Rondo
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Rondo

und andere Erzählungen

  1. 69 Seiten
  2. German
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Rondo

und andere Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Dieser Band vereinigt eine Auswahl der besten Erzählungen des Schweizer Autors Jürg Amann. Herzstück ist die Titelerzählung Rondo, die 1982 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde und der von Seiten der Jury, allen voran von Marcel Reich-Ranicki, höchstes Lob zuteilwurde: die Geschichte über eine kranke Mutter und ihren Sohn, dargestellt in der klassischen Einheit von Raum und Zeit, ein Gleichnis für Werden und Vergehen, für Liebe und Tod.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783709973141

Fort

Fort. Endlich fort. Endlich die Tür also hinter mir zu. Endlich die Kinderzeit abgeschlossen. Das Elternhaus endlich verlassen. Die Koffer gepackt. Die Hände geschüttelt. Ab, in den Zug, in die Welt hinaus.
Und habe dann also beinahe seine Ankunft in der Großstadt verschlafen. Das fängt ja gut an, dachte ich, während ich ausstieg. Er sei der letzte gewesen. Außer ein paar Männern, die mit langen Hämmern die Bremsen der Wagen abklopften, habe sich auf dem Bahnsteig niemand mehr aufgehalten. Etwas Dampf stieg noch aus irgendwelchen Ventilen. Es roch nach feuchter Wäsche und Ruß. Ich fror. Ich stieg, indem ich die Koffer von Zeit zu Zeit abstellte, die Treppe hinunter. In der Halle standen, weit von mir weg, in den Ecken, Menschen in dunklen Gruppen. Als er hinaustritt, in die kalte Bewegung der Luft, beginnt es über den Straßen gerade zu tagen.
Und dann die Fahrt durch die erwachende Stadt. Wohin? brüllt mich der Fahrer an, kaum daß ich in seinem Wagen sitze. Er will wissen, wohin er mich bringen soll. Der steht mit den Hühnern auf, denke ich. Aber wahrscheinlich gibt es in dieser Stadt gar keine Hühner. Auf jeden Fall ist der andere hellwach, während ich selbst noch halb schlafe. Griegstraße, sage ich. Daß er da hin wolle. Und er sagt ihm auch noch die Nummer. Also ich gebe ihm die Adresse, die Ihr ja kennt, die ich Euch auch gegeben habe. Griegstraße, wiederholt er erstaunt. Vornehme Gegend, weiß Gott, da kann man nichts sagen. Und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und läßt sich des langen und breiten über die Gegend aus, in die ich da offenbar komme. So, sage ich, nach einer gewissen Zeit. Ich weiß das ja nicht. Ich kann das ja nicht wissen von weitem. Ich bin ja zum erstenmal hier. Zum Studieren gekommen? fragt er. Ausstudiert, sage ich. Ich habe nicht die geringste Lust, mit ihm darüber zu reden. Er sehe ihn ja nicht wieder. Jedenfalls ist es nicht anzunehmen. Und sobald ich aussteige, hat er es ohnehin wieder vergessen. Doktor? insistiert er aber. Und ich sage, wenn Sie so wollen. Und will das Thema damit beschließen. Aber er will natürlich gar nichts. Er fängt jetzt erst an. Dann sagen Sie das doch gleich, junger Mann, ruft er aus. Dann weiß man, woran man ist. Er ist also ein junger Mann. Jedenfalls habe der Taxifahrer ihn so betitelt. Und zudem einer von denen mit etwas im Kopf. Oder im Oberhaus, wie er sich ausdrückt. Und einer, der etwas gearbeitet hat. In seinem Alter, und Doktor. Das sei nicht nichts, das müsse er sagen. Das sagt der Fahrer. Und er fügt hinzu: Das ist doch wohl heutzutage nicht üblich? Oder ob er das falsch sehe. Oder ob es etwa nicht stimme, daß an der Universität bloß noch diskutiert werde. Und demonstriert und polemisiert und politisiert. Das sind seine Worte. Wir kennen dieses Gefasel ja auch von zu Hause. Es ist gefährlich, ich weiß, aber ich lasse ihn reden. Ich will mich nicht schon am ersten Tag mit der Welt anlegen. Denn für ihn ist das hier jetzt die Welt.
