Hilfe, was darf ich noch essen
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Hilfe, was darf ich noch essen

Der Kampf um die richtige Ernährung

  1. 224 Seiten
  2. German
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Hilfe, was darf ich noch essen

Der Kampf um die richtige Ernährung

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Gegessen wird, was auf den Tisch kommtIn punkto "richtiger" Ernährung scheiden sich die Geister. Entweder man findet, Fleisch und Tierprodukte sind Inbegriffe des Bösen, während Soja und Co. wahre Heilsbringer sind. Oder umgekehrt: Soja ist Teufelszeug und Fleisch der heilige Gral. Anne-Marie Butzek überprüft die verbreitetsten Meinungen und Argumente und fordert: Schluss mit der Essensschlacht.

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Information

1 Fresskultur und Esskult

Und so oder zumindest so ähnlich sieht die Welt hinter der Pferdelasagne momentan aus: Eine mittelgroße deutsche Stadt. Nebenan hat ein neues Café eröffnet. Einige Wochen haben darin fleißige Menschen gewerkelt: Sie haben Parkett verlegt, die Wände tapeziert und in aufeinander abgestimmten Pastellfarben gestrichen, haben einen Tresen aufgebaut sowie etliche nicht zusammengehörende, dennoch optisch zusammenpassende Tischchen und Stühle in den großzügigen Vorraum gebracht. Da heute die Sonne scheint, erstreckt sich die gastronomische Landschaft bis an die Bordsteinkante. Zur Eröffnung vor ein paar Tagen sind dreimal so viele Menschen erschienen, wie das Lokal fassen kann. Nun jedoch verteilt sich die sicherlich noch größere Masse über den Tag, so dass es kaum enttäuschte Gesichter gibt, die keinen freien Platz mehr ausmachen. Mehr Frauen als Männer sitzen dort und schlürfen Kaffee, kauen Bissen von Küchlein, beißen in Teigringe. Sie dürften zwischen 20 und Mitte 30 sein. Gelegentliche Altersausreißer nach unten oder oben fallen aber kaum auf, denn sie tragen die gleiche Kleidung: eng geschnittene Hosen zu klassischen Hemden die Männer, Leggins zu lockeren T-Shirts oder verspielte Kleider die Frauen. Sie blinzeln durch die gleichen dunkel umrahmten Brillen und auf ihr Smartphone, das sie selten aus der Hand legen, und haben dieselbe jugendliche Ausstrahlung.
Was hat es nur auf sich mit diesem neuen Lokal? Vielleicht wagen Sie sich selbst einmal hinein. Innen mutet zunächst nichts so speziell an wie die Kundschaft. Deren Gespräche drehen sich, so viel können Sie im Vorbeigehen aufschnappen, ums Essen, um den letzten Tweet von Sigmar Gabriel, das Statusupdate von Lady Gaga oder das neue Werk von Jan Bredack (von wem …? Dazu später). An der Theke, hinter der sich appetitlich angerichtetes Kleingebäck, Kuchen und Belegtes tummeln, bleiben Sie stehen, um einen Blick auf das Angebot zu werfen. Während die »Barista« – mit gepiercten Lippen – Ihnen ein aufmunterndes Lächeln zuwirft, lesen Sie: »caffè crema, cappuccino, latte macchiato …« – also abermals nichts Außergewöhnliches. Doch da, am Ende der Schiefertafel, ist die Standardorthographie wieder intakt: »Alle Produkte sind garantiert frei von tierischen Erzeugnissen!«
Milchkaffee ohne Milch, Käsekuchen ohne Quark, Käsestangen ohne Käse? Und damit lockt man solche Menschenmengen?

