Die Legende der Luna Levi
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Die Legende der Luna Levi

  1. 424 Seiten
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Über dieses Buch

1492: In Spanien wütet die Inquisition. Jahrhundertelang lebten die Juden mit den Katholiken in Frieden zusammen, doch nun müssen sie aufgrund eines königlichen Edikts binnen Wochen das Land verlassen. Mit wenigen Habseligkeiten treten sie ihre Flucht in das Osmanische Reich an. Inmitten der Verzweiflung keimt eine grenzenlose Liebe – ausgerechnet zwischen einer Jüdin und einem Inquisitor, der mit ihr die alte Heimat verlässt. Sie zeugen eine Tochter, die das weitere Schicksal der sephardischen Juden mit beeinflussen wird: Ihr Name ist Luna Levi.Gordana Kui? erzählt nicht nur eine zu Herzen gehende Liebesgeschichte, für die das Leben viele Abenteuer bereithält, sie lässt uns auch teilhaben an der reichen Kultur der sephardischen Juden. Es ist eine literarische Spurensuche – nach einer fast vergessenen Lebenswelt wie nach der eigenen Herkunft.Nach der mitreißenden Familiensaga "Der Duft des Regens auf dem Balkan" nun endlich auch der historische Roman der gefeierten serbischen Autorin in deutscher Übersetzung!

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783990122990
Thema
Drama
DAS ERWACHSENWERDEN/h1
ABER ANGELIQUIU MIU, querida de la madri, mein Engel, Mamas Liebling, ich habe dir doch schon oft von dieser romantischen, verbotenen Liebe erzählt!“, sagte Blanca geduldig, während sie in der Küche hantierte. Wie üblich gab sie der siebenjährigen Luna nach, die sich mit Schweigen nicht abspeisen ließ und immer neue Fragen stellte.
„Das stimmt, aber du hast sie noch nie ganz zu Ende erzählt, noch nie! Mama, sag mir bitte, wer wen geliebt und wie jeder von ihnen ausgesehen hat!“
„Der spanische König Alfonso war groß wie ein schlankes Minarett, hatte langes, blondes Haar, das wie reifes Korn aussah, und himmelblaue Augen, er trug eine Rüstung aus Silber, ritt auf einem weißen Pferd und war heimlich in die wunderschöne Tochter seines Beraters, des Juden Jehuda ben Ezra, verliebt …“
„Und sie, Mamita? Wie sah sie aus?“
„So wie du.“
Hermosa, schön?“
„Wunderschön. Sie hatte schwarze glühende Augen wie zwei Kohlestücke, ihr üppiges Haar erinnerte an die Mähne eines wilden Rappen, ihre Lippen glichen reifen Kirschen, ihre Haut leuchtete hell wie Perlmutt. Sie war überaus fein, hatte anmutige Bewegungen, war gut erzogen, brav, ja, Luna, brav und lieb. Aber sie vermochte es nicht, ihrem unglücklichen Schicksal zu entkommen. Zwar wusste sie, dass sie die Liebe des Königs nicht erwidern durfte, aber ihr Herz siegte über ihren Verstand, und sie zeigte ihm, was sie für ihn empfand.“
„Wie tat sie das?“
„Mit einem Blick durch die Wimpern ihrer halbgesenkten Augenlider, mit einem verstohlenen Lächeln, mit dem Winken einer Locke, mit dem Erzittern der Lippen, mit einem Zucken in den Fingern, mit einem Seufzer …“
„Und auch mit Worten?“
„Wenn man wirklich liebt, braucht man keine Worte.“
„Aber wie soll man etwas erfahren, wenn es einem nicht gesagt wird oder wenn man es nirgendwo lesen kann?“
„Das erkennt man, weil der ganze Mensch eine besondere Sprache spricht, die Verliebte am besten verstehen. Leider musste ihre Liebe erlöschen, bevor sie richtig entflammt war, denn der Glaube trennte sie voneinander.“
„Und blieben die beiden für immer unglücklich?“
„Nein, aber sie wurden um eines der kostbarsten Gefühle gebracht, die Gott den Menschen schenkt.“
„Wieso waren sie dann nicht unglücklich?“
„Meine liebste Tochter, das Leben besteht aus vielen kleinen Glücksmomenten, die sich jeden Tag ereignen. Das große Glück gibt es oder gibt es nicht, aber wenn es das nicht gibt, heißt das nicht, dass man die kleinen Glücksmomente nicht genießen kann.“
In diesem Augenblick stürmte der immer strahlende David herein, ein pummeliger Junge mit rundem Gesicht und ebensolchen Augen.