Meine Welt also. Die Stadt blieb gerade noch Stadt und war gleichzeitig schon Land. Eigentlich Wald. Zumindest Waldrand. Die Straßen waren auf einmal Alleen. Er habe das Wort aus der Schule gekannt. Jetzt sah ich, daß es eine Entsprechung in der Wirklichkeit hatte. Die Königsallee, sagte der Fahrer, nachdem wir schon eine Weile auf ihr gefahren waren. Nun war ich nahe am Ziel. Ich atmete auf. Ich lehnte mich in meinem Polster zurück. Er habe begonnen, sich in seiner Freiheit freier zu fühlen. Die Angst vor dem Neuen habe dem Neuen jetzt Platz gemacht. Erwartungsvoll schaute ich aus dem Fenster. Ich hatte ja immer davon geträumt, einmal in einem Schloß zu wohnen. Kronprinzenallüren, Muttersöhnchengehabe, ich weiß. Hier lagen die Häuser in Gärten, die fast so verwunschen waren wie die seiner Wünsche. Machen Sie hier einen Besuch? fragte der Fahrer. Hoffentlich nicht, sagte ich. Und ich dachte, ich werde hier leben. Und spürte so etwas wie Stolz dabei. Ausgerechnet diesen Ort auf der ganzen Welt hatte ich aus der Ferne für mich beschlossen, und nun gefiel er mir auch aus der Nähe. Geld? fragte der Fahrer. Nein, sagte ich. Glück? lachte der Mann. Und ich sagte: vielleicht.
Und sei wenig später mit seinen Koffern vor einem Tor gestanden, das also der Eingang zu seinem Glück sein sollte. Mannshoch, eisern, beidseits von noch höheren Mauern gefaßt, mit einem Messingschild über der Schelle. Stand da, streckte die Glieder und sog die Luft so langsam und tief in mich ein, als wollte ich mir bedeuten: Das ist meine Luft, an dieser Luft hängt jetzt mein Leben.
Nachdem er geläutet gehabt habe, sei es zuerst still geblieben. Dann war ein Knacken zu hören, darauf ein Husten, darauf ein Kläffen. Wer da? fragte es aus dem Gegensprecher. Eine blecherne Stimme. Ich nannte den Namen. Euch muß ich ihn ja nicht nennen, von Euch habe ich ihn. Wieder war ein Knacken zu hören. Dann wieder gar nichts. Dann von weit hinter der Mauer das Geräusch einer sich öffnenden Haustür. Dann wieder das spitze Bellen eines zweifellos kleinen Hundes. (Ihr kennt meine Angst vor den großen, seit mich der unserer Nachbarn zerbissen hat.) Dann das läppische, täppische Tappen von Pfoten auf Steinplatten. Endlich das Schlurfen schlecht sitzender Hausschuhe. Daß mich meine Vorstellungskraft nicht getäuscht hatte, sollte sich gleich herausstellen.
Das Gartentor sei aufgegangen. Vor mir stand ein kleiner, weißhaariger Herr, von der zu früh unterbrochenen Nachtruhe gezeichnet, der sich an seinem Hauch die Hände warmrieb. Spring! sagte er. Zuerst dachte ich, er meint seinen Hund, aber er meinte sich selbst. Er sei im Bilde. Er habe den Brief bekommen.