DIE PLURALISTISCHE TISCHGESELLSCHAFT

Die ersten Kontakte mit dem Veganismus, wie er sich heute in deutschen Städten ausbreitet, befremdet wohl nicht so sehr wie noch vor 15 Jahren die Begegnung mit Pflanzenköstlern, die sich mehrheitlich als hinterwäldlerische Pazifisten präsentierten. Wirklich neu ist der Veganismus ja nicht. Dennoch bleibt ein gewisses Maß an Verwunderung nicht aus: Exotisch bis merkwürdig klingen Mandelmilch, Seidentofu, Seitan und Carob. Verblüffend bis erschreckend ist die Ähnlichkeit der veganen Versionen mit den konventionellen Varianten von Hackfleisch, Aufschnitt oder Sahnehauben.
Obacht, die Kellnerin spricht Sie an: »Sie sind wohl zum ersten Mal hier? Alles, was wir anbieten, ist garantiert cruelty-free. Und lecker ist es obendrein! Vegan bedeutet nämlich Genuss und nicht Verzicht, wie viele denken.«
Etwas überrumpelt bestellen Sie einen Kaffee ohne Milch und ein Stück Apfelkuchen.
»So einfach kann man die Welt ein kleines Stückchen besser machen, gell?«
Sie lächeln, zahlen und steuern auf einen Tisch in der Ecke zu, von dem aus das gesamte Café zu überschauen ist. Außerdem bemerkt Sie dort nicht jeder sofort, obwohl Sie rein äußerlich herausstechen, so ohne diese »alternative« Aura …
Vegetarier sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen – wie es so schön heißt, wann immer ein Grüppchen, das sich in Geisteshaltung und Verhaltensweisen vom Gros der Menschen unterscheidet, ausreichende Bekanntschaft sowie Anerkennung gewonnen hat. Die wenigsten Westeuropäer finden noch etwas Abwegiges daran, den Genuss von Fleisch abzulehnen. Die Mehrheit hat mindestens einen Vegetarier im Freundeskreis oder in der Familie, wählt gelegentlich das vegetarische Menü in der Kantine und nimmt ihre Lebensmittel auch aus dem Regal, in dem die fleischfreien Alternativen zu Schnitzel und Co. liegen. 8 bis 9 Prozent der Deutschen gaben je nach Quelle bereits 2007 an, Vegetarier zu sein,1 und die neuesten Erhebungen des deutschen Vegetarierbundes im Dezember 2013 liefern ähnliche Ergebnisse.2 Das bedeutet auch, dass es sich um Menschen »wie du und ich« handelt, die in allen Schichten und Altersklassen anzutreffen sind. In der Regel erkennt man sie nicht auf den ersten Blick. Zwar erhöht sich – rein statistisch – die Wahrscheinlichkeit, dazuzugehören, je besser man ausgebildet und je höher das Einkommen ist. Außerdem tendieren Frauen eher zu einer vegetarischen Ernährung als Männer. Doch den prototypischen Vegetarier sucht man heute vergebens.
In den letzten Jahrzehnten hat nicht nur das Nischendasein des Vegetarismus ein Ende gefunden, sondern seine Anhängerschaft ist sogar rasant gewachsen: Innerhalb von 20 Jahren hat sich die Zahl derer, die auf Fleisch verzichten, verzehnfacht. Womöglich steht seinem rigoroseren kleinen Bruder, dem Veganismus, eine ähnliche Entwicklung bevor. Aus rund 800 000 Veganern3 könnte in wenigen Jahren eine um ein Vielfaches größere Gruppe geworden sein, wenn der momentane Trend sich fortsetzt. Abnehmender Fleischkonsum und