Brandt aktuell
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Treibjagd auf einen Hoffnungsträger

  1. 160 Seiten
  2. German
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Treibjagd auf einen Hoffnungsträger

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Über dieses Buch

Der letzte Glücksfall für DeutschlandKanzler Adenauer lästerte öffentlich über Brandts uneheliche Geburt, Helmut Schmidt nannte ihn einen Scheißkerl, Herbert Wehner diktierte in Moskau den Journalisten in den Block, Brandt bade lau. Dieser üblen Treibjagd ist Willy Brandt erlegen. Viel zu früh. Was wir von diesem Hoffnungsträger für heute lernen könnten, zeigt einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen.Gegen Willy Brandt lief Zeit seines Lebens eine Kampagne seiner politischen Gegner - mit üblen Methoden. Er wurde trotzdem Bundeskanzler. Als sich einige seiner Parteifreunde dieser Hatz anschlossen, war er erledigt. Der Autor Albrecht Müller war 1972 verantwortlich für den Wahlkampf Willy Brandts und dann Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt bei Willy Brandt und Helmut Schmidt. Er hat die Treibjagd auf Brandt hautnah miterlebt.Für Albrecht Müller ist klar: Trotz seiner nur viereinhalbjährigen Amtszeit als Bundeskanzler, hat Willy Brandt uns viel Gutes hinterlassen. Er war der Hoffnungsträger, dessen politische Botschaften und Methoden uns heute noch fehlen.

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Information

Das wahre Erbe Willy Brandts

»Das ist vielleicht Willy Brandts größte Stärke: seine menschliche Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit und seine mangelnde Begabung, verbissen zu sein. (…) Die Gegner der deutschen Sozialdemokratie haben allen Grund, diesen Typ des Sozialdemokraten von morgen genau zu studieren. Er wird ein schwieriger Widerpart sein, weil er welt- und wirklichkeitsoffen ist
Christ und Welt vom 10. Oktober 1957
Für viele aufgeklärte Menschen und alte Sozialdemokraten ist Willy Brandt bis heute eine Lichtgestalt geblieben. Nicht ohne Grund schrieb Christ und Welt die oben abgedruckte Charakterisierung des damals noch bundespolitisch unbeschriebenen Blattes: Brandt war ein Ausnahmepolitiker. Doch sein politisches Erbe ist aufgrund der dargestellten Nachplappereien und Verfälschungen heute leider weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei war Willy Brandt ein Glücksfall in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er unterschied sich schon aufgrund seiner Biographie von vielen anderen Politikern, die unser Land nach 1945 hervorgebracht hat. Es ist schade, dass seine Regierungszeit als Bundeskanzler nach viereinhalb Jahren abgebrochen ist, beziehungsweise abgebrochen wurde. Was können wir von ihm auch heute noch lernen?

Politisierung

Nun mag man einwenden, dass die sechziger und siebziger Jahre weltweit eine sehr politische Epoche waren. Doch glaube ich, dass das in Deutschland viel mit der Person Willy Brandts und seinem Charakter zu tun hatte. Die Parteien in Deutschland gewannen Mitglieder wie nie zuvor und nie danach. Die Wahlbeteiligung überschritt 1972 mit 91,1 Prozent die 90-Prozent-Marke (siehe nächste Seite).
Weit über die SPD hinaus regte sich politisches Interesse und die Lust an inhaltlicher Arbeit. Damals glaubten wir alle daran, dass wir die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern, verbessern könnten. Innerhalb und außerhalb der Parteien diskutierte und stritt man sich über die Gestaltung der Gesellschaft. Man dachte über Veränderungen nach: beim Strafvollzug wie beim Sexualstrafrecht, namentlich bei der Bestrafung der Abtreibung. Man klagte den Sumpf und die dumpfe Atmosphäre unserer Universitäten und Hochschulen an. Im Vorfeld der entscheidenden Bundestagswahl 1969 war den Engagierten klar: Zwanzig Jahre CDU-Kanzler-Herrschaft sind genug. Es ist Zeit für einen Wechsel. Bürgerinnen und Bürger setzten sich ein für Veränderungen und Reformen Eine Serie von Publikationen begleiteten die Debatten. Am bekanntesten wurde »rororo-Aktuell«. Wenn wir uns damals bei Freunden trafen, dann lag die letzte Ausgabe von rororo-Aktuell auf dem Tisch und wurde diskutiert.
Ich schwärme von dieser Politisierung nicht, um die Vergangenheit schönzureden und die Gegenwart und die Zukunft schlechtzumachen. Darum geht es nicht. Doch die Politisierung, das politische Interesse in der damaligen Zeit, war ein Phänomen besonderer Art. Willy Brandt wurde von uns dabei gedanklich instrumentalisiert. Wir sahen in ihm einen Katalysator, um das Land zum Besseren zu verändern.
Die hohe Politisierung war ein Glücksfall, auch wenn einige rechtskonservative Deutsche bei 91,1 Prozent Wahlbeteiligung von 1972 sorgenvoll die Stirn runzelten, weil da für sie offenbar zu viel »Plebs« zur Wahl gegangen war. In der Tat war diese hohe Politisierung von so vielen Menschen nur möglich geworden, weil außer den Studenten auch Arbeiter, Betriebsräte, Vertrauensleute, Gewerkschafter den Protest gegen verkrustete Verhältnisse und antidemokratische Machenschaften unterstützten. Die Bild-Zeitung und ihre Manipulationen wurden nicht nur von Intellektuellen und Studenten kritisiert und bekämpft.