Der Herr hieß also Herr Spring. Im Morgenrock sei er dagestanden. Etwas verlegen. Etwas klein neben mir. Und schaute mich von unten herauf mißtrauisch und neugierig an. Von noch weiter unten habe der Dackel, schwanzwedelnd, dasselbe getan. Rowdy heißt er, das weiß ich inzwischen. Die beiden seien sich in diesem Augenblick wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen. Dasselbe Dulden, dasselbe Lauern, dieselbe Unterwürfigkeit. Es war zum Wegschauen. Das ist ja verbreitet, daß der Herr seinem Hund gleicht, wenn er ihn erst einmal lang genug hat. Hier jedenfalls sei es so gewesen. Und hier ist der Herr nicht einmal der richtige Herr.
Gut gereist? fragte Herr Spring. Und was man bei so einer Gelegenheit eben so frage. Ich war ihm ja vollkommen fremd. Geben Sie mir Ihre Koffer. Aber die gab ich ihm nicht. Die habe er natürlich selber getragen. Ich lasse doch einen alten Mann nicht meine Koffer tragen. Ich will Euch doch keine Schande machen. Wo bliebe denn da die Erziehung? Herr Spring sei ja ziemlich alt. Einer von denen, die es sich eben nicht leisten können, sich auszuruhen. Aus welchen Gründen auch immer. Die sind zu schwer für Sie, sagte ich. Während wir durch den Garten auf das Haus zugingen, sprang der Dackel an meinen Beinen hoch. Als wir in das Haus eintraten, hatte er sich wieder beruhigt. Er mag Sie, sagte Herr Spring. Keine Frage danach, ob ich ihn auch mochte. Die Hundeliebe wird ja auf dieser Welt stillschweigend vorausgesetzt. Ich solle jetzt erst einmal abstellen. Ich hätte ja sicher noch nicht gefrühstückt. Er mache mir schnell eine Tasse Kaffee. Die üblichen Höflichkeiten. Widerspruchslos nahm ich sie an.
Obwohl ich Kaffee gar nicht mag, folgte ich ihm in die Küche. Die von der Eingangshalle aus gesehen rechts hinter dem Wohnbereich liege. Das tut nichts zur Sache. Ich erwähne es nur, damit Ihr Euch von dem Ort, an dem ich jetzt bin, ein Bild machen könnt. Das sei sein Revier, sagte Herr Spring, er sei hier der Diener. Ihr werdet es mir nicht glauben, so etwas gibt es noch, auch in diesem Jahrhundert. Auch das Wort ist noch im Gebrauch. Jedenfalls bei den Dienern. Er habe seinen Ohren ja selber nicht trauen wollen.
Er sei also der Diener. Ich mußte mich setzen. Während er sich an den Geräten, die er mir gleichzeitig erklärte, zu schaffen machte. Hier können Sie sich etwas zu essen machen, sagte er. Wann immer ich wolle. Dann goß er mir den Kaffee ein. Jetzt seien wir zwei allein im Haus. Die Herrschaft (sein Wort!) sei verreist. Natürlich getrennt. Das versteht sich. Sie sind ja in Scheidung begriffen. Wenn auch seit Jahren. Das werde ich alles bald selber herausfinden. Er will nichts gesagt haben. Aber das sagt er erst, nachdem er mir alles gesagt hat. Auf jeden Fall ist das Haus nicht so intakt, wie es nach außen hin aussieht. Und wie ich es von zu Hause aus angenommen hatte. Der Herr trinkt. Wenn der Diener nicht übertreibt, muß es schlimm sein. Versaufe die Millionen. Oft bleibe er tagelang weg. Kein Mensch weiß, wo er ist. Dann liegt er plötzlich vor der Tür auf der Fußmatte. Und ich habe die Schweinerei. So der Diener. Schleppe ihn die Treppe hinauf in sein Bett. Und er weiß, am nächsten Tag, wenn er den Rausch ausgeschlafen hat, nichts mehr davon. Ich werde ja sehen. Er sei jedenfalls froh, daß ich gekommen sei. Obwohl ihm das auf der anderen Seite wieder mehr Arbeit mache. Und dann wollte er wissen, wie lange ich bleibe. Aber das konnte ich ihm natürlich nicht sagen. Das weiß ich ja selber nicht.
