Tod Weidigs
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Tod Weidigs

Acht Erzählungen

  1. 135 Seiten
  2. German
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Tod Weidigs

Acht Erzählungen

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Über dieses Buch

Dieser Band enthält acht Erzählungen: Tod Weidigs, Der Aufenthalt, Ist dieser dunkle Raum die Welt, Die Brunnenentgifter, Die Zerstückelung, Der Tunnel, Nachruf, An der Ruhe gemalt.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783709973196

Die Zerstückelung

Kainz hatte mich überraschend am Abend in die Wohnung des Assistenten gerufen. Eigentlich rufen lassen, durch diesen Assistenten, per Telefon, dessen Stimme mir auf die Entfernung sofort belegt vorgekommen war, die mir zum erstenmal als eine vollkommen fremde, wenn auch natürlich bekannte erschien. Was ist nur mit dieser Stimme passiert, dachte ich, ich machte mir Sorgen um sie, ist denn der Assistent krank, etwa erkältet, oder ist es mein Telefon, fragte ich mich, das nicht in Ordnung ist, und ich blies in die Muschel, mehrmals hatte ich heftig in meine Muschel geblasen, während von der anderen Seite der Assistent auf mich einsprach, was aber wieder auf der anderen Seite beim Assistenten Befremden ausgelöst hatte, der seine Stimme, im Gegensatz zu mir, vollkommen normal fand, mit der er mich also noch für den gleichen Abend, auf der Stelle, wenn möglich sofort, sagte er, in seine Wohnung bestellte, die wir ja schon des öftern, eigentlich immer in den vergangenen Wochen, die uns in der gemeinsamen Arbeit zusammengebracht, zusammengeschmiedet hatten, wie ich noch glaubte, zu unseren Aussprachen und Absprachen benutzt hatten, mir fiel also, außer der belegten Stimme, gar nichts Besonderes auf, die uns auch ausdrücklich, allen dreien zusammen und mehrfach durch Erheben der Gläser und immer erneutes Anstoßen und Zuprosten beglaubigt, als unsere konspirative Wohnung bekannt war, gegen den ganzen Kulturbetrieb, wie ich dachte, gegen das ganze Affentheater, ein Ausdruck, an dem wir uns immer wieder zu dritt zu später Stunde, zu jeder Tages- und Nachtzeit, begeilt hatten, lachend natürlich, uns kindlich und kindisch über den Kalauer freuend, die aber jetzt, wie ich sogleich bei meinem Eintreten, kurz nach dem Anruf, bemerkt hatte, aus der triefenden Nässe von draußen, während ich noch auf der Schwelle stand und mir den Regen aus den Haaren und aus den Kleidern schüttelte und mit den Füßen in diese Pantoffeln, in diese klobigen Filzüberzieher hineinstieß, zur Schonung der Böden, wie ich ohne Umschweife begriff, und zur Schonung der Nachbarn, um jeden lauteren Auftritt zu vermeiden, schon überhaupt nichts Konspiratives mehr an sich hatte, überhaupt nichts Gemeinsames mehr, uns, wie früher, Verbindendes, obwohl wir uns wie immer die Hände schüttelten, indem wir aufeinander zugestürzt und uns mit Judaskuß, wie ich sofort spürte, in die Arme und um den Hals gefallen waren, so eilig und so schnell, daß jeweils der Blick des einen am andern vorbeigegangen und auf den abseits, dahinter, wartenden Dritten gefallen war.
Sogleich merkte ich, die Augen senkten sich vor mir oder sie verbohrten sich krampfhaft in das Gepäckstück, das ich mitgebracht hatte, eine Plastiktüte der Buchhandlung Oprecht am Bellevue, keine zweihundert Meter von diesem Theater entfernt, das uns, in geringfügiger Abweichung von seiner ebenso tierischen offiziellen Bezeichnung, als das Affentheater geläufig war, wie gesagt, für oder gegen das die beiden anderen arbeiteten, wie ich nun nicht mehr recht wußte, an dem jedenfalls auch das Stück hätte aufgeführt werden sollen, das ich nun dieser Tüte entnahm, um das es immer gegangen war, in seinem roten Einband, das vielbesprochene Stück von mir, das man mir vormals förmlich aus den Händen gerissen hatte.
