1 Ökonomie oder Wirtschaften?
Bremer Lesern wird die Sage von den »Sieben Faulen« geläufig sein. Sieben Brüder zeichneten sich durch allerlei Ideen und Leistungen aus, mit denen sie sich ständig das Leben leichter (»fauler«) und ertragreicher machten, zum Beispiel durch Trockenlegen feuchter Wiesen, Ziehen von Zäunen gegen Wildfraß oder »in ihren alten Tagen« (!) den Bau eines Brunnens.
Wesen oder Un-Wesen? Die Ökonomie
Im wörtlichen und ursprünglichen Sinne steht das altgriechische »oikonomie« für eine gute Hausführung; und noch bis ins 19. Jahrhundert hinein war der »Ökonom« der Vertreter des Gutsherrn, der das Anwesen umsichtig und erfolgreich zu führen hatte. Erst dann übertrug sich dieser Begriff allmählich vom einzelnen Betrieb auf die Wirtschaft eines ganzen Staates, auf die Nationalökonomie. Als Maßstab für deren Leistungsfähigkeit zählt dabei die Menge der von den Unternehmen geschaffenen Güter und Leistungen (zum Beispiel das BIP = Bruttoinlandsprodukt). Diese werden dann entweder von den privaten oder öffentlichen Haushalten konsumiert oder dienen den Unternehmen zur Ausweitung und/oder Verbesserung ihrer Kapazitäten (Investitionen).
Kennzeichnend für die heutige Ökonomie ist die einheitliche Verfassung aller in ihr dominierenden Unternehmen wie AGs und GmbHs und deren Zielsetzung: Sie definieren sich als Gesellschaften von Eigentümern, die mittels eigener (Geld-)Mittel und Kredite, dem Kapital, in Sachvermögen investieren und erwarten, dass ihr Reinvermögen, das sogenannte Eigenkapital, einen Zuwachs (Gewinn) erfährt. Damit das eintritt, müssen augenscheinlich die Erträge höher als die Aufwendungen sein, andernfalls würde das Reinvermögen sinken. In früheren Zeiten gab es selbstverständlich auch schon ein Reichtumsstreben, wovon schon die griechische Sage des Königs Midas erzählt, dem alles, dummerweise auch sein Essen, zu Gold wurde, doch bezog es sich wie selbstverständlich auf das eigene Besitztum, sei es Handel, Gewerbe oder ein Landgut. Die moderne Ökonomie hingegen löst sich vom einzelnen Unternehmen ab; es ist nur noch ein Mittel zum Zweck der Kapitalmehrung und wird beliebig fallen gelassen, wenn anderwärts höhere Renditen erzielt werden können. Den modernen Kapitalisten geht es nämlich nicht um den dauerhaften Bestand eines Unternehmens, in das man gerade mehr oder weniger zufällig investiert hat; dieses ist für ihn vielmehr nur ein austauschbares Investitionsobjekt neben vielen.2
Marx prägte für diese kapitalorientierte Ausprägung daher den lange Zeit verpönten Begriff des Kapitalismus. Der romanische Begriff der »Anonymen Sozietät« (vgl. die Abkürzung S.A. für »Société Anonyme« beziehungsweise »Sociedad Anónima«) für Kapitalgesellschaften macht es deutlich: Die Eigentümer werden als persönlich irrelevante Kapitalgeber gesehen, die vorrangig am Gewinn interessiert sind, nicht notwendig am Unternehmen selbst, seinen Mitarbeitern und seinen Erzeugnissen. Bestes Beispiel sind private oder institutionelle Anleger wie Lebensversicherungen, die Aktienfonds erwerben, in denen alle DAX-Unternehmen vertreten sind, also Mercedes genauso wie sein Konkurrent BMW oder der Pharmakonzern Bayer. Und wenn der Fonds nicht ihren Renditeerwartungen entspricht, transferieren sie ihr Kapital um, zum Beispiel auf einen weltweiten Fonds von Goldproduzenten.