Jetzt war er plötzlich in Eile. Ich mußte das Frühstück, das, nach seinen eigenen Worten, nicht fürstlich war, bevor ich es richtig genießen konnte, beenden. Der Chef komme heute aus dem Urlaub zurück. Jeden Augenblick könne er hier sein. Und es sei überhaupt nichts bereit. Am besten, ich zeige Ihnen das Haus und bringe Sie dann auf Ihr Zimmer. Er sei natürlich gespannt gewesen. Der Diener schlurfte voraus, der Dackel und ich folgten ihm. Hier unten wohne ich, sagte er. Er zeigte eine schmale Treppe hinunter, die gleich neben der Küche in einen Kellerraum führt. Das sei seine Höhle. Er zeige sie mir ein andermal. (Bis heute ist es bei diesem Versprechen geblieben.) Gut eingerichtet, das schon, aber natürlich schon fast unter dem Boden. Das sagte er mit einiger Bitterkeit. Ich kann es ihm nicht verdenken. In so einem Haus so verlocht, so im hintersten Winkel wohnen zu müssen, bei seinem Alter, das sei kein Grund zum Gesang. Im übrigen solle ich mich nicht über die Stimme wundern. Tatsächlich war von da unten herauf gedämpft eine Stimme zu hören. Ich lebe allein hier. Das Radio ist noch an. Es ist eigentlich immer an. Ohne eine andere Stimme hält man es ja nicht aus.
Dann also das ganze Haus. (Von innen.) Zuerst wieder die Eingangshalle, die schon erwähnt ist. Herr Spring gibt mir die Schlüssel. Die Türkette, sagt er, darf ich nur vorlegen, wenn ich ganz sicher bin, daß alle im Haus sind. Es versteht sich von selbst. Sonst würde er nämlich heraufgeläutet aus seinem Verlies. Nachdem das geklärt ist, gehen wir diesmal nach links und kommen ins kleine Lesezimmer. Dahinter ins große Musikzimmer. Mit Flügel und Cheminée. Es habe nämlich jeder Raum seine eigene Funktion. Hier wird gesungen, erklärt mir Herr Spring. Von seiner Chefin. Und der berühmte Herr Hölderlin, nämlich ihr ungarischer Freund, den alle so nennen, weil man seinen wirklichen Namen mit unseren gewöhnlichen Zungen nicht aussprechen kann und weil er ihr offenbar auch Gedichte schreibt oder wenigstens vorliest, begleite sie am Klavier. Beide Zimmer liegen also vor der Küche auf der Gartenseite des Hauses. (Hinten ist nur eine Mauer.) Und bilden zusammen die langgezogene Fensterfront. Die ihm schon von der Straße her aufgefallen sei. Schwere Scherengitter, weiß gestrichen, sind innen vorgezogen. Und ich kann dem Diener gleich helfen, sie wegzuschieben. In die Wände hinein. Die habe er nur vor, wenn er allein sei, sagt er. Je reicher die Herrschaft, um so bedrohter der Diener. Und er schaut dabei auf die Uhr. Der Chef kann jeden Augenblick da sein. Und jetzt klemme das hier auch noch.
