KAFKA
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KAFKA

Essay

  1. 160 Seiten
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Über dieses Buch

Der Schriftsteller Jürg Amann und der Photograph A.T. Schaefer setzen sich, im Bereich ihres jeweiligen künstlerischen Ausdrucks, mit dem Verhältnis von Leben und Schreiben eines unerbittlich konsequenten Künstlers auseinander. Ziel des Text-Bild-Essays ist die Darstellung einer Lebensform, einer "Art der Teilnahme am Leben", die "Schreiben" heißt.Auf Kafkas Sprachbilder, die der Text Amanns nachzuvollziehen versucht, antworten Schaefers Bild-Bilder, sie verwenden dabei "nur" die Wirklichkeit der Welt, die Optik von Auge und Apparat. Der Text von Jürg Amann, der vor zwanzig Jahren erstmals erschien und trotz seiner Aktualität lange vergriffen war, wird in dieser Neuauflage durch die Kombination mit den Bildern um neue Wahrnehmungs- und ästhetische Bereiche erweitert und bietet dem Leser - und Betrachter - eine weitere Möglichkeit, sich Kafka und seiner Welt zu nähern.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783709971154

C — Der Kampf mit der Stufe

1. Die Wunde

In einem späteren der leider fast durchgehend undatierten Briefe an Milena, die aus den Jahren 1920–23 stammen6, erzählt Kafka seiner letzten Briefgeliebten über die Lektüre eines chinesischen Gespensterbuches, das nur vom Tod handle: »Dann lacht ein Schüler einen Lehrer aus, der nur vom Tod spricht: ›Immerfort sprichst du vom Tod und stirbst doch nicht.‹ ›Und doch werde ich sterben. Ich sage eben meinen Schlußgesang. Des einen Gesang ist länger, des andern Gesang ist kürzer. Der Unterschied kann aber immer nur einige Worte ausmachen.‹«
Soweit das Zitat. Kafka fügt hinzu: »Das ist richtig und es ist unrecht, über den Helden zu lächeln, der mit der Todeswunde auf der Bühne liegt und eine Arie singt. Wir liegen und singen jahrelang.« (M. 183) Zwölf Jahre lang, möchten wir sagen, um das Wort auf ihn zu beziehen, über den er es selbst zweifellos gesprochen hat.
Wohl knappe drei Jahre früher, nach seinem dritten und letzten gescheiterten Heiratsversuch, hatte Kafka in einem Erklärungsschreiben vom 24. November 1919 an die Schwester seiner damaligen Braut Julie Wohryzek die Art seiner »Todeswunde« beschrieben7:
»Sie wissen«, schrieb er, »wie J. und ich bekannt wurden. Der Anfang der Bekanntschaft war sehr merkwürdig und für Abergläubische nicht eigentlich glückverheißend. Wir lachten einige Tage lang, wann wir einander begegneten, ununterbrochen, beim Essen, beim Spazierengehn, beim Einander-gegenüber-sitzen. Das Lachen war im Ganzen nicht angenehm, es war ohne sichtbaren Grund, es war quälend, beschämend. Es trug dazu bei, daß wir uns von einander ferner hielten, das gemeinsame Essen aufgaben, seltener einander sahn. Es entsprach das, glaube ich, auch unserer sonstigen Absicht. Ich hatte zwar ein / von Krankheit abgesehen / verhältnismäßig glückliches freies ruhiges Jahr hinter mir, aber ich war doch nur wie einer der wund ist und solange er nirgends anstößt, leidlich lebt, aber bei der ersten richtig treffenden Berührung in die schlimmsten ersten Schmerzen zurückgeworfen wird und zwar nicht so als ob die alten Erlebnisse wieder lebendig würden, nein, die sind und bleiben vergangen, aber es ist das Formelle der Schmerzen übriggeblieben, förmlich ein alter Wundkanal und in diesem fährt jeder neue Schmerz gleich auf und ab, schrecklich wie am ersten Tag und schrecklicher weil man doch so viel weniger widerstandsfähig ist. Ich weiß nicht, ob Sie etwas Ähnliches in Ihrer Erfahrung haben. Mir aber war es damals schon in den ersten Tagen so, eine der ersten Nächte war meine erste schlaflose Nacht seit einem Jahr, ich verstand die Drohung.« (S. 36)8