Die dieser Ökonomie inhärente Kapitalmehrung führt zwangsläufig zur Suche nach immer mehr und immer neuen Anlagemöglichkeiten. Da vorhandene Produktionen mangels realer Restriktionen wie Absatz, Rohstoffe, Personal oder Fläche nicht beliebig erweitert werden können, bedarf es neuer »Felder«. Diese schafft sich die Ökonomie durch Entwicklung völlig neuer Märkte, wie höchst erfolgreich mit den neuen Medien praktiziert, oder sie kauft bis dahin kapitalfreie »Brachen« wie kommunale Stadtwerke, historische Stadionnamen oder das Rentensystem auf, um hieraus sichere Rendite zu beziehen. Die »neue Landnahme« nennt dies der Soziologe Klaus Dörre.3
Die Maximierung der Rendite verlangt eine maximale Auswahl von Kapitalanlagemöglichkeiten; daraus entstand der Druck, das Kapital weltweit und ohne Beschränkung fließen zu lassen. Umgekehrt geraten hiermit nicht nur die einzelnen Unternehmen unter den beschriebenen Renditedruck, sondern ganze Volkswirtschaften in einen Standortwettbewerb: Nur wer den Unternehmen das beste Umfeld zur Erzielung von Spitzenrenditen bietet, erhält vom Kapital einen Zuschlag in Form von Investitionen. Erhofft werden hiervon insbesondere Arbeitsplätze und die Ansiedlung weiterer Unternehmen wie Zulieferer, in Schwellenländern auch ein Know-how-Transfer. Als Gegenleistung winken geringe Steuern, niedrige Löhne, laxe Umwelt- und Sozialstandards, aber auch – wie in Deutschland – hervorragende äußere Bedingungen an Bildung, Sicherheit und Infrastruktur.
Handel und Wandel gab es schon immer in den jeweils bekannten Welten. Doch erst diese permanente, unbeschränkte und globale Interaktion zwischen Unternehmen, Kapitaleignern und Staaten ist es, die der Ökonomie ihre historisch einmalige Dynamik verleiht. Ermöglicht wurde sie durch die Expansion der Verkehrsmittel und die dank der Container ermöglichte Beschleunigung der Warentransporte, auf eine vorläufige (?) Spitze getrieben durch den simultanen Informationsfluss.
Dieser katapultierte auch in ungeahntem Umfang nach oben, was vor der Globalisierung nur in Ansätzen, zum Beispiel in Form von Forderungsaufkäufen oder Devisentermingeschäften, praktiziert wurde: den Finanzkapitalismus, die weitgehende Abkopplung des Kapitals von der Realwirtschaft. So wie in der klassischen kapitalistischen Ökonomie die Unternehmen als Mittel zur Kapitalmehrung genutzt werden, ist es nun das Kapital selbst, aus dem heraus selbständige virtuelle »Produkte« wie Wetten auf Aktien- oder Wechselkurse gebildet werden und mit denen man ohne reale Wertschöpfung handeln und gewinnen (aber auch schnell verlieren) kann. Da an keine materiellen und regulatorischen Engpässe gebunden, konnte sich diese jüngste und – wie viele Wissenschaftler meinen4 – reinste Form der kapitalistischen Marktwirtschaft innerhalb kürzester Zeit zu Billionensummen aufblähen, die heute als unkontrollierbare Finanzkrise Staaten und Wirtschaft in den Abgrund zu ziehen droht.
Was erwarten wir vom Wirtschaften?
Verbleibt die Ökonomie für uns ein diffuses System der Reichtumsmehrung, verbinden wir mit der Wirtschaft lebensnahe, praktische Vorstellungen. Bezeichnenderweise gibt es kein Verb zur Ökonomie, wohl aber zur Wirtschaft. Man kann wirtschaften, jedoch nicht ökonomen. Das Wirtschaften ist ein ureigen menschliches Tun mit Dingen und anderen Menschen. Als zwischenmenschlicher Prozess zur Existenzsicherung und Lebensentfaltung erhebt sich das Wirtschaften weit über die klassische Definition der Wirtschaftswissenschaft hinaus, die hierunter bloß den Inbegriff aller Einrichtungen zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse versteht. Diese Aufgabe könnten zur Not nämlich auch Lastenabwürfe von Flugzeugen oder vom Himmel herabgesandtes Manna erfüllen. Erst in der Verschmelzung mit dem sinn- und zweckreichen Umgang der Menschen miteinander und mit den Dingen wird aus der puren Bedarfsdeckung das Wirtschaften. Sehr lebendig umreißt ein Grundsatzpapier der Lausitzer Regionalwährung das Wesen des Wirtschaftens:
»Wir haben uns mit dem Grund des Wirtschaftens zu beschäftigen. Die Frage lautet: Warum wirtschaften wir überhaupt?