Wie der eiserne Vorhang dann weggeschoben war, mit vereinter Anstrengung, ging der Blick unverstellt in den Garten. Den er natürlich auf dem Weg vom Gartentor zum Haus schon gesehen, da aber noch gar nicht recht wahrgenommen habe. Eigentlich ist es ein Park, alter Baumbestand, Kiefern und Birken, dazwischen Sträucher, die auch schon ihr rechtschaffenes Alter haben. Alles jetzt beinahe schon kahl. Der weitläufige Rasen mit braunen, nassen Blättern bedeckt. Ich solle es nicht beachten, bittet Herr Spring. Das hätte er natürlich auch alles noch wegräumen sollen. Aber das Laub falle in diesen Tagen schneller, als der Mensch hinschauen könne. Kommen Sie, drängt er. Und zeige ihm dann das an die beiden Wohnzimmer mit einem Durchgang schräg anschließende sechseckige Eßzimmer. Das an der dem Eingang gegenüberliegenden Schmalseite des Hauses von hinten wieder zur Küche zurückführt. Die Wände seien eigentlich gar keine Wände, sondern Glasvitrinen. Die mit Tellern, Tassen und Gläsern vollgestellt sind. In der Mitte steht, ebenfalls sechseckig und mit sechs prachtvollen Stilstühlen umstellt, ein Nußbaumtisch. Natürlich weiß ich das nicht. In solchen Dingen kenne er sich nicht aus. Mein Stil ist das nicht. Aber der Diener bedeutet es ihm. Hier pflegte man früher zu speisen, sagt er. Beinahe höhnisch. Er sei dabei natürlich der Koch und der Kellner gewesen.
Ihr könnt es Euch denken: Ich war beeindruckt. Weder habe ich selber jemals in solchen Umständen gelebt, noch habe ich andere bisher so leben gesehen. In solchem Prunk, von so viel Kostbarkeiten umgeben. Überall Bilder, überall Kunst, überall alte Möbel. Und doch störte und stört mich hier etwas. Irgendwie fehle das Gefühl für die Dinge, das sie untereinander verbinden würde. Wie jedes für sich hingen und stünden sie da. Und zeigten den Reichtum ihrer Besitzer an, statt ihren eigenen Wert. Ist das verständlich gesagt? Ob seine Botschaft, mit anderen Worten, also auch ankomme.
Während er noch in seine Betrachtung versunken gewesen sei, sei Herr Spring schon zurück in der Halle gewesen. Auf diesen Böden, die bis in die äußersten Ecken, jedes Zimmer in einer anderen Farbe, mit Teppichen ausgelegt sind, hatte ich sein Schlurfen ja nicht gehört. So, rief er, hier geht es zu Ihnen hinauf. Also zu mir. Er zeigte auf die gewundene Holztreppe, die sich mit ihrem weißen Geländer vornehm aus dem Erdgeschoß in die Höhe des Hauses hinaufschraubt. Der Herr, sagte der Diener verschmitzt, indem er auf eine metallene Büste zeigte, die etwas fremd in der ersten Kehre, in der wir inzwischen angelangt waren, auf einem Sockel stand. Der stehe im ganzen Haus herum. Ganz ohne Zweifel ein schöner Mann, zumindest in dieser goldenen Version, von zeitloser Vornehmheit. Inzwischen auch in den Jahren, sagte der Diener. Und eine Ruine. Und daß er ihm manchmal leid tue, wenn er mitansehen müsse, wie er sich mit Gewalt zerstöre. Und daß er es eben nicht leicht gehabt habe mit seiner Frau. Die er aus allem herausgeholt habe. Damals. In jener Zeit, die ich nur vom Hörensagen kenne. (Sie war eine Jüdin, die Schwester eines Dirigenten, der jetzt bei uns in der Schweiz lebt.) Unvorstellbare Dinge, von denen unsereins keine Ahnung hat. Das sei ihm da wieder klargeworden. Nicht die geringste. Trotzdem reden wir immer mit. Trotzdem nickte ich also. Trotzdem tat ich so, als ob ich Bescheid wüßte. Auch eine Künstlerin? fragte ich. Warum auch? fragte Herr Spring. Wie ihr Herr Bruder, sagte ich. Nein, sagte er. Nie etwas geworden. Gesangsunterricht, aber nichts darüber hinaus. Was sie sei, sei sie durch ihren Mann. Darunter habe sie natürlich gelitten. Das sei ja verständlich. Jetzt will sie sich von ihm trennen. Er meine, sie habe sich natürlich schon lange von ihrem Mann getrennt, in Wirklichkeit. Sie habe ja diesen ungarischen Freund. Diesen seltsamen Hölderlin. Von dem keiner wisse, wer er sei noch woher er komme. Wie er ihr nämlich zugelaufen sei. Nun wolle sie es aber formell. Seelische Grausamkeit, sagte er, wird sie ihm vorwerfen. Und sie wird ja auch recht bekommen. Er trinkt ja. Und wie er trinke! Aber wie soll einer bei all dem denn nicht trinken? Und wann er zu trinken begonnen habe, danach frage keiner.