Heute lag es verloren auf dem Tisch, wo ich es selbst hatte hinlegen müssen, unter den aufmunternden Blicken von Kainz, unter den ängstlichen Blicken des Assistenten, wie ich gesehen hatte, der sich in seine Küche zurückzog, auf den Verschwörer-Tisch, wie ich bis anhin geglaubt hatte, um den wir uns verlegen gesetzt hatten, Kainz und ich, während der Assistent mit einer Flasche wieder aus der Küche hervorkam, um den aber jetzt, wie ich sofort bemerkt hatte, gar keine Verschwörung im Gang war, obwohl ich auch diesmal wieder, nach der Gewohnheit unserer oft wiederholten geheimen Zusammenkünfte, neben mein Stück Brot und Salz hingelegt hatte, zum Zeichen der Freundschaft, die ich ebenso mitgebracht hatte wie immer, oder wenn eine Verschwörung im Gang war, dann allenfalls unter Ausschluß meiner Person, eine Verschwörung also nicht mit mir, wie bisher, sondern gegen mich, gegen das Stück von mir, das da zwischen uns, zwischen Kainz und mir, neben Brot und Salz auf der Tischplatte lag, was das nur heißen konnte, was sollte es sonst denn bedeuten, schoß es mir heiß von den Sohlen durch den ganzen vom Regen durchnäßten Körper und den jetzt jäh anschwellenden Hals in den Kopf hinauf, weil ich in diesem Fall, in diesem Zusammenhang, im Zusammenhang unserer Dreierrunde nichts anderes war als das Stück von mir, das ich anstarrte, das von der gegenüberliegenden Seite, die nun auf einmal zur Gegenseite geworden war, wie ich spürte, es lag einfach in der plötzlich schlecht gewordenen Luft, ebenso auch von Kainz angestarrt, vom Assistenten mit Blikken gestreift wurde, das noch bis vor wenigen Stunden, wie ich annehmen konnte, für mich selber bis zum vorangegangenen, letzten Augenblick, das Kernstück, das Herzstück unserer Verschwörung gegen den Kunstbetrieb, gegen den Schauspielkunstbetrieb, gegen das Zürichbergaffentheater gewesen war.
Jetzt bewirkte es nur eine lähmende Stille. Im Fenster, das vor der hereinbrechenden Nacht zum Spiegel geworden war, sah ich mein verstörtes, rotglühendes Gesicht, unmittelbar neben dem bleichen, von der Lampe mondhaft beschienenen Hinterkopf von Kainz, dem ich dort in der alles ganz leicht verzerrenden Glasscheibe mit den Augen Löcher in den Rücken bohrte. Hoch ragte die schmale Assistentengestalt auf, die sich über uns beugte.
Verschränkt lagen meine Arme auf dem Tisch, gefaltet, ineinander verschraubt, schwebten die schweren, fest zupackenden Hände von Kainz über der Platte, der Assistent machte sich an seiner Flasche zu schaffen.
Ich riß meine Augen vom Fenster los und blickte von einem zum andern. Die teuerste Flasche ist es, dachte ich, die er da aufmacht, der Assistent, seinen besten Wein tischt er mir auf, stellte ich mit dem ersten Blick fest, aus dem Augenwinkel heraus, er tat mir leid, sicher hat er die letzte, von ihm für einen ihm ganz besonderen Tag aufgesparte Flasche für mich aus dem Keller heraufholen müssen, auf Geheiß seines Lehrers, sagte ich mir, auf Befehl seines ihn vollkommen in seiner Abhängigkeit haltenden Meisters, so einen Tropfen lagert man ja nicht in der Küche, schweren Herzens und mit Groll gegen mich wird er sich von ihm trennen.