Mehr Demokratie wagen

Dazu forderte Willy Brandt in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 auf. Er meinte das ernst. Er wollte zur Beteiligung an der politischen Willensbildung und zur Beteiligung in den Parteien ermuntern. In der Zeit seiner Kanzlerschaft und seines SPD-Vorsitzes sind Zehntausende in seine Partei geströmt. Über eine Million Menschen wollten damals Sozialdemokraten sein.
Auch die Mitgliederzahlen von CDU und CSU haben zwischen 1965 und 1972 beachtlich zugenommen: von rund 280 000 auf über 600 000.
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Damals wurde in den Parteien über Inhalte und Probleme und deren Lösung diskutiert. Es wurden Beschlüsse gefasst und über die einzelnen Stufen der Parteigliederungen hinweg weitergereicht. Es gab spannende Diskussionen über Steuerreform und Bodenrecht, über die Ausstattung des Staates mit finanziellen Mitteln, über die Rechte von Frauen und einen liberalen demokratischen Strafvollzug. Die SPD hat damals enorm viel getan, um die Bürgerinnen und Bürger über ihre fachliche und sachliche Arbeit zu unterrichten. Alleine die Informationen zu den Ergebnissen ihrer Steuerreformkommission sind in einer Auflage von zwanzig Millionen verteilt worden.30
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Bei der sogenannten Elefantenrunde vor der Wahl 1972 saß die Hälfte aller Deutschen vor dem Fernseher. Die Menschen hatten Mut, sich zu ihrer politischen Ansicht zu bekennen. Tausende hatten Autoaufkleber auf ihren Pkws, auch wieder nicht nur bei der SPD, sondern auch bei der Union und der FDP.
Heute gehen junge Menschen in der Regel dann in die Politik, wenn sie sich dabei eine besondere Karriere versprechen können. Soll das gut sein? Dass es nicht gut ist, kann man daran erkennen, dass die Qualität der Analyse und der konzeptionellen Arbeit in den Parteien und in den Parlamenten schlechter wird. Gute Leute gehen seltener in die Politik. Das hat etwas damit zu tun, dass die Treibjagd gegen Willy Brandt auch eine Treibjagd gegen Offenheit und Liberalität, gegen frischen Wind und das Nachdenken, gegen Kreativität und Aufmüpfigkeit war. Vor allem aber war es eine Treibjagd gegen die inhaltlich programmatische Arbeit in den Parteien. Wir brauchen diese Beschäftigung mit interessanten Fragen jedoch, damit kreative junge Menschen sich dort einklinken können und letztlich in die politische Verantwortung hineinwachsen. Wir brauchen auch aufmüpfige junge Menschen in der politischen Verantwortung. Wir brauchen nicht zu allererst Geschlossenheit der Parteien, wir brauchen gute Diskussionen in der Sache.
Die Qualität der politischen Entscheidungen in unserem Land hängt wesentlich davon ab, wie qualifiziert die Menschen sind, die die Entscheidungen vorbereiten und sie dann treffen. Die Auswahl dieser Menschen obliegt bei uns den Parteien. Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung mit, heißt es im Grundgesetz. Willy Brandt wusste, dass das Leben innerhalb einer Partei lebendig und attraktiv sein muss. Es muss so offen sein, damit dort vorurteilsfrei an der Lösung von Problemen und an der Programmatik gearbeitet werden kann. Diese Arbeit muss einen hohen Stellenwert in den Parteien haben, damit sie nicht nur Karrieristen anziehen, sondern auch Menschen, die die Gesellschaft verbessern wollen. Weltverbesserer sind wichtig für die politische Willensbildung.
Willy Brandt hat fähige Menschen angezogen und damit seiner Partei und unserem Land geholfen. In der SPD gab es Experten für Strafvollzug, für die Steuerreform, für das Bodenrecht, für die Entwicklung der Hochschulen, für die Stadtplanung, für den öffentlichen Nahverkehr, für die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand und – natürlich auch für die Entspannungs- und Ostpolitik, und so weiter. Auch Medien stiegen in die Programmdiskussion der Politisierten ein: beispielsweise Stern, Spiegel, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Panorama, Monitor, um nur einige zu nennen.
Auch in der FDP gab es eine erfreuliche Debatte, die wichtig war, damit sich diese Partei aus der Umklammerung der Nationalliberalen lösen konnte. Karl-Hermann Flach, damals Generalsekretär und vorher geschäftsführender Redaktionsleiter der Frankfurter Rundschau, war der Motor dieser Entwicklung. In der CDU gab es eine lebendige Diskussion um die Ausweitung der Mitbestimmung. Die Sozialausschüsse haben die Abstimmung zwar nicht gewonnen, aber sie haben das wichtige Thema der Mitsprache der Arbeiter und Angestellten in den Betrieben mit befördert.
Die stärkere Politisierung bewirkte auch einen kritischeren Umgang mit manchen Medien. Damals waren die Manipulationen durch die Bild-Zeitung und den Springer- wie den Bauer-Konzern ein Thema, das viele Menschen beschäftigte. Nicht nur die Studenten haben gegen die manipulativen Kampagnen des Springer-Konzerns demonstriert und die Auslieferung der Springer-Zeitungen zu blockieren versucht, an dieser Gegenbewegung waren auch viele Arbeiter beteiligt. So haben in Offenbach am Main Arbeiter der Stadtwerke die Verkaufskästen der Bild-Zeitung vom Werksgelände weggeräumt. Andere Betriebe folgten. Der Grund: Die Bild-Zeitung hatte ständig und konsequent sowohl gegen die sozialliberale Koalition in Bonn als auch gegen Arbeitnehmer und ihre Lohnvorstellungen polemisiert und obendrein immer wieder Reklame für die Bonner Opposition gemacht. Der Spiegel, damals noch ein kritisches Blatt, belegte in seiner Ausgabe vom 5. Oktober 1970 anhand einer Serie von Schlagzeilen, welche Dimension die Treibjagd bei der Bild-Zeitung erreicht hatte. Damals haben normale Zeitgenossen noch gemerkt, wie sehr Manipulation und Hetze das Klima vergiftet und die Macht des Souveräns beschränkt haben. Und sie haben etwas dagegen getan.
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Einige Medien hatten den Mut, sich kritisch mit den Manipulationen und Kampagnen anderer Medien und der Lobby des Großen Geldes zu beschäftigen. So veröffentlichte der Stern eine Woche nach der Wahl vom 19. November 1972 den Leitartikel seines Chefredakteurs Henri Nannen unter der Schlagzeile »Für Fälscher kein Pardon«. Darin beschreibt Nannen die unglaublichen und teilweise kriminellen Aktionen und Publikationen von Willy Brandts Gegnern.

