Unsicherer Grund
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Unsicherer Grund

Erzählungen

  1. 104 Seiten
  2. German
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Unsicherer Grund

Erzählungen

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Über dieses Buch

Andreas Neeser erzählt von rastlosen Zeitgenossen: Büchersammler, Stadtstreuner, Reiseberater, Fußballer, Klippenwanderer und Immobilienmakler. Sie alle sind auf der Suche - auf der Suche nach den eigenen Denk- und Lebbarkeiten jenseits aller vorgefertigten Wahrheiten. Entlang von zarten Vergangenheitsfäden bewegen sie sich zurück in ihre Erinnerungen, in die Gerüche, Geschmäcker und Gefühle ihrer Kindheit, wo sie Antworten erhoffen auf die Vieldeutigkeiten des Lebens. Doch das Haus der Erinnerungen steht auf dem unsicheren Grund von Ahnungen, Möglichkeiten und Konjunktiven. So sind es die kleinen Schritte, denen es sich zu stellen gilt. Neesers Figuren tun es ohne jedes Selbstmitleid oder Pathos, und wir gehen ebenso fasziniert wie berührt ein Stück des Weges mit. Mit außergewöhnlicher sprachlicher Sensibilität gestalten die Erzählungen Andreas Neesers eine vielschichtige Topografie der alltäglichen Gefährdung und der Sehnsucht nach dem eigenen Ich - und versammeln sich zu einem wunderbar hellen Buch.

