Jeder Ort hat seinen Traum
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Jeder Ort hat seinen Traum

Dichterlandschaften

  1. 278 Seiten
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Jeder Ort hat seinen Traum

Dichterlandschaften

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Über dieses Buch

Die Landschaft ist voll von Gesängen und Geschichten: Brita Steinwendtner porträtiert dreizehn Autorinnen und Autoren und setzt sie mit ihren Landschaften in Beziehung. Wo man lebt und arbeitet, ist das eine, wohin man sich sehnt, das andere. Und ein Drittes ist die Bedeutung, die sich aus Landschaften und Orten erschließt: die innere Geografie von Wirklichkeit, Imagination und Inspiration.Geht man solchen Spuren im Werk von Dichterinnen und Dichtern nach, entsteht ein wundersames Gewebe aus Landschaften, Lebensgeschichten und der irritierend-schönen Vielfalt von Literatur.Brita Steinwendtner porträtiert dreizehn Autorinnen und Autoren und setzt sie mit ihren Landschaften in Beziehung. Sie legt spannende, oft neue Fährten in literarische Werke, deren Gemeinsames die Utopie eines menschenwürdigen Lebens ist. Durchdrungen von der Begeisterung für einige der schönsten Landschaften und Orte des europäischen Kontinents, sind die Geschichten auch wunderbare Anregungen für eigene Entdeckungen.Ilse Aichinger: Wien, Ingeborg Bachmann und Johannes Urzidil: Rom, Bruce Chatwin: Peloponnes, Barbara Frischmuth: Ausseerland, Peter Handke: Paris-Versailles, Veit Heinichen: Triestiner Karst, Wolfgang Hildesheimer: Poschiavo, Hartmut Lange: Umbrien, Christoph Ransmayr: Berg und Meer, Raoul Schrott: Tamangur und Tarrenz, Peter Turrini: Weinviertel, Paul Wühr: Lago Trasimeno

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783709977569
Ingeborg Bachmann, Johannes Urzidil

Rom. Ballett von Tod und Leben

Xylophon der Nacht. Aus dem Innenhof dringt das Klirren von Tellern herauf, von Gläsern, Töpfen und Deckeln, Reden, Rufen, Lachen. Ein Fensterflügel schlägt. Von Zeit zu Zeit der Schatten des Aufzugs. Draußen die Menschen, der Lärm, die Sterne. Die Brunnen werden erleuchtet sein, die Ruinen, die neuen Tempel, die Obelisken des Raubs. Und die afrikanischen Straßenhändler werden noch ihre Waren anbieten und warten, bis die Vergnügten aus den Restaurants und Bars nach Hause gehen. Aber wo ist ihr Zuhause, irgendwo in einem Shelter am Tiber oder weit draußen in den Suburbs, die immer noch das Wort „Stadt“ in sich tragen, zu sechst oder siebt zusammengedrängt, wo ist ihr Trinkwasser, wo ihre Intimität? Und sie suchen ihre müden Körper unter den Türmen und Kirchen, den erleuchteten Palazzi und dem Funkeln einer großen, schönen Stadt, die endlich, vielleicht, jetzt ihr Machtgehabe abgelegt hat, vielleicht nur vertauscht hat ins etwas Leisere. Aber die einen fahren immer noch die Cabrios und tragen Ray-Ban-Brillen und die anderen verkaufen ihre Fälschungen, Gucci-Taschen und straßbesetzte Gürtel, sie schielen nach der Guardia Milizia, denn sie haben keine Erlaubnis, sie packen und rennen davon mit ihren großen Taschen über der Schulter und dem gehetzten, traurigen Blick.