Brandt, der gute Deutsche

Auch die Regierungen von Adenauer und Erhard waren im Großen und Ganzen gut angesehen. Mit Brandt veränderte sich aber die Atmosphäre. Weltweit interessierten sich Menschen dafür, wer da in Deutschland regiert und die Lasten der Vergangenheit wegräumt. Eine von Willy Brandt formulierte Passage in der Regierungserklärung von 1969 war wegweisend: »Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein im Innern und nach außen.« Das galt auch für die Menschen in Osteuropa, die bis dahin unter dem Generalverdacht der westdeutschen Politik und Medien standen, dass sie alle schlimme Kommunisten seien, uns schaden und überrollen wollen. Es ging sogar so weit, dass die Russen auf Plakaten sowohl der CSU/CDU als auch der NPD als Untermenschen dargestellt wurden.
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Willy Brandt warb für die Verständigung auch mit ehemaligen politischen Gegnern und Feinden. Er hat der deutschen Gesellschaft überhaupt erst den Blick dafür geöffnet, was im deutschen Namen anderen Völkern im Osten wie im Westen angetan worden ist. Dass zwanzig Millionen Menschen in der Sowjetunion Opfer des Zweiten Weltkriegs geworden sind, war vorher vielen nicht gegenwärtig. Wer begriffen hatte, wie sehr die Russen, die Polen, die Jugoslawen, die Tschechen wie auch die Holländer, Franzosen und Belgier, die Dänen und Norweger Opfer von Deutschen geworden waren, der war auch fähig dazu, die Hand zu reichen.
Willy Brandt hatte die Fähigkeit, eine Sprache zu wählen, die es auch Deutschen, die nicht zu seiner engeren Anhängerschaft gehörten, möglich machte, die Brücke der Verständigung zu betreten. Er sprach von Versöhnung. Er ging im Ghetto von Warschau auf die Knie. Er traf sich mit Politikern des Warschauer Paktes auch bei privater Gelegenheit wie etwa mit Breschnew auf einem Boot im Schwarzen Meer. Das alles waren Gesten des Aufeinander-zu-Gehens.
Es liegen offensichtlich Welten zwischen dem »Geist« des von Brandt gepflegten Umgangs mit anderen Völkern und den heutigen Gepflogenheiten. »Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen!« und »Griechenland muss nachsitzen« – diese Schlagzeilen aus deutschen Blättern und die gleichzeitig zu beobachtende Arroganz weiter Kreise einschließlich der Bundesregierung sind Zeichen schlechter Nachbarschaft.
Ich hatte 1970 ein persönliches Erlebnis, das mir schlagartig klarmachte, was wir mit diesem Bundeskanzler Brandt gewonnen hatten. Ich war damals zu einem privaten Besuch nach Tansania gereist. Mein Freund, ein Entwicklungshelfer und Ernährungswissenschaftler, war einigermaßen bekannt im Land. Auf irgendeine Weise hatte es sich deshalb bis zum Präsidentenpalast von Julius Nyerere herumgesprochen, dass ein Mitarbeiter von Willy Brandt im Land sei. Ich wurde daraufhin zu einem persönlichen und langen Gespräch mit dem Präsidenten eingeladen.
Auf anderer Ebene profitierten deutsche Unternehmen vom besonderen Ansehen des deutschen Bundeskanzlers. Was bis heute aufgebaut worden ist, unter anderem im Osthandel, gründet auf dem Fundament, das der damalige Bundeskanzler gelegt hat – und das unter Schmerzen, wie wir alle wissen. Denn Willy Brandt wurde gerade von Teilen der Wirtschaft aufs Heftigste und äußerst bösartig bekämpft.

»Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller
Dinge«

