TEIL I
Die Gründe der Ernährungskrise
1Der Hunger, die Mangelernährung und die Bauern
Über eine Milliarde Menschen haben nicht genug zu essen.1 Somit hungert jeder siebte Mensch und 14 Prozent der Weltbevölkerung. 2 Milliarden sind von Nährstoffdefiziten betroffen. 1,4 Milliarden Erwachsene sind übergewichtig, 500 Millionen von ihnen sind fettleibig.2 Diese Zahlen zeigen, dass wir es mit einem Welternährungssystem zu tun haben, welches den grundliegenden Ansprüchen der Menschheit keineswegs gerecht wird. Im Jahr 2000 einigten sich auf einem UN-Gipfel in New York die Staats- und Regierungschefs aus 189 Nationen auf acht Internationale Jahrtausendentwicklungsziele (Millennium Development Goals – MDGs). Ziel Nummer eins war es dabei, den Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung zwischen 1990 und 2015 um die Hälfte zu reduzieren. Dieses Ziel wird nicht erreicht. Laut Zahlen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN (Food and Agriculture Organization – FAO) litten 1990 1 015 Millionen Menschen an Unterernährung. Insgesamt ist die Zahl der Hungernden im wesentlichen unverändert geblieben. Doch da seither die Weltbevölkerung um 2 Milliarden angestiegen ist, ist der Anteil dieser Bevölkerung, der unter Hunger leidet, etwas zurückgegangen.3
Man kann natürlich nach der Ethik einer Entwicklungsstrategie fragen, die von Anfang an die Hälfte der unter Hunger und Armut Leidenden dazu verurteilt, auch nach 2015 in diesem unwürdigen Zustand verharren zu müssen.
Jahrtausendentwicklungsziel eins:
»Wir beschließen, bis zum Jahr 2015 den Anteil der Weltbevölkerung, dessen Einkommen weniger als ein US-Dollar beträgt und der unter Hunger leidet, im Verhältnis zum Jahr 1990 um die Hälfte zu verringern.«
Bereits im Jahr 1974 wurde auf dem von der FAO ausgerichteten ersten Welternährungsgipfel das politische Ziel ausgegeben, dass »in zehn Jahren kein Mann, keine Frau und kein Kind mehr hungrig zu Bett gehen wird«.4
Im September 2015 wird am Sitz der UN in New York erneut ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs stattfinden, um über eine neue nachhaltige Entwicklungsstrategie und die Zielsetzungen für die Zeit nach 2015 zu beraten. Am Ziel der Beseitigung des Hungers wird aller Voraussicht nach festgehalten werden. Entscheidend wird allerdings auch die Einführung einheitlicher Berechnungsmethoden und effektiver Kontrollmechanismen sein.
Wie hoch ist die Zahl der Hungernden?
Die Zahl der Hungernden, 842 Millionen, die die FAO für den Zeitraum zwischen 2011 und 2013 angibt, ist umstritten. Die FAO hat 2012 eine neue Berechnungsmethode eingeführt und die Zahl der Hungernden für 1990 nach oben und die der letzten Jahre nach unten revidiert (siehe Schaubild 1).
Der tägliche Energiebedarf eines Menschen gilt als wichtigste Grundlage zur Berechnung der Zahl der Hungernden. Die FAO legt für ihre Berechnung einen »bewegungsarmen Lebensstil« zugrunde, wie er bei Büroarbeit üblich ist. Dessen Kalorienbedarf gibt die FAO im globalen Schnitt mit 1 840 Kilokalorien pro Tag an. Experten halten aber einen »normalen Lebensstil« als sinnvollere Grundlage, hier wäre das Minimum 2 020 Kilokalorien und ließe die Zahl von 842 Millionen auf 1 297 Millionen hochschnellen.5
Diese Einschätzung wird auch von einer Gruppe von 24 amerikanischen und kanadischen Wissenschaftlern und Organisationsvertretern geteilt.6 Laut ihren Berechnungen für das Jahr 2012 liegt die tatsächliche Zahl der Hungernden in der Spanne zwischen 868 Millionen und 1 330 Millionen Menschen.