Ich telefoniere mit daheim, dort ist Schafskälte, und am Untersberg liegt Schnee. Morgen früh wird mich der Lärm der Putzmaschine wecken, das Öffnen der Rolläden, das Geplauder der Menschen, die unten auf der Tor Millina ihr Tagewerk beginnen. Der Himmel wird blau und samten sein, der Ton der Glocken von Sant’ Agnese treibt über die Dächer, und ich werde in den Tag hineingehen, schauen, hören, riechen, staunen, mich verirren, wiederfinden, flanieren, müde werden, mir den roten Wein im Geschäft gegenüber öffnen lassen, eine Redewendung mehr lernen, vielleicht eine Lektion weiterkommen im Langenscheidt, Dumont studieren, den Stadtplan, die Stadtteile und Ausfahrtsbusse, Natalia Ginzburg lesen und Pasolini und gehen und schauen und gehen und jeden Tag mehr einen Schritt weiter in diese Stadt tun, in diese museale und jetztpralle Stadt, in dieses schnelle, laute und schlaflose Leben, und jeden Tag ein Stück stärker werden und weniger abgesogen von mir selbst durch die Wörter der anderen.
Jeden Tag ein Stück näher kommen jenen, die ich suche.
Rom.
Via di Tor Millina. Lebt, flutet, musiziert. Essen, Trinken, Trampelpfad zwischen Pantheon und Petersdom. Schlund, in den sich die Massen von der Piazza Navona her ergießen. Die Zungen, die deutschen und amerikanischen und französischen und japanischen und italienischen Zungen schlecken Eis. Pizza mit Nutella, Geigen und Souvenirs. Der Wahrsager am Eck hat Kundschaft. Die blondierte Alte redet vor sich hin, plötzlich schimpft sie ins Gewühl, das stockt und starrt. Der Lärm steht zwischen den hohen Häusern, steigt in einer dicken Säule auf. Ich ganz klein mittendrin. Der Lärm als Mandorla um mich, das Leben, Lachen, Reden, Konsumieren: es ist das, was bleibt. Nicht Triumphbögen und Altäre, nur der Lärm und das Kommen und Gehen werden bleiben und die Sucht nach Vergnügen. Mit wilden Tieren, brennenden Menschen oder den Gauklern der Gegenwart auf der herrlichen Piazza, so harmlos heute, die Mobiltelefone klingeln, die Porträtisten halten die Stifte bereit und die ägyptische Menschenstatue steht starr in der Sonne neben der Dose fürs Geld. Auf Berninis Brunnenfiguren sitzen die Tauben. Sie haben den Kopf eingezogen oder putzen ihr Kleid, Federflaum schwebt den Flußgöttern entlang, ihre muskulösen Hintern hinunter, ins Wasser.
Hier war immer ein Ort der Lustbarkeit. Agonistische Spiele in großer Arena großer Imperatoren, Divertimento für Groß und Klein, von Diokletian zu den rauschenden Festen des Barock, der ganze Platz unter Wasser gesetzt für die Rennen der schnellsten Pferde.
Hier war immer der Tod. Hier steht sie, die schöne Agnes. Nackt unter den Bögen des Circus Agonalis. An den Pranger gebunden wie die Huren, die man hier zur Schau stellte. Ein Wunder ließ ihr Haar so schnell wachsen, daß es ihre Nacktheit verdeckte. Sie war zwölf oder dreizehn. Der Sohn des Präfekten von Rom hatte sich in sie verliebt, aber sie hatte sich Gott versprochen, Agnes, die Keusche, Reine, und ihn zurückgewiesen. Rache? Hier stand sie zum Gaudium des Volkes. Und einer näherte sich ihr unzüchtig, und er starb auf der Stelle. Ein weißer Engel beschütze sie, sagte sie und erweckte den Toten mit einem Gebet zu neuem Leben. Als man sie ins Feuer stieß, erloschen die Flammen. Schließlich wurde ihr, wie einem Opferlamm, die Kehle durchschnitten.
Legenden, Geschichten, Gerüchte. Die Fama.
... schön ist sie, warum ist sie schöner als andere? Und hat sie nicht unsere Götter verspottet und sich einem anderen vermählt, diesem Christus, den sie Erlöser nennen? Und ist sie nicht schuld an diesem und jenem, an der Seuche, dem Brand, der Not? Einer, eine muß ja schuldig sein, weißt du das nicht und hast du nicht gehört ...