„Bald kommt Papa zum Abendessen, er wird dir die Geschichte dann weitererzählen“, sagte Blanca zu Luna, hob David hoch und küsste seine rosigen Pausbacken.
„Nein, jetzt erzählst du“, entgegnete Luna verärgert, „Papa erzählt immer erst nach dem Gebet, wenn wir alle am Tisch sitzen! Mama, du bist zuständig für unsere Heimat Spanien, Papa für das Reich, in dem wir jetzt leben, und Nonu Moses für die Geschichte Israels, für unser Erez Israel, in dem sich am Ende alle toten und lebenden Juden versammeln werden!“
Luna versuchte jetzt mit allen Mitteln, sich bei ihrer Mutter einzuschmeicheln, sie tändelte um ihren langen Rock herum, spielte mit ihren Ketten und summte ihre Lieblingsromanze von den Sternen am Morgen, Las estrellas de la mañana. „Mama, mamita, t’arrogu, solu un pocu mas, nur noch ein bisschen.“
„Ach, chiquita mia, meine Kleine, wer kann dir widerstehen, du kleine Hexe, wenn du so fordernd und dabei auch noch süß bist … Welche Erzählungen magst du am liebsten, sag es deiner Mama?“
Luna dachte nach. „Ich kann mich nur schwer entscheiden. Was die Sprachen angeht, sind mir Spanisch, Türkisch und Hebräisch gleich lieb. Geht es um Bräuche und Festtage, gefallen mir die jüdischen am meisten. Handeln sie aber von der Schönheit des Landes und seiner Lieder, mag ich die spanischen, geht es um Dankbarkeit, die türkischen … Aber wenn es nach dem Herzen gehen soll, dann die über das Volk Israel!“
„Immer nach dem Herzen, Lunita, querida de la madri! Triff deine Entscheidungen immer nach dem Herzen, fijiquia mia linda y buena, mein schönes und gutes Mädchen.“
„Ich bin nicht zu allen gut, nur zu meiner liebsten Mama, zu Papa Moni, Nona Sarah, Nonu Mosche und zu meinem kleinen, dummen Bruder David …“
„Luna!“, ermahnte Blanca sie.
„… der mir natürlich das Liebste auf der Welt ist!“, fügte Luna sofort mit einem lausbübischen Lächeln hinzu. Dann schürzte sie ihre vollen Lippen, schüttelte ihren Lockenkopf, breitete ihr Kleidchen aus und setzte sich vor Blancas Knien auf einen Hocker.
„Weißt du, was ich am liebsten hätte?“, sagte sie geheimnisvoll. „Dass sich alle Erzählungen und alle Religionen vermischen, dann gäbe es keinen Hass mehr, keine Kriege und Vertreibungen. Ja, ich weiß, ich bin nicht dumm, ich weiß schon, dass das unmöglich ist“, Luna hielt inne, als überlege sie, was sie sagen sollte, und erklärte mit großem Ernst, „wegen … wegen … wegen der Reinheit des Blutes.“
„Das ist zwar unmöglich, aber merke dir, querida, die Religionen sind miteinander verflochten, das Blut mischt sich, ob wir das wollen oder nicht … Vergiss nie, dass Jesus und alle seine Jünger Juden waren und dass ein Araber namens Mohammed Mekka, die heilige Stadt des heidnischen Arabien, verlassen hat, um seinen neuen Glauben, genannt ‚der Frieden‘ oder ‚die Hingabe an Gott‘, nämlich den Islam, nicht als eine neue Religion, sondern als die letzte Verkündigung der vorangegangenen Religionen zu predigen. Abraham, Moses und Jesus beziehungsweise Ibrahim, Musa und Isa waren für ihn Propheten … Was deine Mama dir also in dein kluges Köpfchen eintrichtern will, ist, dass es im Grunde nur die Reinheit der Person gibt: die Redlichkeit, die Gerechtigkeit und insbesondere die Güte. Die vor allem schätzt deine Mutter … Dennoch sage ich dir dies im Vertrauen, liebste Tochter, und bitte dich, meine Worte vor niemandem zu wiederholen.“
„Das verspreche ich dir, und du weißt, dass ich mein Versprechen immer halte.“
„Das weiß ich, hija mia linda, meine schöne Tochter“, sagte Blanca, die sich schon oft von dieser Eigenschaft Lunas hatte überzeugen können und ihr deshalb Dinge anvertraute, die sonst für Kinderohren nicht geeignet waren.