Er schenkte ein. In der Flasche entstand ein glucksender Ton. Ich senkte den Blick, folgte mit den Augen dem dunkel glänzenden Strahl des Burgunders, Kainz hatte seine verschraubten Hände fallen lassen, auf das Stück fallen lassen, auf das Stück von mir sausten sie nieder, das da vor ihm lag, immer wieder, auf mich, schlugen die schweren Fäuste jetzt ein, es tat mir weh, ich griff an die Brust, ich griff nach dem Stück, beugte mich vor, schützend über es, zog es zurück, mit der anderen, freien Hand seine Schläge abwehrend, seine Hand-, seine Hammerschläge über mein Haupt, seine vor mir, gegen mich auf den Tisch getrommelten Wirbel wollte ich aufhalten, wollte mich selber zurückziehen, mein Stück gegen die Brust gedrückt –, da erhob er die Stimme, ließ seine Hände, in unendlicher Zartheit, endgültig sinken und auf der Holzplatte liegen.
Der Assistent setzte die Flasche ab. Ich hätte den Hut abnehmen wollen, den ich aber gar nicht aufhatte, da ich nie einen trage. Unberührt, leise zitternd standen die randvollen Gläser vor uns, unbenutzt lag das Salz, ungebrochen das dunkle Brot auf dem Tisch. Wir sahen uns in die Augen. Der Assistent zog sich gegen die Wand, in den Schatten zurück. Blaß geworden, hörten wir zu.
Jedes Wort hatte das Gewicht von Gesetzen. Jeder Satz war ein Urteil ohne Bewährung. Über mich wurde plötzlich das Jüngste Gericht abgehalten. Standrechtlich wurde ein Stück von mir hingerichtet.
Jedes Wort, so sanft es gesprochen war, vertrieb mich weiter vom Tisch, jedes Atemholen, Ein- und Ausschnaufen wirbelte mein Stück mehr in die Lüfte, zerfetzte es in tausend kleinere Stücke, fegte mich an die Wand, durch den gleichmäßig strömenden Schwall seiner Rede, als stoße er die Sätze wirklich aus, wurde ich rücklings gegen die Türe gedrängt, in den Türrahmen gepreßt, auf der Schwelle, unter dem Türbalken stand ich, schon zur Türe hinaus geschwemmt war ich von der Flut seiner hervorsprudelnden, mich bestürzenden Argumente, schon hinaus gejagt aus dem Zimmer von den knallenden Peitschenhieben der Worte, in die glasklare Kälte der Nacht hinaus, meilenweit, weltweit war ich schon nach wenigen Sätzen von allem entfernt, die Tür schlug es schon hinter mir zu, als ich noch lange an meinem Platz saß.
Während Kainz sprach, leise und eindringlich, auf mich einsprach, mit ganz ernsten Augen, mit der ganzen Gewalt seiner Stirn, auf mich einschlug, mit jedem Satzzeichen, in mich hineinstach, war ich, unbemerkt von den andern, ganz tief in mich hineingefallen, in die schattendunklen Schächte meiner Verlorenheit, in die sternklare Nacht der Verletzung, in die pechschwarze Lichtlosigkeit der Zerstückelung. Ich konnte Kainz nicht mehr sehen. Ich konnte Kainz nicht mehr hören. Ich weinte aus seinen Augen, man sah es mir gar nicht an. Ich hatte ihn trostlos, wie er über mich war, mit seinem Assistenten sitzengelassen.