Wenn die FAO globale Fortschritte bei der Hungerbekämpfung feststellt, so vergisst sie zudem hinzuzufügen, wie ungleich und regional begrenzt diese Fortschritte sind. Nur zwei Länder, China (~ 96 Millionen) und Vietnam (~ 24 Millionen), sind für über 90 Prozent der Verringerung der Hungernden seit 1992 verantwortlich. Zugleich ist die Zahl bei den 45 »am wenigsten entwickelten Ländern« um ganze 59 Millionen, also um umgerechnet 30 Prozent gestiegen.7
Auch für Olivier De Schutter, bis 2014 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, beruhen die Statistiken der FAO auf klaren Fehlberechnungen. Neben dem erhöhten Kalorienbedarf der Landbevölkerung trägt die FAO-Berechnungsweise weder dem saisonalen Hunger Rechnung, der zwischen zwei Ernten eintritt, noch der Tatsache, dass Frauen und Mädchen in Krisenzeiten weniger Zugang zu Nahrung haben. Für De Schutter liegt die tatsächliche Zahl der Notleidenden daher zwischen einer Milliarde und 1,2 Milliarden Menschen.8
Jeden Tag sterben 25 000 Menschen, darunter 18 000 Kinder, an Hunger oder seinen Folgen.9
»Der Hunger, oder besser noch die Mangelernährung, bleibt in seiner ganzen empörenden Banalität die wichtigste Todesursache auf unserem Planeten. Von den etwa 60 Millionen Menschen, die jedes Jahr den Tod finden, stirbt über die Hälfte an Hunger oder an Krankheiten, die durch Ernährungsmängel hervorgerufen werden. Der Kampf gegen den Hunger ist also heutzutage von entscheidender Bedeutung.«10
Für Jean Ziegler, der 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung war, ist das Massaker an Millionen Menschen durch Unterernährung und Hunger »der größte Skandal zu Beginn des dritten Jahrtausends. Eine Absurdität und Schande, die durch keinen vernünftigen Grund gerechtfertigt und von keiner Politik legitimiert werden kann. Es handelt sich um ein immer wieder von neuem begangenes Verbrechen gegen die Menschheit.«11
Schaubild 1: Globale Hungerstatistik: biegsame Kurven, flexible Ziele.
In jedem Jahr werden in den Ländern des Südens fast 20 Millionen untergewichtige Kinder geboren. 7,6 Millionen von ihnen sterben, bevor sie das Alter von fünf Jahren erreicht haben.12 Die anderen leiden unter körperlichen und geistigen Entwicklungsstörungen. Sie laufen ein weit größeres Risiko, im Erwachsenenalter an einer chronischen Krankheit zu leiden.13
Außerdem haben die Unterernährten und Armen oft keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung, zu Bildungseinrichtungen und zu sauberem Trinkwasser. Millionen Frauen und Kinder gehen täglich lange, oft gefährliche Wege, um Wasser nach Hause zu schleppen. Aus diesem Grund herrscht auch ein enger Zusammenhang zwischen den einzelnen Jahrtausendentwicklungszielen. Dies gilt vor allem für das erste Teilziel: »Zugang zu sauberem Trinkwasser« und die mit der Gesundheitsversorgung verbundenen Zielmarken wie das Teilziel vier: »Senkung der Kindersterblichkeit« sowie für die Teilziele fünf und sechs: »Senkung der Müttersterblichkeitsrate« und »Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen Krankheiten«.