Luna ist ihrem Wissen und ihrer Intelligenz nach schon längst kein Kind mehr, dachte Blanca, und dennoch wirkt sie oft so kindlich. Eine ganz ungewöhnliche Person!
„Wie soll mein neuer Bruder heißen?“, unterbrach Luna Blancas Gedankenfluss.
„Woher weißt du, dass es ein Bruder wird?“
„Weil ich eure einzige Tochter bleiben muss!“
„Hauptsache, das Kind ist gesund“, sagte Blanca mit einem Seufzer. „Wenn es ein Junge wird, haben Papa und ich beschlossen, ihn Aaron zu nennen.“
„Aaron ben Solomon ben Sálom aus Istanbul … Klingt gut!“
Blanca hob den Blick von dem Obst, das sie gerade kleinschnitt, und richtete ihn besorgt auf den Herd, auf dem die Gemüsesuppe einen angenehmen Duft verbreitete, sie machte den Backofen auf, in dem Auberginen mit Lauch brieten, dann erhob sie sich und legte eine Hand auf ihren schon dicken Bauch.
„Warum kochst du selbst? Papa hat dir schon hundertmal gesagt, du sollst eine Köchin nehmen?“, fragte Luna beinahe verärgert. Sie ertrug es nicht, dass die Aufmerksamkeit und die Zeit, die ihre Mutter sonst ihr gewidmet hätte, auf etwas anderes verschwendet wurden. Nur die Zeit, die Blanca Solomon und David schenkte, ließ sie gelten. Alles andere akzeptierte sie nicht und versuchte immer, ihre Mutter vom Nähen, Sticken, Stricken und von Besuchen bei anderen abzuhalten.
„Weil niemand so zu kochen versteht wie ich, denn nur ich kenne das Gewürz, das jedes Gericht ganz besonders schmecken lässt“, antwortete Blanca gelassen auf die Frage, die Luna ihr Tag für Tag stellte.
„Welches Gewürz, welches denn?“, mischte sich David neugierig ein.
„Die Liebe“, winkte Luna ab und fügte hinzu: „Diese Ausrede hast du bestimmt schon tausendmal gehört.“ Dann richtete sie sich auf und sagte trotzig: „Meine liebe Mama Blanca, deine Hände sind beschäftigt, aber nicht dein Mund. Deshalb bitte ich dich, die Geschichte weiterzuerzählen!“
Sie war wohl schon dermaßen an die ungewöhnliche Art ihrer Tochter gewöhnt, dachte Blanca, dass sie ihren unstillbaren Wissensdurst nicht mehr beachtete. Ihr Verschlingen von Büchern, ihr Bedürfnis, die Geschichte ihres Volkes, aber auch anderer Völker zu erfahren, entsprachen nicht ihrem Alter. Keiner konnte Luna dazu bringen, wie alle anderen Kinder in den duftenden Gärten und Höfen ihres Viertels zu spielen. Sie lehnte das immer rundweg ab und war nicht daran interessiert, wenigstens einmal in das fröhliche und gesunde Herumtollen ihrer Altersgenossen einzustimmen. Sie verstand alles und behielt es in Erinnerung! Aber wie viele neue Erkenntnisse verkraftete ein Kinderhirn, fragte sich Blanca. Könnte es passieren, dass sich bei dieser Fülle eines Tages, Gott bewahre, alles miteinander vermischte und sie in eine falsche Richtung lenkte? Ach, was für ein feinfühliges und hartnäckiges, launisches und verschmustes, kluges und verrücktes Kind ihre Luna doch war! Sie würde schön werden, aber nicht süß. Sie war zwar verschmust, aber nicht lieblich. Sie würde kein weiches und williges heiratsfähiges Mädchen werden, sondern eine gefährliche junge Löwin. Ihre ungewöhnliche, dunkle Schönheit würde sie zwar zur Schau stellen, aber nicht zu nützen wissen. Ihre mandelförmigen schwarzen Augen waren