Neben dem Hinweis auf das Wundsein, das offensichtliche Alter der Wunde fällt in diesem Abschnitt vor allem der im Liebesbereich eher ungewöhnliche Zusammenhang zwischen Begegnung – nicht etwa Trennung oder Abschied – und neuem Aufbrechen einer alten Wunde ins Auge, ein Zusammenhang, auf den hier nur im Vorübergehen aufmerksam gemacht werden soll und der sich später von selbst erhellen wird. Nicht erst beim dritten Heiratsversuch war die Wunde, die auch ihn wie die zwei vorangegangenen schließlich ganz zum Scheitern brachte, alt, alt war sie schon zwei Jahre früher, als Kafka aus der Sicherheit seines Landrefugiums bei seiner Lieblingsschwester Ottla in Zürau mitten in der Flucht vor seiner zweiten Verlobung mit Felice Bauer am 19. September 1917 in seinem Tagebuch resümieren konnte: »Es ist das Alter der Wunde, mehr als ihre Tiefe und Wucherung, was ihre Schmerzhaftigkeit ausmacht. Immer wieder in gleichen Wundkanal aufgerissen werden, die zahllos operierte Wunde wieder in Behandlung genommen sehn, das ist das Arge.« (T. 379)
Es bleibt nicht bei solchen Beschreibungen. Wie über alles, was ihn zentral angeht, weiß Kafka über Jahre hinweg genauestens Bescheid, hat er doch über sein Leben Buch geführt wie kaum ein anderer, ja hat er es doch eigentlich, in Briefen, Notizheften, Tagebüchern und Werken, literarisch gelebt. So kann es nicht überraschen, daß er sich, rund zehn Jahre nach dem betreffenden Ereignis, wiederum in einem Brief an Milena jener Nacht erinnert, in der er erstmals schmerzlich an seine wunde Stelle rührte:
»In jener Geschichte hängt jeder Satz, jedes Wort, jede – wenn’s erlaubt ist – Musik mit der ›Angst‹ zusammen, damals brach die Wunde zum erstenmal auf in einer langen Nacht und diesen Zusammenhang trifft die Übersetzung für mein Gefühl genau, mit jener zauberhaften Hand, die eben Deine ist.« (M. 163 f.)
Die Geschichte, von deren Übersetzung ins Tschechische durch Milena hier die Rede ist, ist »Das Urteil«, die »lange Nacht« demnach jene vom 22. auf den 23. September 1912, in deren Verlauf Kafka, indem er sie durchschrieb, sein Durchbruch glückte9. Bemerkenswert in unserem Zusammenhang ist aber nicht nur das Zusammenfallen von Kafkas literarischem Durchbruch mit dem Aufbrechen seiner Wunde, ebenso bemerkenswert ist, daß die »Angst« mit dieser Wunde im selben Atemzug genannt wird, und dies in bezug auf eine Erzählung, die nicht nur Kafkas erste gültige war, sondern in der er gleichzeitig sein erstes literarisches Todesurteil über einen Helden sprechen ließ, der sich kurz vor der Erfüllung seiner Sehnsucht wähnte, an der Seite einer Frau als vollgültiges Mitglied der Menschheit in der Welt Fuß zu fassen. »Angst« wird übrigens in diesem Brief mit Anführungszeichen versehen, weil dieser Zustand Kafkas im Verlaufe des Briefwechsels mit Milena schon oft diskutiert worden war und der Begriff deshalb längst beiderseits bekannte Umrisse bekommen hatte, die auch uns nicht gleichgültig sein dürfen. Überhaupt wird uns der Bezug von erfüllter Sehnsucht und Angst einerseits und von Frau und Welt andrerseits, vor allem aber aller gegenseitig, auf diesem Hintergrund von Kafkas Wunde insofern ganz wesentlich beschäftigen müssen, als jene ersten in ihrer Komplexheit diese letzte ausmachen.