Wirtschaften wir, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln? Wirtschaften wir, um auf dem Weltmarkt zu bestehen? Oder wirtschaften wir, um die Aktienkurse steigen zu lassen? Für manche Menschen mögen die genannten Gründe ihr persönlicher Sinn des Wirtschaftens sein, für die Vielzahl der Menschen ist die Wirtschaft jedoch der gesellschaftliche Raum, in dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Menschen wirtschaften, weil sie Bedürfnisse haben, die sie (sich) erfüllen wollen. Essen, Wohnen, Bildung, Kultur, Vergnügen und Reisen – dies und vieles mehr ist nicht einfach so vorhanden und nutzbar. Diese Güter und Leistungen sind für uns nur nutzbar, weil andere Menschen sie für uns ermöglichen: indem sie wirtschaften. Weil wir wirtschaften!
Wir wirtschaften also aus Notwendigkeit, denn ohne Wirtschaft gibt es keine Versorgung. All die Produkte und Annehmlichkeiten des (modernen) Lebens wären ohne unser Wirtschaften nicht vorhanden und nicht nutzbar.
Darüber hinaus ist es ein menschlicher Wunsch, kreativ und produktiv tätig zu sein. Die Befriedigung durch erfolgreiche Ergebnisse im Arbeitsprozess sind für die meisten Menschen genauso wichtig wie die Zusammenarbeit mit anderen Menschen. ›Wirtschaften‹ ist der Sammelbegriff für diese Tätigkeiten.
Wir wirtschaften also aus zwei Gründen:
1.aus Notwendigkeit, denn ohne Wirtschaft keine Versorgung,
2.aus dem menschlichen Wunsch, kreativ und produktiv tätig zu sein und dem eigenen Leben einen Sinn zu geben.«5
Kurz und prägnant drückte es der ehemalige Bundespräsident und vormalige Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) Horst Köhler in seiner Weihnachtsansprache 2006 aus: »Arbeit … vermittelt Lebenssinn.« Offensichtlich waren ihm die leidvollen Erfahrungen zu Herzen gegangen, die die Bevölkerung Argentiniens und vieler Entwicklungsländer, denen der IWF harte Sparmaßnahmen mit der Folge starker Arbeitslosigkeit aufzwang, durchmachen musste.
Tief in uns eingeprägt hat sich diese Vorstellung von Wirtschaften in ihren Urformen, wie wir sie auch heute noch anfinden können, so in der familiären Land- und Hauswirtschaft, im Handwerksbetrieb oder im Kloster; grundsätzlich also dort, wo Menschen gemeinsam und geschickt, d.h. in sinnvoller Arbeitsteilung, für ein materielles Wohl und die Sicherung ihrer Zukunft agieren. Dass sie dabei auch sich selbst verwirklichen wollen, spiegelt sich in der eingangs erwähnten Sage von den Sieben Faulen wider: Sie wirkten zur Verbesserung ihres Lebensstandards, und der Ertrag aus ihren Maßnahmen überstieg sicher die Mühen, wodurch sie vermutlich auch reicher wurden. Bei wiederholtem Lesen wird man freilich über den Brunnenbau stolpern – dieser kann sich für sie kaum noch »gerechnet« haben – und auf ein weiteres Moment des Wirtschaftens stoßen: Die Brüder freuten sich einfach am Erfinden, Tüfteln und Entdecken und wären unglücklich geworden, hätten sie nicht mit der mittelalterlichen Infrastruktur ein so dankbares Betätigungsfeld gefunden.
Doch ein reines Paradies unerschöpflicher Quellen war das Wirtschaften nie; Knappheit und sparsamer Umgang mit den Ressourcen gehörten stets dazu. So hat es auch in der heutigen Geldwirtschaft einem ehernen Gesetz zu gehorchen: Auf Dauer dürfen die Ausgaben nicht höher als die Einnahmen sein. Und selbstverständlich wird jeder Betrieb und jeder Inhaber kaum etwas gegen Überschüsse einwenden, können diese doch für Modernisierungen, Erweiterungen oder höheres privates Einkommen verwendet werden.
Symbiose oder Koexistenz?
Verglichen mit der klassisch-formalen Sicht von Wirtschaft als Bedarfsdeckung, erst recht mit der Vorstellung eines vielfältigen und lebensintensiven »Wirtschaftens«, stellt sich die moderne kapitalistische Ökonomie als ein System dar, das einem einzigen und eindimensionalen Ziel unterworfen ist: dem der Kapital- beziehungsweise Vermögensmehrung. Dieses Prinzip der »Gewinnmaximierung« wird in den betriebswirtschaftlichen Lehrbüchern als bare Selbstverständlichkeit postuliert und ist darüber hinaus gemeinhin akzeptiert. Dennoch werden im allgemeinen Sprachgebrauch »Wirtschaft« und »Ökonomie« meist synonym verwendet, soweit mit der Ökonomie nicht ihre zweite Bedeutung als Lehre der Wirtschaftswissenschaften gemeint ist.