Inzwischen seien sie höher gestiegen. Mir war nicht sehr wohl. Ich hatte in einem solchen Haus, bei den sogenannten besseren Leuten, natürlich alles andere als das erwartet. Diese Ungereimtheiten. Sie staunen? fragte Herr Spring. Ich sagte nichts. Hier wohnt die Herrschaft, sagte er jetzt. Mit hier meinte er: im ersten Stockwerk. Von dem nun eine Beschreibung folgt. Langer Korridor, von dem die Gemächer abgehen. Gemächer, das sei hier das richtige Wort. Im vorderen Teil die des Herrn, im hinteren Teil die der Dame. Man sehe den Unterschied an den Türen. Die der Herrenzimmer sind eckig, die der Frauenzimmer gerundet. Im ganzen ziemlich französisch. Was immer das heißen mag. Violette Stofftapete, Kerzenlüster, kleine Nischen, Konsolen mit Kunst oder Kitsch, je nach Betrachtungsweise. Ihr könnt es Euch selber ausmalen. Am Ende ein Spiegel. Zu beiden Seiten, mit Seide bespannt, je ein zierlicher Stuhl. (Ich erinnere mich gar nicht, das Wort zierlich je vorher benutzt zu haben.) Der Gedanke an Wartenmüssen wird wach. Wer und worauf man hier draußen warte, das wisse der Teufel. Aber sei’s drum. Das brauchen Sie alles ja nicht zu kennen, sagte der Diener, zu Ihnen ist es noch etwas weiter.
Mühsam, die eine Hand am Geländer, stieg er jetzt ganz hinauf, in den zweiten Stock, unter das Dach. Wo er mir alles der Reihe nach zeigte. Das Bad, das Schlafzimmer, den Putzraum, die Bibliothek. Hier ist alles einfacher eingerichtet als unten. Da gibt es keine geschwungenen Türen. Da sind die Tapeten schlichter in Farbe und Muster. Teilweise heruntergerissen. Die Wände sind nicht mit Bildern verhängt. Wenn auch ein paar hellere Flecken noch andeuteten, daß es auch hier einmal anders gewesen sein müsse. Da und dort, gut vor der Leere plaziert, ein altes Stück Möbel, das an diese früheren Zeiten gemahnt. Gemahnt: auch so ein Wort aus dieser früheren Zeit. Sonst eigentlich nichts. Oder doch nur das Nötigste. Das zu erwähnen sich ja erübrigt. Weil es überall auf der Welt vorkommt. Da sei ich nun also zu Hause, sagte Herr Spring.
Und nun eine Szene, die man nur glaubt, wenn man sie selber erlebt hat. Es fing alles ganz harmlos an. Man habe vor dem Haus einen Wagen halten gehört. Ganz einfach, nichts weiter. Aber dieses ganz einfache Geräusch habe Herrn Spring in die Sätze gebracht. Die Hände verwarf er, Schweiß trat auf seine Stirn, in dünnen Strähnen flog ihm das weiße Haar um die Ohren. Die übrigens ziemlich fleischig sind. Ratlos, außer sich, sei er auf dem Gang hin und her gelaufen. Mein Gott, rief er, so holen Sie doch jetzt Ihre Koffer. Die stünden ja immer noch unten. Rennen Sie doch. Machen Sie doch. Machen Sie, daß Sie fortkommen. Der Chef sei schon da, und er vertrödle hier oben die Zeit mit mir. Und da ich nicht die Absicht hatte, mich mit ihm über seinen Herrn und Gott auseinanderzusetzen, rannte ich eben die Treppe hinunter, packte meine Koffer, die noch bei der Türe standen, und schleppte sie, halb neben, halb hinter mir her, unter das Dach hinauf. Aber da oben traf ich Herrn Spring anders an, als ich ihn eben verlassen hatte. Keuchend, eine Hand an der Brust, die andere am Hals, sei er, gegen die Wand gelehnt, am Boden gesessen und habe ihm mit weit geöffneten Augen entgegengestarrt. Ich übertreibe natürlich ein wenig. Aber so ähnlich sei es gewesen. Zwei Empfänge an einem Morgen waren für den alten Mann einfach zuviel.