Als er am Ende war, wartete er meine Fragen ab. Ich hatte keine. Längst ging ich mit mir allein durch die Stadt. Es war kälter geworden. Der Regen hatte aufgehört. Niemand begegnete mir. Ich ließ mich von Dirnen ansprechen. Immer wieder genoß ich das kleine Gefühl der Wärme, das von ihren Anträgen ausging. Immer ging ich vorüber. Es genügte, von Mal zu Mal, das winzige, kaum für mich selber wahrnehmbare Zögern, das kurze Verhalten des Schritts, das mir verstohlen gegebene Geständnis, beinahe stehengeblieben zu sein, immer wieder beinahe, und der entfernten, von Mal zu Mal sich nähernden Möglichkeit, einmal vielleicht doch anzuhalten, umzukehren, mitzugehen.
Ich hatte von mir den Eindruck, etwas an mir sei zerstört, das bestimmte Gefühl, etwas in mir sei soeben zerbrochen, ich sei zerbrochen, in Stücke gegangen. Ich bildete mir ein, ich hätte das Springen von Glas aus mir gehört, dieses ganz leise, ganz dünne, ganz feine Sirren von springendem Glas. Während ich schon auf die nächste Gruppe von Dirnen zutrieb.
Überall, wo ich auch hinkam, in allen Quartieren, in allen Innenquartieren und Außenquartieren, in allen Nobelquartieren und Elendsquartieren der ganzen riesigen, zu dieser Zeit vollkommen leeren, entleerten Stadt, standen sie schon und erwarteten mich, in ihre Pelze und Mäntel und Wollsachen gehüllt, als ob sie sich alle verabredet hätten, um gerade mich, heute nacht, nicht verlorengehen zu lassen.
Ich friere ja, sagten sie mir, tatsächlich sei ich schon vollständig durchfroren, das sähen sie doch, da hätten sie einen in unzähligen Nächten geschulten Blick, ob ich das denn nicht merke, ich sollte doch mitgehen mit ihnen, mitkommen, in ihre warmen Zimmer, in ihre warmen Betten, in ihre warmen Körper hinein.
Tatsächlich fror ich, stellte ich fest, tatsächlich hatte ich nur meinen Regenmantel an, die Temperatur war gefallen.
Gehe ich also mit, an die Wärme, dachte ich, oder gehe ich mich besser betrinken? Immer wieder. Immer wieder dachte ich nur, gehst du mit ihnen hinauf oder gehst du dich jetzt betrinken? Dann ging ich weiter.
Hinaufgehen, trinken gehen, weitergehen? fragte ich mich aber, unablässig, bis an den Stumpfsinn heran, während ich nicht aufhörte zu gehen, mit schnellen, großen Schritten zu gehen, die Stadt zu durchmessen, dieser mir vollkommen fremde, mich auch befremdende Ausdruck ging mir dabei durch den Kopf. Aber für so etwas wie sie hatte ich gar nicht genug Geld mit.
Für so etwas Warmes wie euch habe ich gar nicht genug Geld, dachte ich, sicherlich seid ihr mir viel zu teuer, ist so etwas mitten in der Nacht auf mich Wartendes unbezahlbar, sagte ich gleichzeitig immer wieder halblaut in mich hinein, mehr zu ihnen manchmal, dann wieder mehr zu mir selbst, während ich, den Kopf eingezogen, zwischen die Schultern, den Oberkörper vorwärts, gegen die Bise gestemmt, halb blind vor Trauer, vom Wasser in meinen Augen, die sich am kalten Wind, der jetzt wehte, entzündet hatten, an ihnen vorbei ging, immer nur wieder an allen und allem vorbei, bis an den Rand der Stadt, bis an den Rand der Erschöpfung, und wieder zurück, an den anderen Rand der Erschöpfung, an den anderen Rand der Stadt, an den ich plötzlich anstieß, als sei ich von innen auf meine erfrorene, vor Kälte durchsichtig gewordene Stirn gestoßen.
