Verurteilt zu leben
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Verurteilt zu leben

Roman

  1. 424 Seiten
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Verurteilt zu leben

Roman

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Über dieses Buch

NACH EINEM AUTOUNFALL IST DER ZWEIJÄHRIGE LUCAS HIRNTOT. Der ehrgeizige Neurologe Quintus Swann entschließt sich zu einem gewagten EXPERIMENT: Er wird den Jungen künstlich am Leben erhalten und seine körperliche, vor allem auch seine sexuelle Entwicklung beobachten.Jahre später wird Lucas, gesundheitlich stark beeinträchtigt und zum Jugendlichen herangewachsen, wieder in die Pflege seines Vaters und seiner Stiefmutter Opuntia übergeben. Der Vater bleibt auf Distanz, doch zwischen Lucas und Opuntia entwickelt sich eine INNIGE BEZIEHUNG, die ungeahnte KONSEQUENZEN hat.IM KREUZFEUER WIDERSTREITENDER INTERESSENIn seinem LETZTEN ROMAN erzählt CARL DJERASSI die bewegende und spannungsgeladene Geschichte eines versehrten Kindes, das aufgrund seiner Krankengeschichte zum Spielball widerstreitender Interessen und Ideologien wird. Der mit über 30 Ehrendoktoraten ausgezeichnete Wissenschaftler und Schriftsteller geht darin einigen der GROSSEN ETHISCHEN FRAGEN UNSERER ZEIT nach: Wie weit darf moderne Wissenschaft gehen? Wie können FORSCHERDRANG UND ETHIK im Gleichgewicht bleiben? Wann ist ein Leben noch ein Leben? Und was bedeutet die TRENNUNG VON SEXUALITÄT UND FORTPFLANZUNG für eine Gesellschaft? Präzise lotet er menschliche Stärken und Schwächen aus und zeichnet mit feiner Ironie ein erhellendes Porträt der texanischen Gesellschaft zwischen Religion und großem Geld, zwischen Keuschheitsbewegung und Hightech. DAS WERK EINES GENIALEN WISSENSCHAFTLERS UND AUTORSCarl Djerassi beeinflusste als Naturwissenschaftler das Leben von Generationen von Menschen. Als Schriftsteller, dessen Werke in zahlreiche Sprachen übersetzt worden sind, widmete er sich ausführlich dem von ihm erfundenen Genre SCIENCE-IN-FICTION. In seinen Romanen und Theaterstücken stellt er sich den wissenschaftlich aktuellen Themen und erlaubt dadurch auf unterhaltsame und auch kritische Weise faszinierende Einblicke in die Welt von Wissenschaft und Forschung.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783709936771

Kapitel 1

(1996)

Wenn er seinen Kopf ganz vorsichtig drehte, konnte Ezekiel Reed, eingeklemmt hinter dem verzogenen Lenkrad, erkennen, dass das Baby noch atmete. Die Schnallen der Sitzgurte hoben und senkten sich auf der winzigen Brust. Ezekiel dachte, er hätte ein Miauen wie von einem Kätzchen vernommen, aber das Zischen der Dämpfe, die aus dem Autowrack entwichen, schwächte alle anderen Geräusche ab. Erste Anzeichen eines Blutergusses breiteten sich auf dem Gesicht des Kleinen aus, weitere Verletzungen konnte Ezekiel aus seinem Blickwinkel nicht sehen; was den schlimmsten Schaden angerichtet hatte, war nicht so leicht zu entdecken. Er blieb vorerst verborgen, tief im Inneren des kindlichen Körpers.
»Gelobt sei der Herr, der barmherzig ist gegen sein kleines Lamm«, murmelte Ezekiel und richtete seine Aufmerksamkeit auf den reglosen Haufen neben ihm. Lydia. Er hielt ihr Handgelenk fest umklammert, und seine Finger wurden allmählich taub. Es schien undenkbar, dass sie nur einige Augenblicke zuvor noch zusammen gelacht hatten, weil das Baby seine ersten Gesangsversuche unternommen hatte.
»Ruff rifted me«, hatte ihr Sohn verkündet.