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Information

Jahr
2011
ISBN
9783709975060

Einsame Magier

Es regnet, wie es die letzten Tage geregnet hat. Bindfäden scheinen das Tief über der Stadt festgezurrt zu haben. Am Radio spekulieren die Meteorologen über Rekordwerte. Die Zeitung verkündet den niederschlagsreichsten Oktober seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen, keine zwanzig Stunden Sonne in den letzten drei Wochen. Die Nachricht, es gebe gar kein Wetter in diesen Tagen, würde ich mit derselben Gleichgültigkeit zur Kenntnis nehmen. Noch immer lebe ich hier in dumpfer Vorläufigkeit, körpere ziellos umher, ich wäre nicht erstaunt, wenn ich ein anderer wär.
Es juckt in der Nase, ein aufdringlicher Reiz. Ich wische ihn mit einer raschen, unwilligen Bewegung aus dem Gesicht. Sämtliche Grippewellen sind dieses Jahr an mir vorübergegangen, selbst der Dauerregen und die unüblich tiefen Temperaturen haben meinen anfälligen Atemwegen bisher nichts anhaben können – und jetzt scheint die Immunabwehr den Dienst zu quittieren. Ich stelle den Kragen der Lederjacke hoch, gehe gegen den Wind, den aufgeklappten Schirm schräg vor dem Gesicht, halb Schild, halb Waffe. Mit einem Schal und einer Packung Echinacea sollten die Abwehrreihen neu zu motivieren sein. – Es juckt wieder. Während ich mich durch die samstäglichen Menschenmassen pflüge, blähe ich die Nasenflügel, atme heftig ein, drücke sie mit Daumen und Zeigefinger ein paar Sekunden gegen die Scheidewand.
Vielleicht zwanzig Meter vor Peek & Cloppenburg passiert es. Motorenöl eines Modellflugzeugs. Durch die ahnungsloseste Öffnung meines Körpers dringt es ein.
Ich stelle mich in den Eingang, lasse die Warenhauswärme auf mich herabströmen. Die Menschen fließen in lauten, bunten Wellen an mir vorbei, links und rechts. Ich sehe hundert Gesichter – und mittendrin, durch die Jahrzehnte herangezoomt, die bleiche, glasigreine Haut von Thomas, die übergroßen, viel zu dünnen Ohrmuscheln, deren Knorpel und Äderchen im Gegenlicht eine irritierende subkutane Landschaft bilden. Im viel zu großen Arbeitskittel seines älteren Bruders steht er an der Werkbank, beugt sich über kleine, kleinste Teile aus Balsaholz. Eine Spotlampe leuchtet von der Wand, der Lichtkegel fällt auf den kleinen Motor, der im Schraubstock festgeklemmt ist. Regelmäßiges, dann wieder stotterndes Surren in schmerzhafter Tonlage, ab und zu ölige Spritzer. Thomas erhöht die Drehzahl. Der Motor läuft auf vollen Touren, der Propeller ist eine flirrende Scheibe. Ein strenger Geruch erfüllt den fensterlosen Kellerraum. Verbranntes Rizinusöl. Thomas macht einen Schritt zurück und dreht sich zu mir um. Mit den beiden Zeigefingern hält er sich die Nase zu. Seine Ohren leuchten.
An einem Sonntag ging ich mit zum Jungfernflug seines neuesten einmotorigen Hochdeckers. Eine Piper L3. Alle paar Wochen trafen sich die Modellflugzeugbauer auf dem Hochplateau im Nachbartal, nutzten die verkehrsarme Verbindungsstraße als Start- und Landebahn. Ein heißer, windstiller Sommertag. Die Freizeitpiloten kauerten im Gras neben der Piste. Mit einer Behutsamkeit, die mich gleichermaßen irritierte und beeindruckte, warteten sie die zerbrechlichen Flugzeuge, polierten, streichelten sie – wie in den Fernsehfilmen, die ich nicht sehen durfte, die Liebhaber ihre Verehrerinnen.
Dort oben gab es einen einzigen Geruch: denselben wie in Thomas’ Keller. Die schwitzenden Piloten, der von der Sonne aufgeweichte Asphalt, das frisch geschnittene Gras im angrenzenden Feld – nichts roch nach sich selbst.
Eine Gruppe übermütiger Japanerinnen, schwer behängt mit Papiertaschen, schwemmt mich aus meinem trockenen, warmen Unterstand auf den Gehsteig. Ich gehe ein Stück des Wegs zurück, den ich gekommen bin. Der Turm der kriegsversehrten Kirche schräg gegenüber ragt hinter einem schmutzigen Dunstschleier in den Himmel. – Motorenöl. – Ich prüfe jedes Schaufenster, suche den Gehsteig nach frischen Ölflecken ab. An dieser Straße gibt es keine Modellflugzeuge. Nirgends Motorenöl. Nicht mein Immunsystem also hält mich zum Narren, sondern meine Nase. Und was soll ich damit anfangen? Ich will hier vergessen, den Kopf freibekommen für eine Zukunft.
Auf dem Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen setze ich mich auf eine regennasse, weiß lackierte Bank. Unschlüssig, ob ich noch ratlos oder schon wütend oder längst beides bin, massiere ich in kreisenden Bewegungen die Nasenflügel.
Als Erstklässler stürzte ich bei einem waghalsigen Fahrradmanöver so unglücklich, dass ich ins Krankenhaus gefahren werden musste. Gestauchte Lendenwirbel, zwei ausgeschlagene Zähne, Hirnerschütterung, Nasenbeinbruch. Die Krankenschwester schrieb mir die lateinischen Fachbegriffe auf eine Illustration des menschlichen Skeletts. Halb so schlimm, sagte sie mit schmaläugigem Akzent. Das sehe zwar übel aus in meinem Mund, sei aber leicht zu reparieren, Zähne hätten sie sogar in Gold und Silber.