geheimnisvoll und wach, aber nicht lebhaft, oft blickten sie nachdenklich in die Ferne. Ihre hervorstehenden Wangen, stellte Blanca fest, waren blass, ihre Nase war gerade und schmal, ihre Nasenflügel, die bei Aufregung zitterten, zart und fast durchsichtig, darunter befand sich der einzige üppige Teil ihres Gesichts: die roten, wie von der geschickten Hand eines Bildhauers gemeißelten, feuchten und herausfordernden Lippen, die einen Schmollmund bildeten, auch wenn sie nicht schmollte, und mit denen nur die Fülle ihres glänzenden Haars voller kleiner Locken wetteifern konnte, die unbändig waren wie sie selbst … Sie würde feste Brüste wie ihre Mutter, lange Beine wie ihr Vater und seine langen, schmalen Finger haben. Luna nahm das alles nicht wahr und legte keinen Wert auf ihr Äußeres, wofür sie, Blanca, würde Sorge tragen müssen, wenn die Zeit zu heiraten käme. Sie sah schon jetzt, dass es schwierig sein würde, einen Bräutigam zu finden, der Luna recht sein würde! Oder dem Luna recht sein würde. Sie würde nicht leicht zu verheiraten sein. Ganz bestimmt würde sie von einer Heiratsvermittlung, dieser üblichen und herkömmlichen Art der Anbahnung von meist glücklichen Ehen nichts hören wollen. Nein, Luna wird das nicht wollen!
Blanca lächelte und zuckte mit den Achseln.
Na und? Sie hatte auch keinen Heiratsvermittler gebraucht, sie hatte das, was man Glück, Zufall, Vorsehung, Schicksal nennt. Aber die Rechtfertigung ihrer ungewöhnlichen Heiratserfahrung lag in den chaotischen Umständen jener Zeit. Alles lief bei ihr und Solomon in umgekehrter Reihenfolge: Zunächst verliebte er sich in sie und erst dann lernte er sie kennen; zunächst waren sie gemeinsam auf der Flucht, dann verliebte sie sich in ihn; zuerst schliefen sie miteinander und traten später unter den Baldachin. Im Gegensatz zu ihnen wuchs Luna in friedlichen Zeiten auf, im Schoß der Familie, in Sicherheit. Ihr drohte keine Vertreibung, und das war für Blanca der größte Trost.
Sie lächelte und stimmte ein Lied an.
Und jetzt erwarteten sie noch ein Kind. Bestimmt wieder einen Jungen … Schön! David würde jemanden zum Spielen haben, denn Luna schenkte ihm überhaupt keine Aufmerksamkeit. David ist ein gewöhnliches Kind … Völlig normal! Oh, Gott, du Allmächtiger, meinte sie etwa, ihre Tochter, ihr Liebling, sei nicht normal? Nein, das keinesfalls! Sie war nur außergewöhnlich begabt. „Ein männliches Hirn in einem weiblichen Kopf“, sagte Rabbi Mosche, und er hatte recht. Es würde sehr schwer sein, Lunas Liebe zu gewinnen … Wer würde der Glückliche oder der Unglückliche sein? Luna mochte zwar Berührungen und Küsse, zog ihnen aber Bücher und die Weisheit der Erwachsenen vor. Sie hatte schon eine feste Rangordnung ihrer Lieblingspersonen, die sich im Grunde danach richtete, von wem sie die meisten Informationen bekam. An erster Stelle stand Nonu Moses als unanfechtbare Autorität für die Fünf Bücher Mose und den Talmud, dann Papa Solomon mit ähnlich großem Wissen, aber mit weniger Zeit für sie, und erst an dritter Stelle stand sie, ihre Mutter, die die meiste Zeit mit ihr verbrachte. Danach kamen alle Übrigen: der Bruder David, Nona Sarah und die ganze große Familie Capsali.