zunehmendes »kulinarisches« Gewissen4 schaffen auf der einen Seite die Grundvoraussetzungen für all diejenigen, die sich mit den Lebensmitteln, die sie essen, auseinandersetzen. Auf der anderen Seite erreichen solche von der Norm abweichende Ernährungsstile dieser Tage aber auch ein Heer weniger nachdenklicher Hungriger. Junge und Junggebliebene sind der Pflanzenkost in der Regel nicht abgeneigt, zumindest diejenigen unter ihnen, die über das nötige Kleingeld verfügen und/oder den Drang nach Neuem verspüren, von dem sie dann ein Foto auf Facebook posten können. Jeder neue Lebensmittelskandal, jede neue medizinische Erkenntnis, die es in die Medien schafft, jedes neue Produkt im Supermarktregal fällt auf fruchtbaren Boden. Und auch dort, wo der Grund noch nicht optimal bereitet ist, erschüttert ein nicht aufhörendes Beben von Verunsicherungen diesen Teil unseres Weltbildes. Unsere Ernährungsgewohnheiten sind heute – wie unsere Religion, unser Beruf, sozialer Status und so weiter – weder unantastbar noch ein Leben lang dieselben. Die Welt wandelt sich rasant, und alle müssen mit: Auch kulinarische Trends fügen sich schlüssig ein in das, was vielleicht die neue postkoloniale, zivilisatorische Aufgabe ist: die Selbstoptimierung.5
So ist 2014 die schöne neue Welt ein globales Dorf voll freier Menschen (oder eher Konsumenten?) mit vielfältigen Möglichkeiten. Jeden Tag können wir etwas Neues ausprobieren, vom andersfarbigen Kugelschreiber bis hin zur Lebensphilosophie. Potentiell bedeutet das das Ende der »Betriebsblindheit« in Sachen Ernährung. Immer mehr Esser lösen sich aus einem Zustand, der zwischen gesättigtem Dornröschenschlaf und Fresskoma schwankt. Konventionelle Ernährung mit Butterbrot und Sonntagsbraten? Wie langweilig!
Doch bevor es, wie der Volksmund so schön sagt, Butter bei die Fische gibt, noch einige Einschränkungen: Zunächst einmal gibt es die vollständige (Konsum-)Freiheit nur in der Theorie. In Wirklichkeit hängt das, was wir tun – also auch das, was wir essen –, davon ab, welchem Milieu wir angehören oder angehören wollen. Wie viele Sozialhilfe-, Bafög- oder Arbeitslosengeldempfänger essen mehr Fleisch, als ihnen, von den Tieren ganz zu schweigen, guttut? Wie oben angedeutet, ergibt sich die Beschaffenheit des Speiseplans wie so vieles in Deutschland aus dem sozioökonomischen Status.6 Mal geht es ums preisgünstige Sattwerden, mal um den Genuss (Fleisch als Speise der Reichen, ganz klassisch wie in früheren Jahrhunderten) und wohl in den meisten Fällen, wenn Burger, Chicken Nuggets und Döner auf dem Menü stehen, um schnelle Energiezufuhr – man hat ja keine Zeit.