Nach zwei Tagen Bettruhe hatte ich mich einigermaßen erholt. Die Blumen aber, die mir Mutter auf den Nachttisch stellte, rosa Lilien – ich konnte sie nicht riechen. Ebenso wenig die reifen Pflaumen von Tante Rita, die Wacholderessenz, mit der mir Schwester Miranda den Rücken einrieb. Ich lebte in einem olfaktorischen Vakuum. Meine Welt war geschrumpft. Die Stimmen auf dem Korridor, Schwester Mirandas Dekolletee, die schorfigen Stellen am Kinn, der Hauch von Zitronen in den knalligen Lutschtabletten – mehr blieb mir nicht.
Am fünften Tag wurde ich entlassen. Während Vater schweigend durch den Verkehr nach Hause navigierte und immer wieder einen zufriedenen Blick über die Schulter warf, genoss ich auf der Rückbank den Lebkuchen, den Mutter für mich gemacht hatte. Und mit einem Mal war der Geruchssinn wieder da: Der Lebkuchen roch nach Wundverband, und ich täuschte mich nicht. Das frische Hemd, die Sitzpolster, die Schuhe. Es gab nur diesen einen Duft.
Lang anhaltendes Hupen, quietschende Reifen. Auf der Höhe von P&C trottet ein Hund über die Straße, kommt geradewegs auf mich zu. Der schwarzweiß gescheckte, verwahrloste Mischling rollt sich vor mir im nassen Gras, schüttelt sich, dass es spritzt, und macht sich ohne zu zögern daran, die beiden anderen Fahrspuren ebenfalls zu überqueren. Ich wende mich nicht um. Nach ein paar Augenblicken löst sich die Anspannung im Nacken.
Hätte es ein paar Meter vor P&C nach Krankenhaus gerochen, nach Desinfektion und Wundverband, das wäre zu verstehen. Spontanes Aufbrechen eines Kindheitstraumas, von mir aus, damit könnte ich leben. Aber verbranntes Rizinusöl? Und es gibt keine wesentlichen Einschränkungen, die dem Unfall von damals zuzuschreiben wären. Die chronischen Atembeschwerden sind nach einer Reihe von Abklärungen ohne spezifischen Befund geblieben, medizinisch gesehen hat es sie gar nie gegeben. Trotzdem haben sie mich stets motiviert, meinen Geruchssinn über die Jahre systematisch auszubilden und zu verfeinern. Anders wäre der Job bei der Reiseagentur nicht zu machen, zumal die Zeiten, da sich die Urlaubswünsche der Kundschaft nach dem Katalogangebot zu richten hatten, längst vorbei sind. Vielmehr erfahre ich fast täglich, dass in einer Reiseagentur rein gar nichts verloren hat, wer sich nicht um eine möglichst ganzheitliche Einschätzung der Kundschaft bemüht. Vieles klärt sich zwischen Eingangstür und Bürotisch, gerade bei Frauen, allen Klischees und Vorurteilen zum Trotz. Frauen mit knallroten Lippen etwa sind Winterkinder. Sie brauchen viel Sonne, eine kleine, warme Insel. Kundinnen mit verstelltem Blick können noch so rote Lippen tragen, sie buchen immer wieder Gruppenreisen mit Animationsprogramm. Die eigentliche Herausforderung jedoch beginnt, wenn mir die Kundinnen gegenübersitzen. Den persönlichen Urlaubswunsch aus dem Duft des Parfüms herausriechen. Immer gelingt das nicht. Parfümträgerinnen mit schweren Essenzen in der Duftbasis aber vermeiden in der Regel lange Distanzen, während bei Ingwer oder Bergamotte fast immer mit einem Überseeflug zu rechnen ist. Unparfümierte Kundinnen bevorzugen grundsätzlich die Bahn, Bergwanderwochen, Vollpension; aus angemessener räumlicher Distanz jemanden einzuschätzen, der nach sich selbst riecht, ist allerdings ein nahezu aussichtsloses Unterfangen. Geruchlose Kundinnen, und es gibt mehr davon, als man denkt, bringen einen an die Grenzen der beraterischen Möglichkeiten. In der Regel sehen sie genau so aus, wie sie riechen: nach nichts. Sie sitzen einem gegenüber, aber es gibt sie gar nicht, sie sind unsichtbar, ein Duftloch. Man ist versucht, ihnen die Vorzüge eines liebevoll gestalteten Balkons zu erläutern, die entspannende Wirkung eines Ausflugs in den städtischen Zoo oder den reinigenden Effekt von ätherischen Ölen im Badezusatz, verordnet ihnen dann aber doch das Pauschalangebot für eine All-inclusive-Woche Mallorca.
Vielleicht sollte ich mich intensiver mit männlichen Urlaubern beschäftigen. Feldforschung in der Großstadt, obwohl ich mir geschworen habe, während meiner Auszeit weder an den Job zu denken noch etwas dafür zu tun. Ich könnte die Riechdiagnostik weiter perfektionieren. Nicht aufblicken, wenn die Tür hinter der Kundin zuschlägt, warten, bis sie sich hingesetzt hat – und die Nase in Sekundenbruchteilen über den Urlaubswunsch entscheiden lassen. – So habe ich Marianne kennengelernt. Ich war mit Versicherungen für eine Fortbildungsreise von Gymnasiallehrern beschäftigt, als mich der Duft traf. Kein typisches Winterparfüm. Eine leichte Note von Veilchen, die Basis aus Moschus. Die Frau, die vor mir saß, hatte kurzes rossbraunes Haar, blaue Augen, wässerig beschleiert, mit einem Stich ins Grüne. Frostroter Lippenstift. Kein Make-up. Als ich mich gefangen hatte, wusste ich: zwei Wochen Tauchen auf den französischen Antillen.
Einen Monat später zogen wir zusammen.
Kurz vor meiner Abreise habe ich im Büro meine Großmutter gerochen. Sie ist seit über zwanzig Jahren tot, aber die Strenge des Geruchs ließ weder Zweifel noch Fragen zu. Der Mann war lautlos eingetreten....

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. So viel Leben
  6. Von Fenster zu Fenster
  7. Damals an Ostern
  8. Seesicht
  9. Und das Meer lag nicht vor Lissabon
  10. Einsame Magier
  11. Gran Partita
  12. Da, wo alles angefangen hätte
  13. Inhalt