Wir hören das Gras wachsen, und da glaub ich, es beißt mich etwas und Jesus Maria und Josef, und er hat sie genommen wie die Dirn vom Tanz, und Hur bleibt Hur, vergelt’s Gott, in der Not frißt der Teufel Fliegen. Unsere Familie, die plappert nach, die redet, so lang der Tag hell ist, die redet und redet ... Unsere Familie hat alle Vorurteile der Welt, wenn es sie nicht schon gäbe, erzeugt, alle Grausamkeiten sich ausgedacht, in unserer Familie heißt es: die oder den sollte man aufhängen oder anzeigen oder der verdient’s nicht besser ... Ich und Wir. Meine ich manchmal nicht nur mehr Wir? ... Wir unteilbar, geteilt durch jeden einzelnen, doch Wir.
Meine ich nicht Wir, gegen den Tod gehend, Wir, von Toten begleitet, Wir Hinsinkende, Wir Vergebliche?1
Das ist die Sprache unserer Familie. Unsere Sprache? Mordschauplatz der Gesellschaft. Der Tod wird kommen heißt diese unvollendete Geschichte von Ingeborg Bachmann.
Ich hatte einen Bogen machen wollen um Ingeborg Bachmann. Zu viel ist schon geschrieben über ihre Zeit in Rom, über die Jahre, die sie hier in verschiedenen Vierteln und Wohnungen lebte, hier, wo sie verbrannte. Kein weißer Engel hat sie beschützt. Ich wollte andere Spuren suchen. Aber sie wurde so gegenwärtig, wurde es von Tag zu Tag mehr, war da in den Wegen, Bildern, Worten, Gedanken, Träumen. In ihrem Lachen und im Nachtmahr der Todesarten, die sie woandershin verlegte, ins wienerische Ungargassenland, nach Kärnten oder Ägypten, die sie aber hier entstehen ließ und schrieb, hier im Taumel des römischen Lebens, das sie brauchte, um anonym zu bleiben.
Man hat mich oft gefragt, warum ich nach Rom gegangen bin, und ich habe es nie gut erklären können. Denn Rom ist für mich eine selbstverständliche Stadt ... Ich habe kein Italienerlebnis, nichts dergleichen, ich lebe sehr gerne hier ... Das schwer Erklärliche ist aber, daß ich zwar in Rom lebe, aber ein Doppelleben führe, denn in dem Augenblick, in dem ich in mein Arbeitszimmer gehe, bin ich in Wien und nicht in Rom. Das ist natürlich eine etwas anstrengende oder schizophrene Art zu leben. Aber ich bin besser in Wien, weil ich in Rom bin ...2
Ich wollte Johannes Urzidil suchen. Den Vergessenen, dessen Bücher zum Großteil vergriffen sind. Urzidil, den Prager Deutschen aus der österreichisch-ungarischen Monarchie, Flüchtling, Emigrant, New Yorker, der zwischen Wolkenkratzern Sophokles im Original las, sich mit Lederhandwerk mühsam das Überleben sicherte, den Humanisten, Schriftsteller, Literatur- und Kunstkenner, den frühen Expressionisten und späteren Goetheforscher, den Weltbürger, gestorben 1970 mit vierundsiebzig Jahren im Österreichischen Kulturinstitut in Rom. Begraben auf dem Campo Santo Teutonico.
Dieser liegt innerhalb der Mauern des Vatikans, sagte mir ein Freund in Salzburg am Abend, bevor ich nach Rom aufbrach, liegt verborgen an der südlichen Seite des Petersdoms, uralt, ganz still. Ich wußte sofort, daß ich dorthin mußte. Und begann schon im Flugzeug, Urzidil zu lesen. Fuhr in Rom in die Viale Bruno Buozzi, in jenes prächtige Haus hoch über dem Etruskermuseum der Villa Giulia, das auf einem Grundstück errichtet wurde, das Benito Mussolini den befreundeten Staaten zu einem symbolischen Preis geschenkt hatte und in dem das Kulturinstitut untergebracht ist. Entlieh mir alle Erzählungen, Essays und Romane Johannes Urzidils. Der Tod eines Emigranten auf faschistischem Boden? Aber die Erde ist unschuldig unter dem Schritt der Imperatoren und Diktatoren, sie ist geduldig.