Dass der Kleine auf dem Rücksitz so plötzlich und spontan versucht hatte, ein Lied nachzusingen, hatte Lydia veranlasst, ihre entspannte Haltung neben Ezekiel aufzugeben und sich dem Jungen zuzuwenden. Als das Auto von der Straße abkam, hatte sie vor ihrem Kind gekniet und war zu seinen ersten Versuchen, ein Kirchenlied aus dem Radio mitzusingen, auf und ab gehopst.
Es war ein wunderschöner Tag, der Himmel blau. Lydia war jung und gesund. Eine glückliche Ehefrau und liebevolle Mutter. Sie war völlig bezaubert von ihrem Sohn, der ständig neue Wörter dazulernte und nun die Musik für sich entdeckte. Er machte gerade seinen ersten Versuch, laut zu singen, als der Tod sie holte.
»Ruff rifted me. Ruff. Ruff. Rifted me!«, trällerte der Junge.
Das Kind erlebte gerade das Wunder, selbst musikalische Töne zu produzieren. Inspiriert vom Himmel und gesendet von evangelikalen Radiowellen.
»Hör doch! Hör doch mal, Zeke. Luke singt! Mach lauter. Mach das Radio lauter! Hör doch nur. Es ist Love Lifted Me. Luke singt das!«
Der Kleine strahlte seine Mutter an, während seine kindliche Stimme und die Musik das Auto erfüllten. »Ruff rifted me«, verkündete er abermals voller Stolz. Die Stimme im Radio hatte zwar mehr Schliff, aber dass ihr Kind mitsang, war für Lydia als Mutter weit mehr als bemerkenswert: Es war nichts weniger als ein Wunder Gottes, der Erfindung des Rades ebenbürtig.
Lydia brach in ein ansteckendes Lachen aus und klatschte in die Hände.
»Hör dir doch nur unser Baby an, Zeke. Er singt! Er singt Love Lifted Me! Ist er nicht unglaublich? Er singt mit. Ohne Fehler! Ja, mein Schatz, die Liebe hat dich erhöht.«
Lydia kramte eilig ein kleines Notizbuch aus ihrer Handtasche hervor, in dem sie regelmäßig Lucas’ neueste geniale Taten und Sprechversuche festhielt. Sie nahm einen kurzen, mit einem Stiftmesser angespitzten Bleistift zur Hand und leckte die Spitze an, bevor sie zu schreiben begann.
»Wenn ich ‚Liebe‘ und ‚erhöht‘ dazuschreibe, ist er schon bei 57 Wörtern, Zeke. Weit über dem Durchschnitt für zwei Jahre, weißt du? Weit darüber«, versicherte sie Ezekiel ehrfürchtig flüsternd. »Und er singt! Ich hatte ja keine Ahnung, dass er singen kann. Ich sollte vielleicht ein zweites Notizbuch anfangen, nur für seine musikalischen Talente. Hast du das gehört, Zeke? Love lifted me!«, wiederholte sie. Anscheinend hatte Gott Lydia gehört. Und so hob Er sie ohne Umschweife genau in diesem Augenblick direkt aus ihrem Leben heraus in die Höhe.
Obwohl Ezekiel als Kind eines Pfarrers mit seinem Vater oft an Totenbetten gestanden hatte, war dies seine erste Erfahrung mit einem leblosen Körper. Hatte Lydia gehört, dass er ihr in dieser kurzen Sekunde, als ihm klar wurde, wie schwer das Auto ins Schlingern geraten war und wie schlimm es sich überschlagen würde, noch etwas zurief? Sicher hatten weder Mann noch Frau begriffen, dass selbst für das kürzeste Lebewohl keine Zeit mehr blieb.
Noch immer quetschte Ezekiel Lydias Handgelenk, fest entschlossen, das Blut durch pure Willenskraft wieder in ihren Körper fließen zu lassen und einen Puls zu erzeugen – doch sie war bereits leblos. Ezekiel sehnte sich danach, Lydia an seine Brust zu drücken. Sie zum Atmen zu zwingen. Sie zu trösten. Sich selbst zu trösten. Doch sie blieb unerreichbar – begraben unter den rauchenden Trümmerteilen des Motors. Ein Teil ihrer linken Schulter drückte gegen sein Knie und durchtränkte seine Sommer-Khakihose bis zum Knöchel mit ekelerregend klebrigem Blut, das bereits zu stocken begann. Lydias Blut bedeckte beide Seiten der Bodenplatten und sickerte auf den weichen heißen Teer des Highways; es war eine Offenbarung für Ezekiel, dass aus einem menschlichen Körper so viel Blut fließen konnte.