Der einzige Junge, mit dem Luna bereit war, sich ein wenig, jedoch nur gelegentlich, zu unterhalten, war der zwölfjährige Leon Levi, der Sohn von Capsalis Tochter Rachel und Ariel Levi, einem erfolgreichen Kaufmann und Monis Mitarbeiter. Leon war ein Junge mit heller Haut, die so durchsichtig und milchig war, wie sie nur bei Rothaarigen anzutreffen ist. Ziemlich verschlossen, für sein Alter sehr intelligent, beredt wenn nötig, ansonsten schweigsam, sprach er mit gemäßigtem Ernst wie ein Erwachsener. Die meiste Zeit verbrachte er in der Talmud-Thora-Schule über den Heiligen Büchern und bereitete sich auf den Beruf des Rabbiners vor. Seine langen Schläfenlocken flatterten, wenn er manchmal selbstvergessen im Garten wie ein richtiges Kind spielte. Er war voller Respekt für die Erwachsenen, sprach seinen Vater mit „Señor padre“ in der dritten Person an und begrüßte ältere Männer und Frauen mit Handkuss. Ein ordentliches und gut erzogenes Kind, fand Blanca. Ihr wäre jedoch viel lieber gewesen, Luna hätte sich mit einem beschwingteren, schneidigeren Jungen angefreundet, der mit roten Backen umhertollte und seinen Körper statt seinen Geist anstrengte. Ein solcher würde sie vielleicht in diesem Sinne beeinflussen. Aber einen solchen Jungen würde Luna keines Blickes und keines Wortes würdigen.
Blanca bemerkte bei ihrer Tochter eine Gesichtsblässe und einen Glanz in den Augen wie bei Kindern, die viel Zeit im Haus verbringen und nicht von der Sonne, dem Wind und der Meeresluft liebkost werden. Sie sollte noch einmal über all das mit Moni reden, er fand für alles immer die beste Lösung. Gemeinsam würden sie Luna zwingen müssen, mehr Zeit an der frischen Luft zu verbringen, unbedingt …
„Mama!“, rief Luna und riss Blanca aus ihren Gedanken. „Du übertreibst mit deiner Sorge um mich.“
„Um dich?“, wunderte sich Blanca. „Wieso, wie kommst du darauf …?“
„Ach, Mamita! Um wen solltest du dich sorgen, wenn nicht um mich? Vielleicht um Papa Moni, aber nur vielleicht.“ Sie stand auf und begann zu tänzeln und dabei zu singen: „Vor Luna kannst du nichts verbergen, Luna weiß alles …“ Plötzlich hörte sie auf, setzte sich wieder und sagte traurig: „Nie werde ich alles wissen! Mama, warum kann der Mensch nie alles wissen?“
„Weil nur der Schöpfer alles weiß, mein Kind“, antwortete Blanca.
Luna nickte. „Oder weil die Entdeckungen der Menschen auf Erden jeden Tag mehr werden, und ein Mensch nie das alles lernen kann … Es ist eine Frage der Menge. Ich bin allein, und mir gegenüber steht die ganze Menschheit!“ Danach lief Luna zum Fenster und rief fröhlich aus: „Da kommt Nonu Capsali, mein Bester, mein Liebster!“ Sie eilte ihm entgegen, küsste seine Hand und führte ihn, ausgelassen hüpfend, zum Haus.
Bald saßen die beiden auf dem Sofa. Rabbi Moses begann wie gewöhnlich Geschichten zu erzählen, während Luna ihn begeistert ansah und vor Freude dahinschmelzend an seinen Lippen hing. Die Bilder seiner Erzählungen, voller verzwickter Ereignisse, liefen vor ihren Augen ab, als wäre sie dabei gewesen. Ihre sichtbare Glückseligkeit versetzte den alten Rabbiner jedes Mal in Verzückung, und er redete über die jüdische Geschichte, als sticke er an einer endlosen Borte aus unzähligen Personen, Ländern, Daten und Ereignissen.
Wie gewöhnlich servierte Blanca ihnen zur Erfrischung Saft aus frischgepressten Zitronen, aber Luna rührte ihr Glas nicht an, so verzaubert lauschte sie des Rabbis Geschichten.