2. Das vorweggenommene Urteil

»Findest Du im ›Urteil‹ irgendeinen Sinn«, fragte Kafka am 2. Juni 1913, kurz nachdem er ihr stolz den ihr gewidmeten Erstdruck nach Berlin übersandt hatte, seine Braut Felice Bauer, »ich meine irgendeinen geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn? Ich finde ihn nicht und kann auch nichts darin erklären.« (F. 394)
Möglich, daß dieser Erguß einer Nacht wirklich nicht auf einen einheitlichen Nenner zu bringen ist, möglich, daß er nicht zu erklären ist und auch seinerseits nichts erklärt. Verblüffend ist aber doch die ihm innewohnende visionäre Kraft, die Hellsicht einer überempfindlichen Nachtwache, die in einem wohl mehr gefühlten als gezielten Wurf ein Leben so entwarf, daß dieses Leben nicht mehr anders konnte, als seinem Entwurf ähnlich zu werden.
»Aber es ist vieles Merkwürdige daran«, fährt der Brief fort. »Sieh nur die Namen! Es ist zu einer Zeit geschrieben wo ich Dich zwar schon kannte und die Welt durch Dein Dasein an Wert gewachsen war, wo ich Dir aber noch nicht geschrieben hatte.« (F. 394)
Das ist nicht ganz richtig. Kafkas erster Brief an seine Braut ist vom 20. September 1912 datiert10, zwei Tage vor der verhängnisvollen wegweisenden Nacht also. Der Fehler mag einer durchaus erklärlichen Erinnerungsschwäche des Briefschreibers zugeschrieben werden – das Ereignis lag immerhin schon dreiviertel Jahre zurück –, denkbar ist aber auch, daß jenes in letzter Konsequenz schon seine Verlobung beinhaltende Schriftstück genauso noch in seiner Tasche steckte wie die Verlobungsanzeige in der des Erzählungshelden, als Kafka erst noch, wie Georg Bendemann in der direkten Auseinandersetzung mit dem Vater, innerlich, d. h. literarisch, die letzte Instanz zu passieren hatte, deren vernichtenden Urteils er sich zuerst in einer zerquälten Nacht vergewissern mußte, um mit dem Mut des von vornherein Geschlagenen frei zu einer Entscheidung zu werden, deren Erfolg er nicht hätte ertragen können (DE. 27–38). Der Brief wäre dann zwar wohl schon geschrieben, aber zum erklärten Zeitpunkt noch nicht abgeschickt gewesen. Fest steht jedenfalls, wie das vielerorts schon festgestellt wurde, der direkte Zusammenhang der Erzählung mit Kafkas Begegnung mit Felice Bauer, seiner späteren Braut. »Und nun sieh«, setzt sich der obige Brief denn auch fort, »Georg hat so viel Buchstaben wie Franz, ›Bendemann‹ besteht aus Bende und Mann, Bende hat so viel Buchstaben wie Kafka und auch die zwei Vokale stehn an gleicher Stelle, ›Mann‹ soll wohl aus Mitleid diesen armen ›Bende‹ für seine Kämpfe stärken. ›Frieda‹ hat so viel Buchstaben wie Felice und auch den gleichen Anfangsbuchstaben, ›Frieda‹ und ›Glück‹ liegt auch nah beisammen. ›Brandenfeld‹ hat durch ›feld‹ eine Beziehung zu ›Bauer‹ und den gleichen Anfangsbuchstaben. Und derartiges gibt es noch einiges, das sind natürlich lauter Dinge, die ich erst später herausgefunden habe.« (F. 394)