Seit Jahren etwa beklagen die Gegner eines höheren Spitzensteuersatzes, er schade »der Wirtschaft«, wiewohl er zunächst nur die Vermögensmehrung bremsen und die Verwendung der zusätzlichen Steuern etwa für den Netzausbau die Wirtschaft im doppelten Sinne unter Strom setzen würde, was von der tatsächlich stark praktizierten Anlage der Gewinne in Steuerparadiesen nicht behauptet werden kann. Können sich also die Ziele von Wirtschaft und Ökonomie kaum decken, geht es bei ersterer doch um vielfältige und dynamische Aufgaben und bei zweiter um eine statische Größe?
Es war Adam Smith, der den Zusammenhang zwischen beiden als Erster formulierte: Indem der Einzelne mittels wirtschaftlicher Tätigkeit seinen privaten Reichtum mehrt, befördert er gleichzeitig die Wohlfahrt des Gemeinwesens. Dieses war sicher schon den frühen Handels- und Gewerbevölkern selbstverständlich und auch Thema des griechischen Philosophen Platon, der allerdings den erarbeiteten Gewinn des Produzenten und den leistungslosen Gewinn des Händlers moralisch deutlich schied (wobei wir dem Händler durchaus seine Mittler-, Lager- und Verteilungsarbeit gerne honorieren wollen). Doch Smith zielte auf weitere, seinerzeit durchaus nicht selbstverständliche Faktoren, die nicht nur den privaten, sondern auch den gesellschaftlichen Reichtum voranbringen, nämlich 1. die Arbeitsteilung auf einem 2. freien Markt.
Ist also die eingangs erfolgte Unterscheidung zwischen Ökonomie und Wirtschaft nur künstlich überhöht, gehören beide nicht zusammen wie die zwei Seiten einer Münze? Sind es nicht triviale Erkenntnisse und Erfahrungen, dass der Nutzen der Käufer, ihren Bedarf an Gütern gedeckt zu bekommen, mit dem Vorteil der Verkäufer, die in arbeitsteiliger Wirtschaft diese Güter hergestellt und mit Gewinn verkauft haben, zusammenfallen kann? Und ist der Unterschied zwischen der Gewinnmaximierung der Ökonomie und der Kostendeckung des Wirtschaftens nicht ein nur gradueller?
Wir kennen die offensichtliche Erfolgsgeschichte der sozialen, aber eben auch kapitalistischen Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, die im »freien Spiel der Kräfte« das Wirtschaften mobilisierte. Dass hierbei einzelne Unternehmer und Unternehmen reich und reicher als die Arbeitnehmer wurden, störte Letztere nicht ernsthaft, nahmen doch auch für sie Wohlstand und persönliches Vermögen in bislang ungekanntem Ausmaß zu. Fraglich ist allerdings, ob es wirklich nur das Reichtumsstreben war, das die Unternehmer und Manager antrieb, oder nicht ebenso die eingangs kolorierte Freude am Schaffen, Tüfteln und Organisieren, also genau das »Wirtschaften«. Denn das war auch das Belebende an der sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit: die Aufbruchsstimmung, verbunden mit einer seit der Gründerzeit der 1870er Jahren nicht mehr gekannten Gewerbefreiheit und einem Neustart der Märkte, die den Unternehmern ungekannte Entfaltungsmöglichkeiten bot.
Schauen wir uns dagegen die mächtigen Kapitalgesellschaften an, deren Anteilseigner tatsächlich vorrangig oder gar einzig am Gewinn interessiert sind und die das heutige Bild der Ökonomie bestimmen. Diese geben den einzelnen Geschäftsbereichen jährliche Renditeziele vor, die dann häufig bis auf Abteilungsebene heruntergebrochen werden. Als »Wertbeitrag« gilt dort nicht der schlichte Überschuss der Erlöse über die Kosten, sondern nur, was über die (hohen) Anforderungen der Aktionäre hinausgeht. So schloss oder verkaufte die Arzneimittelfirma Schering vor einigen Jahren die Hälfte seiner deutschen Betriebsstätten nicht etwa deshalb, weil sie Verluste bereitet hätten, sondern weil sie die Vorgabe von 18 Prozent pro anno nicht erreichten. Dermaßen auf hochrentable Betriebsstätten zurückgeschnitten, wurd...