Am meisten gefiel ihr, wenn er von dem Córdobaner erzählte, der bei den Arabern Abu Imran Musa ibn Maymun hieß, dessen hebräischer Name Moses ben Maimon und der Kosename Rambam lautete, und der bei den Christen unter dem lateinischen Namen Maimonides bekannt war. „Er war bei allen Völkern so berühmt, dass es seinen Namen in drei Formen gab“, gab Luna später stolz das Gehörte ihren Altersgenossinnen weiter. Sie saßen im Halbkreis um sie herum und lauschten atemlos ihren Erzählungen, die viel schöner und spannender als die ihrer Großmütter, Großväter und Eltern waren, da Luna sie auf ihre besondere Art ausschmückte und würzte.
Sie begann mit immer denselben Worten: „Estu es la vuestra scolica, yo vos vo cantar comu un paxarico las consejas mas hermosas. Aquella que no se va acordar de nada es una chica picadora. Das ist eure kleine Schule, und ich werde euch wie ein Vögelchen die schönsten Geschichten singen. Diejenige, die nichts davon behält, ist eine kleine Sünderin. Darum hört mir gut zu! Also, Rabbi Rambam war der berühmteste unter allen berühmten jüdischen Denkern und Lehrern während der Herrschaft der Araber in unserem goldenen Spanien …“
„Aber Spanien ist nicht mehr unser!“, meldete sich immer eines der Mädchen und unterbrach Luna. Das konnte sie nicht leiden, ertrug es aber mit stoischer Geduld, so wie Nonu Moses, wenn sie ihn unterbrach.
„Spanien ist unser und auch wieder nicht“, erwiderte sie ernst. „Es ist es nicht mehr, weil wir nicht mehr dort leben, aber es ist unser, denn welche Sprache sprechen wir, wenn nicht die spanische, welche Lieder singen wir, wenn nicht die spanischen, welche Kleidung tragen wir, wenn nicht die spanische?“ Da machte sie gewöhnlich eine Pause, und wenn das Mädchen zum Zeichen, dass es verstanden hatte, nickte, fuhr sie fort: „Er wurde vor dreihundertfünfzig Jahren in Córdoba geboren, einer von Orangenbäumen und Olivenhainen umsäumten Stadt, hinter deren Mauern aus Stein am lautesten der Gitarren Klänge, das Sausen des Winds und der Schlag der Nachtigallen erschallten. Als er so klein war wie ihr, musste seine Familie diese prächtige Stadt verlassen, weil vom Norden fanatische Katholiken und vom Süden wilde Barbaren sie bedrängten. Die Juden befanden sich zwischen Hammer und Amboss.“ Luna hob ihre Hand, um der Flut von Fragen Einhalt zu gebieten, und gab ihnen zuvorkommend die Antwort: „Die barbarischen Stämme hießen Almohaden …“
„Wie hießen sie?“, wollte die kleine Rifka wissen.
„Almohaden“, antwortete Luna und betonte: „Ihr müsst euch alle diese schwierigen Namen unbedingt merken, weil sie wichtig für die Erzählung sind, die ihr, wenn ihr groß seid, euren Töchtern weitergeben sollt, denn worin sonst besteht der Zweck des Erzählens? … Also, die Juden flüchteten damals nicht nur, weil sie die Vertreibung vorau...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titelei
  3. Impressum
  4. Motto/Widmung
  5. Prolog
  6. Die Vertreibung
  7. Die Reise
  8. Die Verfolgung – Der erste Schritt –
  9. Die Ankunft
  10. Die Verfolgung – Der zweite Schritt –
  11. Der Aufstieg
  12. Die Verfolgung – Der dritte Schritt –
  13. Das Erwachsenwerden
  14. Die Verfolgung – Der vierte Schritt –
  15. Die Hochzeit
  16. Die Verfolgung – Der fünfte Schritt –
  17. Die Begegnung
  18. Das Warten
  19. Die Verfolgung – Der sechste Schritt –
  20. Die Flucht
  21. Die zweite Verfolgung – Der erste Schritt –
  22. Die Flucht – Fortsetzung –
  23. Epilog
  24. Glossar
  25. Anmerkung der Übersetzer
  26. Die Übersetzer
  27. Weitere E-Books