Apropos Spielarten von Fleisch: Gerade das schier unendliche Angebot der modernen Konsumlandschaft vermag natürlich nicht nur pflanzenköstlerische Strömungen anzutreiben, sondern genauso jegliche andere alternative Ernährungsform. Eine Zeitlang tauchten immer neue probiotische Milcherzeugnisse in den Kühlregalen auf, die zur sogenannten Functional-Food-Bewegung zuzuordnen waren. Heute lassen sich wiederum neue Phänomene beobachten. Scheinbar löst allmählich der kleine Trend zu Ziegen- und Schafprodukten, der teilweise mit der Biowende zusammenhängt, die Vollkörnigkeit der letzten Jahre ab. Sogar mit zuckrigen Frühstückszerealien können Freunde des dunklen Korns sich gesund ernähren, weil darin ja »XY Prozent Vollkorn« enthalten sind. Da langsam, aber sicher dem hochverarbeiteten Lebensmittel als solchem der Krieg angesagt wird, neigt sich die Ära der rettenden Vollkornanteile ihrem Ende zu.7 Neu hinzu kommt nun die vermeintlich »gesündere« biologische Tiefkühlpizza. Jenseits der konventionellen Mischernährung haben auch einige die Low-Carb-Kost für sich entdeckt8 und tragen nun mit dazu bei, dass der Fleischkonsum weiterhin hoch bleibt beziehungsweise beim einzelnen ansteigt. Zu diesem Phänomen gehört der Hühnchenschenkel im Discounter für den Preis von zwei bis drei Paprika ebenso wie das Rinderfilet oder Exotisches (Strauß, Elch, Krokodil!), die regulär an der Supermarktfrischetheke zu erwerben sind.
Die bunte Lebensmittelwarenwelt weckt Begehrlichkeiten und Neugier. Auch im veganen Café tummeln sich keine wagemutigen Aussteiger, sondern aufgeschlossene Otto Normalverbraucher, die höchstens eine anfängliche Scheu überwinden müssen. Den althergebrachten Klischeevorstellungen entsprechen die heutigen Blüten der Veganerbewegung sowieso nur noch bedingt. Selten erblickt man langmähnige, dünne Männlein und Weiblein in Leinenklamotten. Sätze wie »Fleisch ist Mord« oder Vergleiche zwischen Schweinemastanlagen und Konzentrationslagern (dazu später mehr) hört man ebenso selten, wenngleich einige Überzeugungstäter sie durchaus bedenkenlos über die Lippen bringen. Dabei sind die Fleischgegner, vereinzelt immerhin, mittlerweile in allen Schichten, Einkommensklassen und Milieus anzutreffen. Entsprechend breit gefächert sind Beweggründe, Methoden und Ziele unter denen, die sich von der traditionellen deutschen Speisenauswahl abwenden und sich freiwillig Schranken auferlegen. Lässt sich diese wachsende Masse überhaupt fassen und in Kategorien einordnen? Wissenschaftlich exakt kann dieses Buch dem heutigen Vegetarismus, Veganismus und allen voran der konventionellen deutschen Ernährungsweise nicht beikommen; das überlasse ich zukünftigen Bachelorarbeiten in der Soziologie, Medizin oder den Kulturwissenschaften. Und obwohl diese Konzepte im Alltag ähnlich präzise wie der Oberbegriff »Baum« eine Gruppe beschreiben, also Pflanzen, die vom Bonsai bis zum Mammutbaum alles sein können, was Blätter und einen Stamm hat – nützlich ist so ein Etikett dennoch. Fairerweise sei aber nochmals betont, dass Aussagen über »den Vegetarier«, »den Veganer« immer nur ungefähr zutreffen. Jedes einzelne Mitglied der Gruppe zeichnet sich durch zahlreiche Eigenheiten aus und unterscheidet sich womöglich frappierend vom nächsten. Dasselbe gilt natürlich für die Fleischfresser und Milchtrinker, nur dass diese deutlich seltener empfindlich auf Verallgemeinerungen reagieren als die gegnerischen Minderheiten …