Und wieder zurück, durch unzählige, endlose Straßen, durch unzählige, endlose Räume, Gaststuben, in denen vor lauter Rauch kein Platz für mich war, und immer wieder hin und zurück, hin und her ging mir der immer gleiche Satz durch den Kopf, gehst du mit ihnen hinauf oder gehst du dich jetzt betrinken, gehe ich mit an die Wärme oder betrinke ich mich, beneble ich mich, in diesem gräßlichen, undurchdringlichen Rauch, fragte es sich in mir, hin und her drehte sich alles in meinem Kopf, hin und zurück ging ich ununterbrochen zwischen diesen zwei Möglichkeiten, bis zum anderen Ende der Nacht.
Nur jetzt mit niemandem zusammen sein, den ich kenne, mit dem ich sprechen muß, sagte ich mir. Daß ich zu Hause ein eigenes Zimmer hatte, unter dem Dach, in dessen Wärme ich mich hätte aufheben können, kam mir nicht in den Sinn.
Irgendwo mitten durch mich hindurch ging der Sprung, den ich gehört hatte. Die Beine hatten mit mir nichts mehr zu tun. Unabhängig von mir nahmen sie ihren Weg kreuz und quer durch die Stadt. Der Kopf war von seinem Körper abgeschnitten. Er schwebte über mir her als etwas Bewußtloses, das ein Kind neben mir als Ballon an der Hand führt.
Man hat mir Unrecht getan, dachte es in mir, man hat mir Weh getan, immer wieder, man hat mir Unrecht getan, man hat mir Weh getan. Halblaut sagte ich diese Sätze, während ich ging, vor mich hin. In diese zwei Sätze, die im Grunde ein und derselbe Satz waren, verliebte ich mich ganze Minuten lang. Immer wieder sagte ich sie zu mir, sagte ich mir, man hat mir Unrecht getan, man hat mir Weh getan; man hat mir Weh getan, man hat mir Unrecht getan. Diese zwei Sätze verliebten sich in mich für eine geschlagene Stunde, die ich nicht schlagen hörte, aber als eine geschlagene Stunde empfand, verbohrten sich in mich, in die vielfältigen, hinterhältigen Windungen meines Gehirns, aus denen hervor sie mich dann ansprangen, wann immer sie Lust dazu hatten, hockten sich eine Ewigkeit fest in meinem Kopf, vernebelten ihn mit ihren Wehmutsschleiern, mit ihrer Wehmutsschleierhaftigkeit.
Dann hatte ich endlich genug von ihnen. Plötzlich wies ich sie ab, weg, fort von mir, warf sie hinaus. Von einem Augenblick in die Dunkelheit hinter den geschlossenen Lidern hinein auf den andern vergaß ich sie. Weil sie (mich) nirgendwo hinführten, verlor ich sie aus dem Sinn.
An ihre Stelle traten andere Sätze, neue, besser getarnt, aber ebenso randvoll mit meinem Wundsein, ebenso überfließend von Wehleid. Zwiesprache hielt ich mit Kainz. Allein. Mit meinem Förderer, mit meinem Forderer, mit meinem Mörder.
Lieber Kainz. Böser Kainz. Unglücklicher, Unglück bringender Kainz. Erhebender, erniedrigender Kainz. Niederschmetternder Kainz. Niederdrückender, niederträchtiger, verabscheuungswürdiger Kainz. Verheißungsvoller Kainz. Verräterischer Kainz. Verhindernder Kainz. Katastrophaler Kainz. Zertretender, betretener, mitleiderregender Kainz.
Kainz.