Das klingt für sich genommen nicht besonders eindrucksvoll. Wenn man diese Aussage aber auf die heutigen Vorgänge spiegelt, wenn man beachtet, wie schnell heute wie im Fall Libyens mit militärischen Operationen gedroht und sie dann auch durchgeführt werden, oder wie leichtfertig sie im Falle Syriens gefordert werden, dann weiß man, was man von Politikern hat, die fest entschlossen sind, alle, wirklich alle Möglichkeiten der friedlichen Lösung von Konflikten zu suchen und zu nützen, bevor sie überhaupt an eine militärische Intervention denken. Bei Willy Brandt konnten wir sicher sein, dass er weiß, was Kriege bedeuten: Elend, Not, Zerstörung und die Fortsetzung mit dem nächsten Krieg und dem nächsten Konflikt.
Willy Brandt und einige Freunde in der Berliner und Bundes-SPD haben schon in den fünfziger Jahren darüber nachgedacht, wie man die Konfrontation zwischen Ost und West abbauen könnte. Um dem tödlichen, möglicherweise mit Atomwaffen betriebenen Krieg auszuweichen. Er und sein engerer Kreis von Mitarbeitern und Beratern propagierten dann das Prinzip des Gewaltverzichts und der Zusammenarbeit. Sie entwickelten ein langfristig angelegtes Konzept. Egon Bahr verkündete in Tutzing 1963, also zwei Jahre nach dem Bau der Mauer, die Grundlinien dieses Konzeptes: Wandel durch Annäherung. Man setzte auf Abbau der Konfrontation und dann in einem zweiten Schritt zu inneren Veränderungen im Warschauer Pakt. Aus Feinden sollten zunächst einmal Kooperationspartner und dann auch Freunde werden. So ist das gelungen: mit Polen, mit Tschechien, mit Ungarn und hoffentlich auch endgültig mit Russland.
Das ist eines der wenigen Beispiele aus der jüngeren Geschichte dafür, dass Politiker fähig waren, langfristig zu denken und ein langfristig angelegtes Konzept umzusetzen. Ähnlich langfristig haben übrigens nur die neoliberal ausgerichteten Professoren der Chicago-Schule gedacht, sie haben 1973 in Chile angefangen, die innere Welt vieler Staaten zu verändern. Im schlimmen Sinne, wie ich meine. Ich weise auch nur darauf hin, weil dies das zweite Beispiel für langfristige Planung ist, das mir einfällt.
»Ohne eine einfache Analogie herstellen zu wollen, schließe ich mit der Frage, ob die in der langfristig angelegten Ostpolitik Willy Brandts zum Einsatz kommende Methode der Konfliktbearbeitung und seine Vorschläge für eine solidarischere Gestaltung des Nord-Süd-Verhältnisses nicht Lehren vermitteln können, die bei den gegenwärtigen Krisen und Kriegen Auswege weisen.« So endet Peter Brandts Buch über seinen Vater und so ist es.
Wir bräuchten heute Politikerinnen und Politiker, die willens und fähig sind, den Konflikt mit islamischen Völkern mit einer langfristigen Strategie abzubauen und zu beenden und damit auch Schlimmeres zu verhindern. Bei der Entwicklung und der Umsetzung einer solchen Strategie bräuchte man ähnliche Gedanken und Einsichten, wie wir das von Willy Brandt bei der Konzeption der Ost- und Vertragspolitik erfahren haben: sich in die Lage anderer Völker versetzen, ihre Interessenlage mit bedenken, die friedliche Lösung hochhalten und alles vermeiden, was zum kriegerischen Konflikt führt, keine weiteren Anlässe bieten für das Hochschaukeln von Gefühlen und Konflikten, wie das heute übrigens permanent geschieht.
Bei Willy Brandt konnte man sich darauf verlassen, dass er kriegerische Einsätze nicht planen und nicht befürworten würde, um sich und seine Partei und seine Regierung innenpolitisch zu stabilisieren. Genau diesen Verdacht muss man heute haben, wenn man an die Bushs, an Thatcher, an Cameron und andere denkt. Sie waren und sind in innenpolitischen Nöten, sie haben nach Umfragen keine Mehrheiten mehr, also rasseln sie mit dem Säbel, weil sie wissen, dass dies in der Regel die Menschen um sie scharen lässt. So weit sind wir weg von der Zeit und der Politik, die von Willy Brandt oder auch dem damaligen Bundespräsidenten Heinemann geprägt worden sind.