Nun hat dies alles natürlich nichts mit Prophetie zu tun. Geradezu an eine Umkehrung der Zeit müßte man aber denken, falls man nicht eben gewillt ist, an dichterische Vorausschau zu glauben, wenn man etwa folgende Stelle im »Urteil« liest: »›Weil sie die Röcke gehoben hat‹, fing der Vater zu flöten an, ›weil sie die Röcke so gehoben hat, die widerliche Gans‹, und er hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, daß man auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren sah, ›weil sie die Röcke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht ...‹« (DE. 36) und sie mit der folgenden aus dem fiktiven »Brief an den Vater« vergleicht: »Ich meine damit eine kleine Aussprache an einem der paar aufgeregten Tage nach Mitteilung meiner letzten Heiratsabsicht. Du sagtest zu mir etwa: ›Sie hat wahrscheinlich irgendeine ausgesuchte Bluse angezogen, wie das die Prager Jüdinnen verstehen, und daraufhin hast Du Dich natürlich entschlossen, sie zu heiraten. Und zwar möglichst rasch, in einer Woche, morgen, heute.‹« (H. 213)
Das zweite ist Wahrheit und spielte sich 1919, nach Kafkas dritter Verlobung, ab. Aber in der Dichtung fand diese Wahrheit schon sieben Jahre früher, noch vor der ersten Verlobung statt. Ebenso scheint sich jene »Ansprache vom Richtplatz« nach Kafkas erster Entlobung von Felice, die Kafka am 27. Juli 1914 in seinem Tagebuch »unehrlich und kokett« nennt und aus der er den Satz »Behaltet mich nicht in schlechtem Angedenken« (T. 293) anführt, noch immer ihrer dichterischen Vorwegnahme im Schlußsatz Georg Bendemanns, unmittelbar vor seiner selbst ausgeführten Urteilsvollstreckung, zu erinnern: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt.« (DE. 38)
Ich führe solche Beispiele an, um zu zeigen, wie weitreichend und folgenschwer für Kafka alles sein konnte, auch das geschriebene Wort und gerade dieses. Mit welcher Hypothek war der Weg eines Sohnes also von vornherein beladen, dem seit dem ersten schüchternen Versuch eines Auszugs aus der Einsamkeit des Junggesellendaseins die Worte in den Ohren nachklingen mußten: »Häng dich nur in deine Braut ein und komm mir entgegen! Ich fege sie dir von der Seite weg, du weißt nicht wie!« (DE. 37) Aber obwohl Kafka lange Zeit in seinen Vater das Schicksal projiziert hatte, dem er sich unterworfen sah, begriff er bald, daß auch dieser Gott im Lehnstuhl nur ein Werkzeug seines eigenen Planes und daß er selbst, Franz Kafka, es eigentlich war, der durch den Mund des Vaters zu Beginn seines eigentlichen Lebens den Bannfluch über sich sprach: »Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!« (DE. 38)
Eine solche Deutung – Georg Bendemann habe mehr oder weniger bewußt das väterliche Urteil über sich, der im Begriff ist, den Vater durch eine eheliche Verbindung zu überwinden, provoziert – kann nicht ganz abwegig sein, spukte sie doch noch sieben Jahre später, nach dem dritten Heiratsversuch, der ja nach der Version des »Briefes an den Vater« ebenso an dessen Urteil gescheitert sein soll, in Kafkas eigenem Kopf herum. In eben diesem »Brief an den Vater« spricht er sie, allerdings kaschiert, als väterliche Meinung, so deutlich aus, daß der Verdacht schwer auszuschalten ist, es handle sich auch um die, zwar ungern zugegebene, eigene Meinung:
»Als Du letzthin heiraten wolltest, wolltest Du, das gibst Du ja in diesem Brief zu, gleichzeitig nicht heiraten, wolltest aber, um Dich nicht anstrengen zu müssen, daß ich Dir zum Nichtheiraten verhelfe, indem ich ... Dir diese Heirat verbiete.« (H. 222)
So gesehen ist »Das Urteil«, das am Anfang des Endes steht, die visionäre Vorwegnahme des Scheiterns an dem, was das »Schreckbild seines Vaters« (DE. 35) für Kafka alles beinhaltete, das Todesurteil, das dem Leben zuvorkommen mußte als immer offener Fluchtweg. Im Grunde wußte Kafka immer, daß er sich wörtlich nehmen würde.