Entschlossen, an das Baby heranzukommen, kämpfte Ezekiel gegen die drohende Ohnmacht an und unterdrückte seine Übelkeit. Die Luft im Auto roch nach metallischem Rauch und brennendem Gummi. Er stemmte seinen knochigen Körper mit ganzer Kraft gegen die Türschwelle, und es gelang ihm, die zerquetschte Tür aufzustoßen und sich vom Vordersitz zu hieven. Dann griff er durch ein zerborstenes Fenster und zog den Kleinen an seine Brust. Er blickte auf Lydia herab und überlegte, wie er auch sie aus dem Wrack herausbekäme. Ihre schlanken Beine wirkten blass und unversehrt – im Gegensatz zu ihrem restlichen bis zur Unkenntlichkeit entstellten Körper. Ihr geblümter Rock bauschte sich unzüchtig oberhalb der Taille, die Sommersandalen waren verschwunden. Ihre Füße sahen noch immer gepflegt aus. Verzweifelt wollte Ezekiel ihren Rock wieder herunter­ziehen. Er sah sich um, in der Hoffnung, ihre Schuhe wiederzufinden. Benommen wie er war, überkam ihn das rasende Verlangen, die Ordnung wiederherzustellen und systematisch alles aufzuräumen, was der Tod verwüstet hatte. Weinend und wutschnaubend verfluchte er Gott und entfernte sich eilig vom Auto, um zu retten, was noch zu retten war.
Er taumelte zum staubigen Straßenrand und legte seinen Sohn im Schatten einer kleinen Sichelblättrigen Eiche ab; ganz in der Nähe kauten Kühe unbekümmert auf trockenen Gräsern herum. An diesem geschützten Ort untersuchte er das reglose Kind, drehte es sanft von einer Seite auf die andere. Ezekiel spuckte in seine Handflächen und strich das Haar des Jungen glatt; er spuckte noch einmal und versuchte, den rostigen Staub um Lucas’ Mund herum zu entfernen. Er legte die Gliedmaßen des Kindes, das ruhig dalag, ordentlich zurecht und rieb die warme Grübchenhand des Babys an seiner Wange; Lucas, klein und erschlafft, reagierte nicht auf seine Berührung. Obwohl er sich nicht rührte und nach wie vor ohne Bewusstsein war, tröstete sich Ezekiel damit, dass der Kleine warm war und bis auf den Bluterguss keine sichtbaren Verletzungen zeigte.
Es fiel Ezekiel schwer, das ganze Ausmaß des Unfalls zu begreifen. Er dachte über sein Kind nach und betete für den Jungen. Lucas atmete noch. ‚Mein Sohn ist noch am Leben, er sieht kaum verändert aus‘, tröstete sich Ezekiel. ‚Er ist einfach nur bewusstlos oder schläft vielleicht. Gott in seiner unendlichen Weisheit will mein Kind wohl vor dem Grauen des Unfalls beschützen und hat es deshalb für eine Weile bewusstlos gemacht.‘ Als er seine Panik überwunden hatte, zog Ezekiel ein großes Stofftaschentuch aus seiner hinteren Hosentasche, um sich das klebrige Blut von Händen und Gesicht abzuwischen, doch Übelkeit übermannte ihn. Instinktiv hielt er nach einem mit grünen Sommergräsern bewachsenen Streifen Ausschau und entfernte sich ein paar Meter von dem Kind, um sich zwischen den Metallkappenspitzen seiner Cowboystiefel zu übergeben. ‚Verrückt. Verrückt ist das‘, dachte er zwischen zwei Würgeattacken. ‚Ich bin doch nicht ganz bei Trost! Mein Vater, der Scheißkerl, ist seit 20 Jahren tot und sagt mir immer noch, wie ich kotzen soll!‘
»Wenn dir übel ist, Sohn, dann mach’s wie ein richtiger Mann! Geh raus und such dir eine Stelle mit Gras, damit du dir die Stiefel nicht bespritzt.«
Im Schatten der Eiche legte Ezekiel dem Baby seine Hand auf die Brust und ging den Unfall noch einmal in Zeitlupe durch. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war Lydias Lachen und dann der Schlenker, um etwas auf der Straße auszuweichen – etwas, das groß war und sich nur langsam bewegte. Er stand auf, um den Unfall noch einmal durchzuspielen. Ihn schwindelte noch, als er zu dem dampfenden, hochkant stehenden Auto kam; von dort ging er den Weg zurück. Er folgte den Reifenspuren auf der Fahrbahn, bis er auf eine sich windende Klapperschlange stieß.