Gegen den Herrschaftsanspruch der
finanzstarken Oberschicht

»Wehrt euch gegen die Bevormundung von oben, wehrt euch gegen die Zerstörung des Kerns der Demokratie«. Das würde uns Willy Brandt wahrscheinlich anlässlich seines Hundertjährigen zurufen, wenn er erleben würde, wie die Macht des Souveräns, des Volkes, bei uns nach und nach ausgehöhlt wird. Die Demokratie ist, darin sind sich zumindest kritische Fachleute einig, in wirklicher Gefahr. Wer nämlich über viel Geld und/oder publizistische Macht verfügt, der kann heute weitgehend bestimmen, was und wie in der Politik entschieden wird. Das lässt sich mit intensiver Lobbyarbeit und mit begleitender Propaganda und Public Relations bewerkstelligen. So wurden wir braven Steuerzahler mit der Behauptung, jede Bank sei systemrelevant, dazu verdonnert, eine lächerlich unbedeutende Bank in Düsseldorf, die sogenannte Industriekreditbank, mit gut zehn Milliarden Euro zu retten. Wir haben sogar zehnmal so viel draufgelegt, um die Münchner HypoRealEstate vor dem Bankrott und damit ihre Gläubiger vor ihren Spekulationsverlusten zu retten. In Deutschland wurde ein großer Niedriglohnsektor geschaffen, Leiharbeit eingeführt und den Arbe...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Title Page
  3. Copyright Page
  4. Inhalt
  5. Warum dieses Buch
  6. Ein Jahrhundertpolitiker
  7. Von der Kurpfalz über München nach Bonn
  8. Parteifreunde und andere Feinde
  9. Schicksalsjahr 72 – Triumph und Niedergang
  10. »Die wollen gar nicht gewinnen«
  11. Ein harter Kampf – für Brandt und die SPD
  12. Ein totgeschwiegener Putschversuch
  13. Der eine sät, die anderen ernten
  14. Der ungeliebte Konkurrent
  15. Wehner, der illoyale Machtmensch
  16. Schmidt, die Führungspersönlichkeit
  17. Üble Nachrede
  18. Totschlagargument Depression
  19. Brandt, der Teilkanzler?
  20. Erfolglos im Inneren?
  21. Mythos Linksruck
  22. Das wahre Erbe Willy Brandts
  23. Anmerkungen
  24. Literatur
  25. Dokumentation