Schlaflose Nächte in der Tor Millina. Schlafwachen, Wachschlafen. Der Lärm in den Gassen – vier kreuzen sich unter meinem Fenster –, den Restaurants und Bars schwillt an, zwischen Mitternacht und zwei Uhr ist seine eigentliche Zeit. Die Leute grölen und schreien, manche sind betrunken. Sie lachen explosionsartig, wie immer, wenn Witze erzählt werden. Gegen drei wird es langsam leiser. Gegen vier ist die Stunde der Möwen, die die Reste auf den Plätzen sammeln und sich’s über den Dächern abjagen. Um fünf ist die Zeit der Putz- und Spritzbrigaden, sie reden und lachen, Flaschen fliegen in eiserne Tonnen, Glas klirrt, Besen rotieren, Wasserfontänen zischen. Später hört man die Stimmen alter Männer, die den Morgen begrüßen, Karren holpern über das Pflaster, da und dort wird schon ein Rolladen hochgestemmt, in den Cafés werden Tische und Sessel zurechtgerückt, leise Musik steigt herauf in den zweiten Stock, füllt das Zimmer, legt sich tröstlich auf meine Augen, und endlich schlafe ich ein.
Der Campo Santo Teutonico liegt in der Sonne. Unter dem Blau eines neuen Tages, aufgezogen über alle Horizonte, eingezogen in den vergessenen Blick des lichtlosen Graus. Es ist ein stiller Ort, beschützt und eingeschüchtert von den fast fensterlosen, riesigen Flanken des Petersdoms, von den Türmen und fernen Kuppeln, die zum Himmel schweben. Hohe Pinien im Geviert, Palmen, Blüten, süßer Duft von irgendwo. Grabplatten, Inschriften, Kreuze, hingeduckte Kirche, Bruderschaftsgebäude. Statuen segnen, flehen oder beten. Auf dem menschenübersäten Platz von St. Peter liest Papst Benedikt XVI eine Messe, vervielfacht auf riesigen Videowalls. Gesang dringt her über die Kolonnaden, Mauern und Schweizer Garden, später die Chöre mit den Rufen nach Be-nedetto, immer wieder Be-ne-detto. Der Rhythmus hat eine Silbe mehr als andere Heil-Rufe, die noch immer im Ohr klingen. Die fast schwarzen Zypressen schwanken lautlos, irgend etwas rieselt herunter, Samen oder Altes, das abgestoßen wird. Oleander blühen, Efeu rankt sich, der Schatten eines Vogels streift drüber.
Erde aus dem Heiligen Land soll auf dem Campo Santo verstreut sein, und Quellen aus Antike und Mittelalter belegen, daß hier einst der Ort von Caligulas Zirkusspielen und Neros Christenverfolgungen war. Mosaikboden aus den Blutstropfen der Märtyrer gebildet. Das ursprüngliche Feld vor seinem Tor nannte man Piazza dei Protomartiri Romani, Platz der Erstlingsmärtyrer Roms. Der Campo und das Hospiz wurden vielfach geplündert, Wölfe drangen ein und scharrten nach den Leichen. Ich suche das Grab eines Mannes, den ich nicht kenne, eines Dichters, den ich erst entdecken muß.
Der Angsttraum der unaufhaltsamen Vergänglichkeit, der Hohn über den Unwert alles zeitweilig Wertgeschätzten hockt allenthalben herum, als Staub, der die Dinge überzieht, oder als Grimasse, die wie ein Vexierbild aus dem Durcheinander hervorstarrt.3
Johannes Urzidils Name ist als erster von vieren in die Grabplatte der Sanctae Mariae de Anima eingraviert. * PRAG 3. FEB. 1896 † ROM 2. NOV. 1970. Ich streiche mit den Fingern über die Buchstaben. Ein paar Zeichen für ein ganzes Leben, fast ein ganzes Jahrhundert. Zünde eine Kerze an, sie wirkt verloren im Licht, das auf den Wegen tanzt, über die Steinstufen hin, auf denen ich sitze und mir vorstelle –
wie es in den letzten Jahrzehnten der Donaumonarchie begann, in Prag. Zerrissen und befruchtet von den brodelnden Gegensätzen der Völker, Sprachen und Religionen, von Kaisertreue und nationaler Revolte, Mystik und wissenschaftlicher Luzidität, von tschechischer Mehrheit und deutscher Minderheit und innerhalb dieser wiederum von großer jüdischer Mehrheit. Urzidils Vater war Techniker, die neuen Eisenbahnen waren das Auffangbecken für Ehrgeizige, er aber blieb ein einfacher Beamter. Er war ein Mann der Gegensätze: war deutschnational und heiratete in erster Ehe eine Witwe jüdischer Abstammung, die sieben Kinder in die Ehe brachte. Johannes war das erste gemeinsame Kind. Als er vier Jahre alt war, starb die Mutter. In zweiter Ehe verband sich der Agnostiker, der kein Tschechisch sprach, einer tschechischen Katholikin. Er hielt jedoch auf Bildung, ließ den Sohn zweisprachig erziehen, schickte ihn auf das humanistische Gymnasium, das zum Großteil von jüdischen Deutschen besucht wurde. Es gab keinerlei konfessionelle Probleme, nur soziale.