Die Geographie des Hungers
Dem FAO-Bericht zufolge lebt die Mehrheit der unterernährten Menschen immer noch in Südasien, gefolgt vom subsaharischen Afrika und Ostasien (siehe Schaubild 2).14
In Afrika ist der Hunger besonders verbreitet. Jeder vierte Mensch ist dort unterernährt. Vor allem der Subkontinent Subsahara-Afrika ist betroffen. Laut FAO gab es dort in den Jahren 1990 bis 1992 173 Millionen und in den Jahren 2011 bis 2013 223 Millionen unterernährte Menschen. Immerhin ging deren Anteil an der Bevölkerung, bedingt durch das starke Bevölkerungswachstum, von 27,3 auf 22,7 Prozent zurück. Am Hunger in der Region leiden insbesondere Kleinbauern und Hirten mit ihren Familien, die auf oft schlechten Böden in trockenen Gegenden um ihre Existenz und ein minimales Einkommen kämpfen.
In Asien, dem bevölkerungsreichsten Kontinent, ging die Zahl der Menschen, die an Hunger leidet, am stärksten zurück – von 743 Millionen auf 533 Millionen. Dennoch leben hier zwei Drittel aller Unterernährten der Welt. Die größten Fortschritte sind in Südostasien zu verzeichnen – von 31,1 auf 10,7 Prozent – gefolgt von Ostasien, wo besonders in China eine bemerkenswerte Entwicklung stattfand. In Südasien und besonders in Indien hingegen ist die Zahl der Unterernährten nur geringfügig zurückgegangen, von 314 Millionen auf 295 Millionen. Ein Drittel der Bevölkerung leidet hier an Hunger. Keine Fortschritte sind in Vorderasien und Nordafrika zu verzeichnen.
Schaubild 2: Die Geographie des Hungers im Wandel der Zeit
In Lateinamerika und der Karibik, ging die Zahl der Hungernden von 66 Millionen auf 47 Millionen zurück (von 14,7 auf 8,7 Prozent). Überdurchschnittlich betroffen sind auch hier die Millionen von weitgehend rechtlosen Kleinbauern, Landlosen und indigene Gemeinschaften.15
Die Geographie des Hungers entspricht weitgehend der Landkarte der Armut. Gegenwärtig müssen weltweit etwa 1,2 Milliarden Menschen, 28 Prozent der Bevölkerung der Entwicklungsländer, von weniger als 1,25 US-Dollar am Tag leben. Das wären 700 Millionen weniger als noch im Jahr 1990, behauptet das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen.16 In Subsahara-Afrika leiden 48 Prozent (1990 noch 56 Prozent) und in Südasien 30 Prozent der Bevölkerung an extremer Armut (1990 noch 51 Prozent). Diese Menschen geben bis zu 85 Prozent ihrer Einkünfte für Nahrungsmittel aus – bei einem durchschnittlichen Haushalt in den Industrieländern sind es gerade einmal 15 bis 20 Prozent des Einkommens.17
Hunger, Mangelernährung und Hungersnöte
»Hunger und Unterernährung können in einer Gesellschaft verschiedene Formen annehmen. Die häufigsten Ausprägungen sind jedoch die Fehlernährung und die Hungersnot. Letztere stellt die heftigste und extremste Form des Nahrungsmangels dar. Die Fehlernährung ist eine quantitative oder qualitative Unausgewogenheit der Nahrungsaufnahme und schließt somit nicht nur die Unterernährung, sondern auch die Überernährung mit ein, die in einem Teil der Bevölkerung zur Fettleibigkeit führt.«18
Als eine Ausprägung der Mangelernährung lässt sich die Magerkeit oder Auszehrung definieren, die eine Person auszeichnet, deren Gewicht im Verhältnis zu ihrer Größe zu gering ist.19
»Die Mangelernährung ist eine Folge der Armut: Der Mangelernährte verfügt nicht über das Geld, um sich die nötige und geeignete Nahrung zu verschaffen, selbst wenn diese eigentlich in seiner unmittelbaren Umgebung zur Verfügung stehen würde. Die chronische Mangelernährung ist also ein Verteilungs- und kein Verfügbarkeitsproblem.«20