MEINE SUPPE ESS’ ICH NICHT!

Laut der ersten, bereits 1847 gegründeten britischen Vegetariergesellschaft, der Vegetarian Society, ist ein Vegetarier »jemand, der sich von Korn, Sprossen, Nüssen, Samen, Obst und Gemüse ernährt, mit oder ohne Milchprodukte und Eier. Ein Vegetarier isst kein Fleisch, Geflügel, Wild, keinen Fisch, Krustentiere oder Nebenprodukte von Schlachtungen.«9 Die angelsächsische Vereinigung der Veganer, die Vegan Society, definiert Veganismus dahingegen folgendermaßen: »Veganismus ist eine Art zu leben, die, soweit wie möglich und durchführbar, alle Arten von Ausbeutung und Grausamkeit an Tieren für Nahrungsgewinnung, Kleidung sowie andere Zwecke ausschließt.«10 Abgesehen von Fleisch, fallen auch alle anderen Produkte weg, bei deren Erzeugung Tiere mit von der Partie sind, also Milch, Honig, Ei und darüber hinaus Leder, Wolle, Seide. Auch Seife oder Putzmittel mit tierischen Bestandteilen werden je nach Grad der Ambitioniertheit gemieden.
Die Zeiten, in denen das Essen nur einen Anspruch zu erfüllen hatte, nämlich satt zu machen, sind eindeutig vorbei. Die lebenserhaltende Funktion der Nahrungsmittel ist heute höchstens noch ein netter Nebeneffekt, die zusätzlichen Bedeutungen schier unendlich. Modenahrungsmittel, zum Beispiel zur Leistungssteigerung und vielleicht auch nur für den persönlichen Nimbus des Mit-der-Zeit-Gehenden, sind das eine, neue Essgewohnheiten das andere. Abgesehen von den immer fleischmeidenden Essern, besteht die Bevölkerung in Deutschland bereits zu über 12 Prozent aus sogenannten Flexitariern11, die nur noch einige Male im Jahr an der Bratwurstbude vorbeischauen. Und der neueste Clou sind die Teilzeitveganer, die noch engagierter als die Teilzeitvegetarier rein pflanzliche Etappen in ihren Speiseplan einbauen.12
Klingt verwirrend? Ist es auch, denn die Begrifflichkeiten verschwimmen zunehmend. Eigentlich kann sich jeder dem Teilzeitveganismus zurechnen, denn pflanzliche Anteile gehören sowieso immer mit auf den Teller. Ob nun irgendein Promi wie Beyoncé, von der Öffentlichkeit bewundert, eine 30-tägige Tierproduktpause einlegt oder man selbst eben nur von 9 bis 18 Uhr darauf verzichtet, ist lediglich eine Frage des Ausmaßes. Außerdem verzerren diese Modephänomene das Bild. Die Wortschöpfung berücksichtigt beispielsweise nur die Speisenauswahl; ansonsten beherbergt sie einen inneren Widerspruch: Eine Lebensphilosophie, die nur an so und so vielen Tagen im Jahr gilt, verdient den Namen wohl nicht. Das wäre in etwa so sinnig wie von Teilzeitkatholizismus zu sprechen. Einen Monat im Jahr glaube ich an Gott und den Papst, und den Rest des Jahres richte ich mich lieber nach meinem eigenen Gewissen …
An dieser Stelle kann ein genauerer Blick auf die Ursprünge des Pflanzentrends nicht schaden, um Unklarheiten zu beseitigen. Dabei tritt auch noch mal deutlich zutage, dass – so sehr es uns auch so vorkommen mag – die gewöhnliche deutsche Speisenzusammenstellung nicht selbstverständlich ist. Bei dem Tempo, mit dem sich das »normale« Menü verändert, sei es durch Einflüsse aus anderen Ländern und Kulturen oder weniger greifbare Faktoren, kann es durchaus sein, dass die alltägliche Scheibe Käsebrot in zwei Jahren auf den dann konventionellen Esser abstrus wirkt.
Rollen wir das Feld also von hinten auf und definieren, welche Namen das, was tagtäglich auf unseren Tellern landet, bezeichnen. Was ist jetzt die Norm? Zum Glück gibt es da einige Starthilfen von staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hat ein pyramiden- und neuerdings ein kreisförmiges Schaubild entworfen, das die »deutsche Ernährung«, also eine Idealform derselben, darstellt. Auch wenn sich sicherlich kaum jemand an den optimalen Speiseplan hält, isst er doch für gewöhnlich Mischkost, das heißt überwiegend pflanzliche und einige tierische Produkte.13 Dabei ist die Palette bunt wie nie zuvor. Regionale Getreide-, Obst- und Gemüsesorten fallen zumindest im Winter zurück hinter die aus der restlichen Welt eingeführten Sorten. Auberginen und Ananas sind heute ganzjährig Standard in jedem Discounter. Gleiches gilt für Milch, die nicht mehr nur von Kühen, sondern auch von Ziegen stammt oder aus Soja gewonnen wurde, Fisch wie Pangasius und vieles mehr. Doch selbst was jetzt Spezialitätenstatus hat, kann zukünftig massenhaft Verbreitung finden – Pferdefleisch macht’s vor (wenn auch unfreiwillig). Vieles davon hat sich über Jahrzehnte hinweg so herauskristallisiert und basiert, in ganz ferner Vergangenheit, auf dem, was die natürliche Umgebung so hergab.