Nie wurde der Heranwachsende in die Familien der Reichen eingeladen, was, wie Johannes Urzidil selbst es deutet, seinen späteren Hang zur Darstellung der unteren sozialen Schichten, der Benachteiligten und Verlorenen, förderte. Früh wird seine Welt das Café Arco, der Kreis um Künstler und Schriftsteller, Brod, Werfel, Kafka, Oskar Baum. An der deutschen Universität studiert Urzidil Germanistik, Slawistik und Kunstgeschichte, wird Teil der expressionistischen Kreise um Kurt Wolffs „Der Jüngste Tag“, leistet Kriegsdienst in der untergehenden Armee der Donaumonarchie, macht sich in der Zwischenkriegszeit einen Namen als Lyriker und Erzähler, als Literatur- und Kunsthistoriker. 1922 heiratet er gegen den Widerstand ihrer Familie die Tochter eines orthodoxen Rabbiners, Gertrude Thieberger. Sie war Lyrikerin und die Schwester des Schriftstellers und Religionsphilosophen Friedrich Thieberger, der der Hebräischlehrer Kafkas war. Am 19. Juni 1924 hält Urzidil eine der beiden Totenreden auf den verstorbenen Freund, an den er noch Jahrzehnte später in dem Büchlein Da geht Kafka erinnern wird. Mit 28 Jahren tritt er der Freimaurerloge „Harmonie“ bei, die Lessings Nathan als Leitstern hat. Er wird Korrespondent internationaler Zeitschriften, unter anderem von Ernst Schönwieses Silberboot.
1939. Der Marschschritt über Europa, der Schnitt in einer Biographie, das Ende einer hoffnungsvollen Karriere. Die Freunde in viele Länder zerstoben, manche später in Hitlers Konzentrationslagern ermordet. Urzidil kann in letzter Minute über Italien nach England fliehen, 1941 weiter in die USA, deren Bürger er 1946 wird und wo er bis ans Ende mit seiner Frau lebt. In seinem letzten Jahrzehnt wird er im deutschen Sprachraum vielfach ausgezeichnet, erhält Preise in Köln und Berlin, Österreich ehrt ihn – als einen der Seinen? – mit dem Titel eines Honorarprofessors und 1964 mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur. Nie mehr aber wird er den Boden seiner böhmischen Heimat betreten. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs hat er nicht mehr erlebt. Das neue Österreich war ihm, wie dem Geistesverwandten Theodor Kramer, der bis Mitte der 50er Jahre im englischen Exil blieb und nur heimkam, um zu sterben, nicht nahe genug. Bis ans Ende seiner Tage...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Widmung
  6. Bruce Chatwin Die Songlines der Mani
  7. Paul Wühr Alles Falsche ist schön
  8. Hartmut Lange Der Wanderer
  9. Veit Heinichen Gib jedem sein eigenes Meer
  10. Ingeborg Bachmann, Johannes Urzidil Rom. Ballett von Tod und Leben
  11. Ilse Aichinger Wien. Und andere Ortlosigkeiten
  12. Peter Turrini An der Grenze
  13. Barbara Frischmuth Der kurze Weg von Altaussee nach Istanbul
  14. Christoph Ransmayr An den Rand der Welt und in ihr Herz
  15. Raoul Schrott Tristan, Tarrenz und Tamangur
  16. Wolfgang Hildesheimer Das Weite gesucht
  17. Peter Handke Die Wälder von Versailles
  18. Anmerkungen
  19. Text- und Bildnachweis