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist der Meinung, dass ein Mensch pro Tag durchschnittlich 2 100 bis 2 200 Kilokalorien benötigt, damit er ein gesundes Leben führen kann. Das absolute Lebensminimum, der sogenannte Grundumsatz21 oder Basalstoffwechsel, wird auf 1 200 bis 1 300 Kilokalorien geschätzt. In den westlichen Ländern wird die »normale« Kalorienzufuhr auf 2 400 für einen Erwachsenen, 2 900 für einen Jugendlichen und 1 830 für ein siebenjähriges Kind geschätzt. Sie kann in Afrika bis auf einen Durchschnittssatz von 1 700 Kilokalorien absinken. Die Unterernährung definiert sich als eine Nahrungsaufnahme, die dem Organismus nicht genug Kalorien zuführt, um dessen gewöhnlichen physiologischen Bedarf zu decken. Dieser »chronische Hunger« ist das tägliche Los von 92 Prozent der Unterernährten, die die FAO heute weltweit zählt. Die restlichen acht Prozent leiden im Rahmen einer Hungersnot unter »akutem Hunger«.22
Man spricht von Unterernährung, wenn die Kalorienzufuhr niedriger als die Mindestenergiezufuhr (Minimum Dietary Energy Requirement = MDER) ist.23
Die Hungersnot ist dagegen »ein absoluter Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung der gesamten Bevölkerung, der beim einzelnen nach kurzer Zeit zum Tode führt, wenn man den Nahrungsentzug nicht auf geeignete Weise beendet«.24
»Sämtliche Hungersnöte des 20. Jahrhunderts ereigneten sich unter ganz bestimmten Umständen, bei denen der Eingriff des Menschen entscheidend war. Die modernen Hungersnöte sind somit eine Folge der Geopolitik. Ihre Auswirkungen sind spektakulär: Die Hungersnöte führen zu einer starken Abmagerung – die Mediziner sprechen von ›Auszehrung‹ – der vom Hunger betroffenen Risikogruppen, vor allem der Kinder. Die Hungersnot ist deswegen eine deutlich sichtbare Erscheinung, während die Mangelernährung einen schleichenden Prozess auslöst. Während Letztere in einer unterentwickelten Gesellschaft meist einen weit verbreiteten Dauerzustand darstellt, ist die akute Hungersnot immer in Raum und Zeit genau lokalisierbar. Es gibt keinen Ort, wo andauernd an Hunger gestorben wird. Es handelt sich dabei um ein kollektives Phänomen.«25
Größere Hungersnöte ereigneten sich in den letzten Jahrzehnten 1968–1970 in Nigeria (Biafra-Krieg), 1985–1987 in der Sahelzone, 1991 im Nordirak (Krieg gegen die Kurden), 1992 in Somalia, 1996 in der Demokratischen Republik Kongo (Angriffe gegen die Flüchtlinge aus Ruanda im Osten des Landes), 1996–1998 in Nordkorea und 2000 in Äthiopien. Die Hungersnot in Darfur im Westen des Sudan stand in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts im Mittelpunkt des Interesses der UN, 2011 diejenige am Horn von Afrika.26
Zwei Milliarden leiden an Mikronährstoffmangel
Hunger und Unterernährung sind jedoch nicht nur eine Frage der Menge an Nahrungsmitteln, die ein Mensch täglich zu sich nimmt und in Kalorien umsetzt. Sie sind auch und gerade eine Frage der Qualität der aufgenommenen Nährstoffe.27
Laut FAO und WHO leiden mehr als zwei Milliarden Menschen an Mikronährstoffmangel, der durch einen Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen in der täglichen Nahrung verursacht wird. Die Bedeutung dieser Mangelerscheinungen für die öffentliche Gesundheit liegt an ihrer weiten Verbreitung und ihren gesundheitlichen Folgen. Dies gilt vor allem für schwangere Frauen und Kleinkinder, da Mikronährstoffmangel das Fötus- und Kinderwachstum, die kognitive Entwicklung und die Widerstandsfähigkeit gegen Infektionen ungünstig beeinflusst. Am akutesten und verbreitetsten sind diese Probleme normalerweise bei den Armen, denjenigen, die unter einer unsicheren Ernährung leiden, und bei den verwundbarsten Schichten in den Entwicklungsländern.28