Artikeln tritt das Trio Benjamin, Adorno und Scholem häufig gemeinsam auf. Aber was ist mit der Anwesenheit des Vierten, mit Arnold Schönberg? Es gibt keinerlei Beweise, dass Benjamin oder Scholem dem Komponisten je begegnet sind. In der Tat lassen nicht einmal Benjamins Schriften irgendeine Affinität mit oder ein Interesse an Schönberg erkennen, obwohl ich im Folgenden ein nachweisbares, bislang unbekanntes entferntes Verwandtschaftsverhältnis schildere. Adorno dagegen stand sein Leben lang mit Schönberg in Verbindung. 1925, als er Anfang Zwanzig war und bereits eine Doktorarbeit in Philosophie vorgelegt hatte, ging Adorno nach Wien, um bei Alban Berg, Schönbergs berühmtestem Schüler, Kompositionslehre zu studieren. Jahrelang hatten sie eine respektvolle, aber streitbare Beziehung4, die auf eine schwere Probe gestellt wurde, als Schönberg Adorno beschuldigte, ihn verzerrt dargestellt zu haben, als er Thomas Mann bei der Entwicklung der Hauptfigur, des Zwölfton-Komponisten Adrian Leverkühn, seines Romans Doktor Faustus beriet. Schönberg verzieh Mann später, Adorno dagegen nicht.
Aber das ist nicht der Grund, warum ich das Trio durch Schönberg ergänzt habe. Ich brauchte ihn sowohl als wichtige Kontrastfolie wie auch als Akteur in den Kapiteln 2, 3 und 4, weil die Kanonisierung, um die es in diesen Kapiteln immer wieder geht, nicht nur Personen betrifft, sondern auch Kunstwerke, einschließlich Kompositionen. Arnold Schönberg hat ein vierhändiges Schachspiel, das Bündnisschach, erfunden. Die Grundregeln dieses Schachspiels sind wie folgend: Zwei der vier Spieler haben 12 Schachfiguren (gelb und schwarz) zu ihrer Verfügung und repräsentieren somit die beiden „starken“ Mächte, während die anderen zwei nur sechs Figuren besitzen (grün und rot) und somit die „schwachen“ Mächte darstellen. Nach den ersten drei Zügen ergeben sich zwei „Koalitionen“ indem sich eine der schwachen Mächte einen starken Partner zum Bündnis auswählt. Das Spiel setzt sich nun fort bis eine Partei schachmatt ist.
Da die Gesprächskonfrontationen meiner Protagonisten geradezu als Folge von sozialem Schachspiel betrachtet werden können, die sowohl Angriff-Abwehr als auch kollaborative Züge aufweisen, führte Gabriele Seethaler visuelle Modifikationen von Schönbergs Bündnisschach als Leitmotiv für die fünf Kapitel ein – für sich allein schon ein attraktives fotorealistisches Gambit.
Und nun möchte ich Ihnen meine vier Schachspieler vorstellen, bevor wir uns ihren Ehefrauen zuwenden.
Max Bruchs Kol Nidrei setzt ein, beginnend mit dem vollen Klang des Cellos5
SCHÖNBERG: Schluss! (Musik bricht abrupt ab) Heute ist Jom Kippur … der Versöhnungstag, an dem das Kol Nidrei gespielt wird. Aber warum immer das von Max Bruch? Zumindest hier oben, auf dem Parnass, wollen wir zur Abwechslung einmal meine Version hören. Ohne die Cello-Sentimentalität von Bruch. Das Kol Nidre braucht das gesprochene Wort … nicht nur Musik!
Schönbergs Kol Nidre (Opus 39)6 soll mit den letzten 20 Sekunden der Einleitung beginnen, bevor die Männerstimme einsetzt mit: „Die Kaballah erzählt uns folgende Legende: Am Anfang sprach Gott: ‚Es werde Lich‘“, und vorzugsweise endend
mit: „Be...