Die Verschwundenen
Bei diesem Gegenstand komme ich auf die schlimmste Ausgeburt des Herdenwesens zu reden: auf das mir verhasste Militär! Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde.
Albert Einstein
EINS
Alles war anders geworden, alles war neu und unübersichtlich.
„Wir müssen etwas unternehmen“, sagte Karin, nachdem wir Sara allein gelassen hatten.
„Aber was denn?“
„Ihn anzeigen. Ihn verhaften lassen. Wir können doch nicht so tun, als sei nichts passiert.“
„Du hast doch gehört, was Sara gesagt hat.“
„Adrian, du bist so ein Zauderer! Willst du wirklich, dass dieser Verbrecher weiter frei herumläuft?“
„Warten wir zumindest, bis Sara uns erklärt hat, was sie meint.“
Stunden später, Karin schlief schon, öffnete ich den Laptop und suchte nach Informationen über den Putsch und seine Opfer. Aus der Zeit, in der ich politisch noch engagiert war, hatte ich nur in Erinnerung, dass der demokratisch gewählte Präsident Salvador Allende von General Augusto Pinochet gestürzt worden war und sich kurz vor seiner Festnahme erschossen hatte. Auch die Bilder von zehntausenden im Stadion von Santiago zusammengetriebenen Menschen waren mir im Kopf geblieben. Nun saß ich vor dem Bildschirm und entdeckte nach und nach die grauenerregenden Fakten. Amnesty International schätzte schon 1974 die Zahl der Folteropfer auf bis zu dreißigtausend. Das Estadio Nacional wurde zu einem der größten Folterlager seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bis März 1990 setzten sich die Folterungen fort – fast siebzehn Jahre lang wurde gequält und getötet, wer nicht bedingungslos auf der Seite der Putschisten stand. Die Valech-Kommission, von der Transitionsregierung 2001 ins Leben gerufen, nannte 2011 die aktualisierte Zahl von 38.283 anerkannten Fällen von Folter. Anfang des aktuellen Jahres veröffentlichte die chilenische Regierung eine Liste mit 3065 Menschen, die von den Militärs ermordet worden oder spurlos verschwunden waren. Und das waren nur belegte Fälle (durch Aussagen vor Gericht oder eidesstattliche Erklärungen), also eine Mindestzahl.
Schon vor Allendes Wahl 1970 hatte die CIA systematisch gegen ihn und die Unidad Popular agiert. „Sobald Allende an der Macht ist“, hatte der US-Botschafter in Chile, Edward M. Korry, verkündet, „sollten wir alles in unserer Macht Stehende tun, um Chile und alle Chilenen zu äußerster Entbehrung und Armut zu verdammen.“ Unter Richard Nixon, US-Präsident seit 1969, wurden die Geheimdienstaktivitäten in ganz Lateinamerika ausgeweitet. Treu an seiner Seite: der allmächtige „Sicherheitsberater“ Henry Kissinger. „Ich sehe nicht ein“, sagte er, „warum wir nichts tun und zusehen sollten, wie ein Land durch die Unverantwortlichkeit seines eigenen Volkes kommunistisch wird. Die Angelegenheiten sind viel zu wichtig, als dass sie den chilenischen Wählern zur Entscheidung überlassen werden könnten.“ Auf Wunsch Nixons („Bringt die chilenische Wirtschaft zum Schreien!“) und unter der Leitung von CIA-Chef Richard Helms wurde der Putsch Schritt für Schritt geplant. Bis 1973 investierte die CIA für Unterstützung, Vorbereitung und Umsetzung des Staatsstreichs dreizehn Millionen Dollar. Einer anderen Quelle entnahm ich, die Agency hätte alles so perfekt in die Wege geleitet, dass sie sich bei der Durchführung des Umsturzes die Finger nicht mehr schmutzig machen musste. Dementsprechend wuschen auch Nixon und Kissinger ihre Hände in Unschuld. Nach der Machtergreifung Pinochets ließ sich die CIA auch durch die Gräueltaten der Militärregierung nicht abschrecken und kooperierte sogar mit Manuel Contreras, dem Chef der brutalen, von der Junta gegründeten Geheimpolizei DINA (Dirección Nacional de Inteligencia), auf deren Konto tausende Folterungen und Morde gingen. Contreras wurde in der School of the Americas ausgebildet, einem Trainingscamp der US Army in Panama. Dort standen auch „Verhörtechniken“ auf dem Stundenplan. Zahlreiche lateinamerikanische Diktatoren und Juntageneräle lernten in der SOA das kleine Einmaleins der Unterdrückung. Noch 1976 erhielten die Putschisten eine direkte Finanzspritze von den USA: zweihundertneunzig Millionen Dollar.
Auch die beiden deutschen Staaten bekleckerten sich nicht nur mit Ruhm: Zwar nahmen die BRD viertausend und die DDR etwa zweitausend Flüchtlinge auf. Doch schon im Oktober 1973 hielt ein Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR fest, die Regierung habe beschlossen, den Handel mit Chile weiterzuführen. Vier Jahre später beehrte Franz Josef Strauß den Diktator mit einem offiziellen Staatsbesuch. Bei einer Pressekonferenz rechtfertigte Strauß den Putsch und betonte seine Unterstützung der Diktatur. „Es gibt eine wirklich erschreckende Lügen- und Verleumdungsmaschinerie.“ Sein Kommentar zu Pinochet: „Ich habe von ihm den Eindruck gewonnen, dass man mit ihm sehr offen reden kann – dass man ihm alles sagen kann, ob lobende oder tadelnde Bemerkungen.“
Eines der düstersten Kapitel deutscher Beteiligung an den Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur schrieb die Colonia Dignidad, eine obskure Sektensiedlung im Süden Chiles. Paul Schäfer, der Führer der Sekte, arbeitete eng mit Contreras zusammen. Die Colonia stellte sich ganz in den Dienst der Militärs. Sie diente als Haftzentrum, als Vernichtungslager, als Schule für Foltertechniken und als Versuchslabor für Giftgas. Schäfer hing dem Ideal einer Wiedergeburt des Volkes durch Austreibung des Bösen an, was ihn aber nicht daran hinderte, sämtliche Jungen der Siedlung sexuell zu missbrauchen. Ein idealer Verbündeter für Pinochet. Als Zeichen großer Hochachtung schenkte die Sekte dem Diktator einen Mercedes 600. Aber auch Franz Josef Strauß war der Colonia Dignidad zugetan und besuchte sie mehrmals. Bis in die Mitte der Neunzigerjahre hing ein signiertes Porträt des bayerischen Politikers im Eingangsbereich der Siedlung.
Ich stieß auf eine Anfrage an den deutschen Bundestag vom 13. Dezember 2001, aus der hervorging, dass Simon Wiesenthal überzeugt gewesen war, Josef Mengele habe sich 1979 in der Colonia Dignidad aufgehalten. Hier erfuhr ich auch, dass die Anlage der Sekte zu einem Stützpunktsystem des Projektes „ANDREA“ gehörte, in dessen Rahmen das Giftgas Sarin in großen Mengen gegen Gegner der Junta eingesetzt werden sollte. Die damalige Ehefrau eines beteiligten Agenten schrieb, das Gas sei zuerst an politischen Gefangenen ausprobiert worden...