3. F. wie Fall

Am 14. August 1913 finden wir in Kafkas Tagebuch verzeichnet: »Folgerungen aus dem ›Urteil‹ für meinen Fall. Ich verdanke die Geschichte auf Umwegen ihr. Georg geht aber an der Braut zugrunde.« (T. 226)
Soll das heißen: »Im Gegensatz zu mir, der ich an ihr nicht zugrunde gehen werde, insofern hat die Dichtung nichts mit mir zu tun«? Oder ist es schon Ausdruck des stillen Einverständnisses mit dem Notwendigen? – Klar ist: Kafka verdankt die Geschichte »ihr«. So wie »Das Urteil« am Anfang seines gültigen Werkes steht, so steht Felice am Beginn seiner gültigen Frauenbeziehungen, mehr noch, sie prägt, genau wie die erste Erzählung, die Form der folgenden. Kafka hatte Felice Bauer am 13. August 1912 anläßlich eines abendlichen Besuches bei seinem Freund Max Brod ganz zufällig kennengelernt, als es darum ging, die Blätter zu seinem Erstling »Betrachtung« endgültig zu ordnen. Anschließend hatte er sie noch zu ihrem Hotel begleitet, zusammen mit Brods Vater; sie war ja Berlinerin und nur auf der Durchreise. Nichts war an diesem Abend vorgefallen, außer daß es Kafka gelungen war, ihr das Versprechen zu einer gemeinsamen Palästinareise abzulocken11, und man weiß ja, was von solchen leichthin gegebenen Versprechungen über den Tisch hinweg gerade bei derartigen Zufallsbekanntschaften im allgemeinen zu halten ist. Für Kafka war es aber offenbar genug, und Elias Canetti hat wohl recht, mit der Art und Weise, wie er diese Abmachung kommentiert: »Er empfindet diesen Handschlag wie ein Gelöbnis, das Wort Verlobung birgt sich nah dahinter, und ihn, der so langsam von Entschluß ist, dem jedes Ziel, auf das er zugehen möchte, sich durch tausend Zweifel entfernt statt sich zu nähern, muß Raschheit faszinieren. Das Ziel des Versprechens aber ist Palästina, und schwerlich möchte es zu diesem Zeitpunkt seines Lebens ein verheißungsvolleres Wort für ihn geben, es ist das gelobte Land.« (C. 9 f.)
Es bedeutete für ihn die erste »Stufe jener Treppe, auf deren Höhe mir als Lohn und Sinn meines menschlichen (dann allerdings nahezu napoleonischen) Daseins das Ehebett ruhig aufgeschlagen wird« (B. 161). Als er das Mitte September 1917 an Max Brod schrieb, war allerdings das Unternehmen Felice schon endgültig in die Binsen gegangen, und Kafka hatte inzwischen längst eingesehen, daß er nie über diese erste Stufe hinauskommen würde. Im Tone unerschütterlicher Einsicht fügte er denn auch, halb schmerzlich, halb abgeklärt, hinzu: »Es wird nicht aufgeschlagen werden und ich komme, so ist es bestimmt, nicht über Korsika hinaus.« (B. 161)
Aber greifen wir nicht vor. Zunächst schien sich ihm mit diesem Handschlag am 13. August 1912 eine Welt, das Leben aufzutun. Launig vertraut er seinem Freund schon in der Frühe des nächsten Tages an: »Guten Morgen! Lieber Max, ich stand gestern beim Ordnen der Stückchen unter dem Einfluß des Fräuleins, es ist leicht möglich, daß irgendeine Dummheit, eine vielleicht nur im Geheimen komische Aufeinanderfolge dadurch entstanden ist.« (B. 102) – Ins Tagebuch hält das »Fräulein« mit der Bemerkung: »Viel an – was für eine Verlegenheit vor dem Aufschreiben von Namen – F. B. gedacht« (T. 202 f.), am 15. August schüchternen Einzug, um bald darauf darin die beherrschende Stellung einzunehmen. Eine Woche nach dem ersten und vorerst für lange Zeit einzigen Zusammentreffen, am 20. August 1912, finden wir ein erstes Porträt aus der noch frischen Erinnerung:
»Fräulein F. B. Als ich am 13. August zu Brod kam, saß sie bei Tisch und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor. Ich war auch gar nicht neugierig darauf, wer sie war, sondern fand mich sofort mit ihr ab. Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war. (...) Fast zerbrochene Nase, blondes, etwas steifes, reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil.« (T. 204)
Kein sehr günstiges eigentlich, wie es scheint, wenn man aus der Summe der Details ein Bild vor seinen Augen malt. Fast zerbrochene Nase, reizloses Haar, starkes Kinn: kaum Eigenschaften, die einer Liebe auf den ersten Blick förderlich scheinen. Erschreckend vor allem und erstaunlich zugleich – erschreckend sein Vorhandensein, erstaunlich und erschreckend sein gnadenlos sachlic...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Einleitung: Ich bin einsam wie Franz Kafka
  6. C – Der Kampf mit der Stufe
  7. B – Der Weg zum Gesetz
  8. A – Der archimedische Punkt
  9. Anhang
  10. INHALT