Unten läutete es. Der Dackel, der seinem am Boden sitzenden Meister bisher die Treue gehalten hatte, begann kläffend zwischen diesem und seinem ankommenden Herrn die Treppe hinab und hinauf zu fegen. Gehen Sie ihm entgegen, stöhnte der Diener. Bitte. Er könne nicht. Er wollte, daß ich seinem Herrn unten aufmache. Und daß ich ein gutes Wort für ihn bei ihm einlege. Da ihm der Mann einerseits leid getan, er es andrerseits als neuer Hausbewohner auch schon fast für seine Pflicht gehalten habe, sei er also wieder hinuntergerannt und habe die Haustüre aufgemacht.
Vor mir stand mein Gastgeber, Herr Tetzel. Und Herr Spring? fragte er, eisig. Kollabiert, sagte ich. Zuviel Aufregung. Er hat meine Ankunft wohl nicht verkraftet. So, sagte Herr Tetzel. Dann solle ich jetzt einmal zur Seite treten und ihn hereinlassen. Können Sie einen Kaffee kochen? Er pflege ihn im Lesezimmer zu nehmen. Er erwarte mich also dort. Was hätte ich tun sollen, in dieser seltsamen Lage, als in die Küche zu gehen? Als ich zurückkam, mit dem Kaffee, und in das Lesezimmer trat, nicht ohne anzuklopfen, versteht sich, saß der Hausherr hochaufgerichtet, auf der einen Seite mit dem Ellbogen, auf der andern mit der Hand auf die Lehnen gestützt, in seinem Fauteuil hinter dem Tisch. Und habe ihn aus kalten blauen Augen von oben bis unten gemustert. Sie sind also der Schweizer, sagte er. Stellen Sie den Kaffee da hin. Ich sollte mich einen Augenblick zu ihm setzen. Zu dumm nur, daß Sie nun keine zweite Tasse mitgebracht haben.
Ich setzte mich ihm gegenüber und schaute ihm ins Gesicht. Das ich übrigens schön fand. Sehr fein geschnitten, wenn in diesem Fall nicht gezeichnet das bessere Wort ist. Wenn auch ein wenig aus seiner Ordnung. Dem er von Anfang an jene Art von Respekt entgegengebracht habe, die sich auch durch die übelste Nachrede niemals beirren lasse. Und die übelste Nachrede ging diesem Mann ja voraus. Trotzdem habe ich ihn von Anfang an gern gehabt. Wenn er auch natürlich die Kälte gespürt habe, die von ihm ausgegangen sei. Wie er in seinem Sessel thronte. Er schien mich vergessen zu haben. In Ruhe trank er seinen Kaffee aus. In Ruhe stellte er die leere Tasse in den Unterteller zurück. In Ruhe wischte er sich den Mund ab. Sie werden also bei uns wohnen? fragte er. Plötzlich. Ja, sagte ich. Daß ich es wenigstens glaube. Beiläufig habe sich Herr Tetzel etwas Staub aus dem Anzug geklopft. Den er im übrigen betrachtete, als würde ihn sonst nichts interessieren. Gratis? fr...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Rondo
  6. Der Traum des Seiltänzers vom freien Fall
  7. Die Baumschule
  8. Die Brunnenentgifter
  9. Tod Weidigs
  10. Fort
  11. Quellennachweis
  12. Biographische Notiz