Einige der verloren gegangenen Augenblicke kehrten wieder zurück: Eine Schlange war der Grund für seinen tödlichen Schlenker gewesen. Ezekiel rannte zum Auto zurück und verbrannte sich die Hand, als er das schwelende Handschuhfach aufbrach. Seine Brille, eine geladene Pistole und die Bibel seines Vaters flogen ihm entgegen. Als er sich die Pistole und die Bibel in den Hosenbund gestopft hatte und sich bemühte, sich die Brille wieder ordentlich aufzusetzen, blieb sein Ärmel an einem abstehenden Stück heißen Metalls hängen. Mehrere Sekunden lang hing er so unfreiwillig fest und musste abermals die zerschmetterte Lydia betrachten. Dann aber rannte er voller Zorn zurück zu der Schlange und fixierte sie mit dem Schuh. Er wusste, dass er in diesem Augenblick imstande war zu töten, imstande, einem lebendigen Wesen Schmerz zuzufügen, und das verlieh ihm vorübergehend ein tröstliches Gefühl von Macht. Er versuchte, Blickkontakt herzustellen; verzweifelt bemühte er sich zu erkennen, ob die sterbende Schlange begriff, dass er an ihr Rache nahm, doch er sah bloß die ausdruckslose Leere eines Reptils.
Wie eine herabhängende elektrische Leitung schnellte die Schlange im Todeskampf in ihrer ganzen Länge durch die Luft und peitschte gegen Ezekiels Oberschenkel. Er hielt die Mündung zwischen die Augen des Tiers und drückte ab. Der Schlangenkopf explodierte in feinste, rötliche Teilchen. Während er mit seinem Taschenmesser die Klappern der Schlange abtrennte, sie in die Luft hob und einem launischen Himmel entgegenreckte, verfluchte Ezekiel einen schrecklich irrationalen Gott. Geifernd trampelte er mit den Absätzen seiner Stiefel auf der toten Schlange herum. Er erkannte seine eigene Stimme nicht mehr. Die Wunde an seinem Kopf blutete, seine verbrannte Hand nässte, und er hatte die Pistole so nah an seinem Ohr ausgelöst, dass er inzwischen überhaupt nichts mehr hörte.
Benommen entfernte er sich von der toten Schlange und kehrte zu seinem Sohn zurück, der immer noch stumm und reglos war. Er hob Lucas hoch und drückte ihn, der schlaff wie eine Stoffpuppe war, an seine Brust. Außerstande, das gesamte Ausmaß des Entsetzens zu erfassen, das er angesichts des Verlustes spürte, war er froh, dass sein Sohn warm war und atmete. Während er Lucas immer wieder verzweifelt und innig an sich drückte, drang eine entsetzliche Botschaft in Ezekiels Bewusstsein.
Plötzlich erschütterte ihn ein übernatürlicher, unbestimmter Verdacht, dass dem Kind, das er hier so liebevoll hielt, jetzt etwas Großes fehlte. Etwas Wesentliches, das vorher noch dagewesen war und jetzt fehlte. Etwas Elementares war seinem Sohn genommen worden, und das war so einfach gewesen wie es für Ezekiel war, seine schwere Taschenuhr aus der Hosentasche zu ziehen, um nach der Zeit zu sehen.