Bei aller (berechtigter!) Skepsis, die man gegenüber jeder Art von Konsumempfehlung haben mag – der nächste Lobbyist wohnt bestimmt nicht weit entfernt vom Hauptquartier der DGE –, sollte man einerseits dies im Hinterkopf behalten. In unserer gemäßigten Klimazone mit gemischter Vegetation hat sich ein entsprechend gemäßigt-gemischter Speiseplan als günstig erwiesen. Andererseits steht dahinter das Ziel einer ausgewogenen Ernährung, und dass sie dergestalt funktionieren kann, lässt sich ja tagtäglich schon seit Jahrhunderten beobachten. Vermutlich folgt die Mehrheit sogar eher unbewusst diesen Richtlinien – oder eben nicht. Schließlich hätte die aktuelle Kontroverse ums richtige Essen lange nicht so viel Sprengkraft, wie sie hat, wenn sie sich nur auf ein kleines Unterthema beschränkte, zum Beispiel dass Lebensmittelkontrolleure regelmäßig schlampig arbeiten. Zusätzlich aber grassieren offenbar Fehlernährung und Übergewicht, aber dazu mehr in Kapitel 3.
Bei den trendfühligen Massen, die sich geradezu im pflanzlichen Milchkaffee baden (wie zu antiken Zeiten in Eselsmilch …), sind nun nicht wenige vom Phänomen Veganismus wie vor den Kopf gestoßen. Man hört vom »strengen Vegetarismus« mitunter die abenteuerlichsten Dinge. Mal wird Veganern nachgesagt, sie könnten eigentlich gar nichts essen, mal werden sie für den exzessiven Sojaanbau in Lateinamerika und für Hetzkampagnen gegen Tierwirtschaft verantwortlich gemacht. Linksradikale Dreadlockträger in Cordhosen seien sie jedenfalls alle miteinander. Diese Reaktion ist der vor 30, 40 Jahren nicht unähnlich, als der gemäßigtere Vegetarismus verschrien war. Wo er noch heute bei älteren Generationen und in großen Teilen Osteuropas schiefe Blicke erntet, möchte man sich kaum ausmalen, wofür dort der Veganismus gehalten wird – eine Geisteskrankheit? Dabei ist, bei Licht betrachtet, diese, nun ja, Haltung des Geistes kaum weniger abwegig als andere, die den kulinarischen Extravaganzen in modernen Industrienationen zugrunde liegen; Stichworte: cholesterinsenkende Margarine, buntes Kohlensäurezuckerwasser, fettfreier Joghurt. Konfliktpotential entsteht an dieser Stelle nur, weil vegan zu essen doch noch weiter geht und aktuell hochgradig unkonventionell ist.
Vieles an der Ideologie dahinter scheint gar inkompatibel mit dem meisten, was so zum Weltbild des Otto Normalbürgers gehört. Zumindest im Groben aber sind Ernährungsstile flexibel, auch wenn es die dazugehörigen Einzelmäuler kaum sind. Essen ist Kultur, und Kultur beruht auf Konventionen. Übereinkünfte werden stets neu verhandelt, speziell wenn sie unter Beschuss geraten. So konnte sich ja vegetarisch schon erfolgreich einbürgern,14 wenngleich der Prozess nicht abgeschlossen ist. Gelegentlich stelle ich überrascht fest, dass sich die Herrschaft der Pflanzen im ländlichen Raum erst zögerlich ausweitet. Dort bestehen abstruserweise vegane Kochbücher auf den Tischen der örtlichen Buchhandlung neben vor Fleisch überquellenden Speisekarten in den Gaststätten, die nur mit ganz viel Glück überhaupt ein vegetarisches Gericht anbieten.
Also zurück ins (städtische) vegane Café. Wie Sie nun unschwer hier erkennen können und gleichfalls im Supermarktregal mit den vegetarischen Schnitzeln, definieren sich gegenüber der, sozusagen liberalen, Standardernährung alternative Formen zunächst darüber, was nicht auf den Speiseplan gehört. Vegetarisch ist ja prinzipiell genauso Mischkost aus Pflanzen- und Tierprodukten nur minus der toten Tiere. So weit, so bekannt. Allerdings geraten hier gleich zwei Aspekte in...

Inhaltsverzeichnis

  1. Abdeckung
  2. Titel
  3. Urheberrecht
  4. Inhalt
  5. Einleitung Schon wieder so ein Ernährungsbuch
  6. 1 Fresskultur und Esskult
  7. 2 Zoon politikon und Homo oeconomicus: Ausflug auf den Bauernhof – oder in die Agrarfabrik?
  8. 3 Das leibliche Wohl
  9. 4 DiEthik
  10. Ein vorläufi ges Schlusswort Die Erbsenbüchse der Pandora
  11. Anmerkungen
  12. Abkürzungen
  13. Literatur und Internetquellen