Sie haben mich von der Straße geholt und in die Gosse geworfen. Sie haben mir den Himmel versprochen und auf der Erde die Hölle bereitet. Das Blaue vom Himmel herunter gelogen, gerissen, gezerrt. Sie haben mich auf meine Höhe gebracht und in meinen Abgrund gestürzt. Sie haben mir das Leben geschenkt und genommen, sauer gemacht. In ein und demselben Aufwasch, Atemzug, Türenschletzen. Sie Glücksbote und Unglücksbringer! Sie Eule aus Athen, Sie Unglücksrabe! Sie mit dem Gesicht eines Kindes und dem Schädel des Fleischers. Des Fleischhauers! Sie Trakl. Mit den schönen Augen, mit den schönen Worten, aber den verkrüppelten Ohren. Mit den Mörderhänden. Sie haben mich gar nicht gesehen. Sie haben nur sich selber in mir gesehen, sehen wollen, sehen können. Sie haben über sich gesprochen, über Ihr Bild von sich, das Sie sich von sich machten, wenn Sie über das Gute in mir mit mir sprachen, das Hoffnungsvolle, Förderungswürdige, Zukunftsträchtige. Sie haben mich gar nicht gehört.
Da Sie nicht wirklich mit mir haben gehen wollen, durch Dick und Dünn, durch Hoch und Tief, in meine Welt hinein, in meine Welt hinab, in meine Unterwelt, meinen Wörtern und Sätzen entlang, über die Wendeltreppe meiner Gedanken, hätten Sie, in unser beider Interesse, um mich herum gehen müssen, in weitem Bogen, an mir vorbei, als der ungeleerte Kelch, mit der Last, die Sie sich waren.
Aber Sie sind auf mich zugekommen mit den weit ausgebreiteten, gespreizten, offenen Armen der Kirche, die ihr verlorenes Schaf, am Rande der Nacht, einholt und zurückbringt in das scheinbar nur ihr allein eigene Licht. Wie Sie mich angestrahlt haben! Wie Ihre bloße Stirn mir geleuchtet hat, heimgezündet hat auf den Weg, den ich plötzlich auch für den meinen gehalten habe. Ich habe diese helle, glatte Stirn nicht durchschaut, nicht das Geflunker der Sterne, der schönsten Augen, die Sie (mir) machten. Ich habe mich Ihnen geöffnet – und Sie haben in mir gehaust, wie der Krämer im Tempel. Aus dem Sie mich nun auch noch vertreiben.
Man darf, lieber Kainz, dies wenigstens merken Sie sich, solche Hoffnungen wie die Hoffnungen, die Sie geweckt haben, nur wecken, wenn man sie auch erfüllen kann. Aber daß ich nun Sie hätte trösten sollen, wie es am Ende aussah, dafür, daß Sie mich und offenbar dadurch sich, wie Sie sagten, trostlos gemacht hatten, diese Ihre Erwartung ist, in meinen, von Entsetzen geweiteten Augen, der Gipfel der Trostlosigkeit.
Sie haben, wie Sie sagten, gerade Ihren Schwiegervater verloren. Das ist natürlich schlimm. Über Schwierigkeiten mit Ihrer Frau klagten Sie auch. Ihr Leben steht auf dem Spiel. Sie haben kein gutes Herz. Das alles wiegt natürlich sehr schwer. Aber was, lieber Kainz, hat es mit meinem Stück zu tun?
Sagen Sie, was Sie wollen. Ich lasse mir keinen Wortstaub mehr, und sei er noch so fein zerrieben, in meine Ohren streuen. Ich verschließe die Sinne vor Ihnen. Ich kann Sie nicht mehr sehen! Ich kann Sie nicht mehr hören! Ich kann Sie nicht mehr riechen! Im Grunde tun Sie mir leid.
Mit frostigen Grüßen. Mit entsetzlicher, schrecklicher, fürchterlicher, furchtbarer, furchterweckender, grauenerregender Tiefachtung. Todesverachtung. Mit den besten, leider verlorenen Wünschen. Im Zorn.
Mit der Wut im Bauch. Mit der zerstörten Hoffnung. Enttäuscht. Traurig. In trostloser...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Tod Weidigs
  6. Der Aufenthalt
  7. Ist dieser dunkle Raum die Welt
  8. Die Brunnenentgifter
  9. Die Zerstückelung
  10. Der Tunnel
  11. Nachruf
  12. An der Ruhe gemalt
  13. Inhalt