Als der Notarztwagen kam, fand man Ezekiel taub und taumelnd vor: Seinen Sohn fest umklammernd, fuchtelte er wild mit seiner geladenen Pistole herum und feuerte Schüsse gegen Gottes Ungerechtigkeit in den Himmel. Einer der Sanitäter, der wenig Lust verspürte, gemeinsam mit einem trauernden, eine Knarre schwenkenden Eiferer im Notarztwagen ins Krankenhaus zu rasen, überredete Ezekiel, ihm die Waffe zu überlassen. Nach der Untersuchung des Unfallorts und der sachlichen Feststellung, dass Lydia medizinisch nicht mehr zu helfen war, wandten sich die Helfer Ezekiel und dem kleinen Lucas zu.
Die Rettungssanitäter warfen einander düstere Blicke zu – der Verdacht, dass der Zustand des bewusstlosen Kindes sehr ernst war, schien sich zu erhärten. Sie prüften rasch, ob es noch Lebenszeichen gab, und bald wurde der Kleine im dahinrasenden Krankenwagen an einen wild schaukelnden Tropf gehängt. Ezekiel hatte sich eine Schulter ausgerenkt, mehrere Rippen angebrochen, sich an der Hand verbrannt und am Kopf verletzt und hörte auf dem linken Ohr nichts mehr. Mit systematischer, distanzierter Präzision mühten sich die Sanitäter ab, das Kind wiederzubeleben, führten ihm einen Atemschlauch ein und ließen das winzige Gesicht unter einer Sauerstoffmaske verschwinden. Doch für den kleinen Lucas, inzwischen ebenso schlaff und schwer wie die kopflose Schlange, kam wohl jede Wiederbelebung zu spät.
***
Als die Krankenschwester in der Notaufnahme in ihrem gebügelten und gestärkten Kittel um die Ecke gebogen und mit Ezekiels Blutproben verschwunden war, begutachtete Ezekiel seine Verletzungen. Sein linkes Ohr schmerzte, und bis auf einen Dauerton, der an die Brandung des Meeres erinnerte, konnte er damit nichts hören. Sein Sehvermögen war gestört, und einen Moment lang dachte er, er würde den flackernden Abdruck eines Pistolengriffs in seiner Handfläche sehen. Unter der schweren Eispackung war die verbrannte Innenseite seiner Hand, inzwischen so groß wie ein Baseballhandschuh für Kinder, über und über mit Blasen bedeckt. In seiner ausgerenkten Schulter pochte ein heftiger Schmerz. Mehrere Knochen hatten sich verschoben und waren in Bereiche eingedrungen, wo sie nicht hingehörten. Er spielte an seinem Patientenarmband herum, das Datum und eine Zeitangabe gleich neben dem verschwommen Namenszug auf dem Plastikstreifen zermürbten ihn völlig. Er taste den Hosenbund nach der Bibel ab. Fragmente von Psalmen schossen ihm durch den Kopf, als seine Fingerspitzen die Form des Buches erkannten: »Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzen Wachs.«
Ezekiel hatte in seiner Kindheit gemeinsam mit seinem Vater, der als Wanderprediger unterwegs war, eine kurze Zeit lang einen einträglichen Ruhm genossen. Man hatte festgestellt, dass Ezekiel als junger Mann mühelos mehrere Teile seines Körpers ausrenken konnte, besonders Schultern und Daumen. Mit andächtigen Worten rief ihn sein Vater dann immer in den vorderen Bereich des Erweckungszeltes und »heilte« vor aller Augen seine »gebrochenen« Knochen. Eilig und hingebungsvoll wurden Gesangs- und Scheckbücher geöffnet. Und so biss Ezekiel nun mit geübter Leichtigkeit die Z...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Kapitel 0
  4. Kapitel 1
  5. Kapitel 2
  6. Kapitel 3
  7. Kapitel 4
  8. Kapitel 5
  9. Kapitel 6
  10. Kapitel 7
  11. Kapitel 8
  12. Kapitel 9
  13. Kapitel 10
  14. Kapitel 11
  15. Kapitel 12
  16. Kapitel 13
  17. Kapitel 14
  18. Kapitel 15
  19. Kapitel 16
  20. Kapitel 17
  21. Epilog
  22. Carl Djerassi
  23. Zum Autor
  24. Impressum
  25. Weitere E-Books aus dem Haymon Verlag