TEIL II | DIE VERFAHREN THEORIEGENERIERENDER FORSCHUNG: GROUNDED THEORY, HEURISTISCHE SOZIALFORSCHUNG UND ETHNOGRAPHIE |
Der folgende Abschnitt dient der Überleitung. Es sollen hier einige fundamentale Überlegungen zur theoriegenerierenden Forschung wiederholt werden, um das Grundverständnis der Leserin/des Lesers zu festigen. Danach werden dann in den drei folgenden Kapiteln die drei Verfahren theoriegenerierender Forschung vorgestellt.
•Nach Klärung der allgemeinen Grundlagen in Teil I dieses Buches ist es nun in Teil II das Ziel, die drei wichtigsten Verfahren der systematischen und datengestützten Entwicklung kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien darzustellen. Dabei wird von einem handlungstheoretischen Grundverständnis ausgegangen. Dementsprechend wird Forschung als ein Prozess regelgeleiteten Handelns verstanden. Auf die jeweiligen Regeln haben sich die Wissenschaftlergemeinschaften oder ein Teil von ihnen geeinigt. Sie haben in einem diskursiven Prozess festgelegt, auf welche Weise empirische Forschung und die Konstitution wissenschaftlicher Theorien stattfinden muss, damit die Ergebnisse für ihre Wissenschaft und für den Diskurs der Wissenschaftler über ihr Forschungsfeld relevant sind oder sein können. Um diese Regeln und deren praktische Umsetzung geht es hier, insoweit sie auf die Herstellung neuer Theorien zielen.
•Die behandelten Verfahren zur Entwicklung neuer Theorien sind wissenschaftstheoretisch pragmatisch begründet und durch die Qualität der damit erzeugten Ergebnisse legitimiert. Theoriegenerierende Forschung ist dabei eine, meist von einem Team durchgeführte Form des regelgeleiteten sozialen Handelns in Auseinandersetzung mit der sozialen und kulturellen Wirklichkeit mit dem Ziel der Herstellung von empirisch bezogenen Theorien. Die dafür relevanten Regeln sind aus dem Handeln der Menschen im Alltag gewonnen und systematisch für die Zwecke der Wissenschaft weiterentwickelt. Die so entwickelten datennahen Theorien werden nicht als überzeitlich und kulturübergreifend gültige Gewissheiten verstanden. Es sind vielmehr Textzusammenhänge, die den Forschungsgegenstand in seiner Besonderheit und zugleich seiner Allgemeinheit, in seiner Art und Struktur und in seinen kulturellen und sozialen Kontexten beschreiben und seine Funktionsweisen und Beziehungen darstellen. Die Verfahren der theoriegenerierenden Forschung in den Kultur- und Sozialwissenschaften rekonstruieren den Forschungsgegenstand damit als einen von Menschen gemachten Zustand, der sich in der Zeit weiter entwickelt. Dabei wird davon ausgegangen, dass soziale und kulturelle Phänomene und damit auch ›Forschungsgegenstände‹ durch die Handlungspraktiken der damit befassten Menschen zustande kommen. Umgekehrt ausgedrückt: Die Menschen sind ›Experten‹ für diesen Forschungsgegenstand, und durch die Rekonstruktion und Analyse ihrer handlungsrelevanten Perspektiven und ihrer alltagspraktisch fundierten Handlungsweisen hindurch kann der in Frage stehende Gegenstand rekonstruiert werden.
•Forschen findet gemäß diesen Regeln als Prozess statt, und dieser Prozess führt in abgrenzbaren Phasen von der Forschungsfrage, die immer auch einen ›Forschungsgegenstand‹ bestimmt und festlegt, zur Theorie, die entwickelt werden soll. Zu den Aufgaben des Forschungsteams zählen die Klärung und Reflexion des Vorwissens, die Datenerhebung, die Datenauswertung, die komparativ angelegte (Weiter-)Entwicklung von Beschreibung und Theorie sowie das Testen vorhandener Theoriestücke, schließlich die Reflexion und Bewertung der Ergebnisse. Dies führt entweder zu weiteren, theoretisch/empirisch begründeten Phasen der Datenerhebung oder zum Abbruch und der Konstitution des Forschungsergebnisses für die Wissenschaft. Dazu werden die Ergebnisse als Beschreibung und Theorie des Forschungsgegenstandes in einem Text zusammengefasst und kommuniziert, der von der jeweiligen Wissenschaft als Beitrag diskutiert und akzeptiert werden kann und soll.
•Diese Phasen und die damit bezeichneten Forschungsaktivitäten sind im Prinzip immer ähnlich und bestehen im Grunde aus einer geplanten Datenerhebung und deren vergleichender Auswertung. Dennoch gleichen sich je zwei Forschungsprozesse im Allgemeinen nicht. Denn Forschungsperson und -gegenstand müssen zur Entwicklung neuer Theorien dafür offen sein und sich auf die empirischen Gegebenheiten einstellen können. Deshalb sind Forschungsergebnisse auch nicht allein durch ein bloßes Befolgen der Regeln zu erlangen; die Forschungsperson muss der Fragestellung vielmehr auch kreativ gegenübertreten, wenn sie etwas Neues finden will: Qualitative Forschung ist aktiver und geplant durchgeführter Lernprozess der Forschungspersonen und -teams und kann auch nur sehr beschränkt in einzelne von Dienstleistern zu erbringende Handgriffe zerlegt werden. Forschung ist in Teilen Handwerk, aber mit Routine allein nicht zu bewältigen.
•Theoriegenerierende Forschung ist kommunikativ, insofern sie an den Perspektiven der Menschen ansetzt, die mit dem sozialen Gegenstand zu tun haben. Die Forschungsperson muss den sozialen Gegenstand, um den es geht, aus der Position derer betrachten, die mit dem Gegenstand in ihrem Alltag operieren. Das heißt im Allgemeinen: Sie werden befragt oder beobachtet, wobei auch Gruppendiskussionen, introspektive Techniken, Rollenspiele und andere Methoden der Datenerzeugung eingesetzt werden können. Alternativ dazu kann die Forschungsperson selbst mit dem sozialen Gegenstand operieren, wie es beispielsweise im qualitativen Experiment geschieht (KLEINING 1986): Die Forschungsperson registriert (oder lässt registrieren), wie sich der soziale Gegenstand verhält, wenn man etwas Spezifisches mit ihm macht. Ebenso können auch bereits vorhandene soziale und kulturelle Artefakte wie etwa Texte untersucht werden. All diese Erkenntniswege sind aber nur auf der Basis eines kommunikativ begründeten Einlassens der Forschungspersonen auf soziale und kulturelle Kontextbezüge möglich. Denn es geht immer um die themenbezogene kommunikative Auseinandersetzung mit kommunikativ konstituierter Wirklichkeit – nur dadurch sind Sinn und Bedeutung als Bedingung sozialen Handelns rekonstruierbar. Dabei treten Forscherin und Forscher der zu untersuchenden sozialen und kulturellen Wirklichkeit notwendigerweise nicht wie beim Messen als etwas Fremdes gegenüber, sondern gehen von einem gemeinsamen kulturellen und sozialen Bezugsfeld aus, ohne das Forschung nicht funktioniert und ohne das keine Kommunikation möglich ist. Insofern sind Subjekt und Objekt von Forschung beide vom Forschungsprozess betroffen.
•Theoriegenerierende Forschung ist dabei komparativ angelegt. Die im Forschungsprozess erzeugten Daten werden in vergleichender Hinsicht untersucht, und zwar in Bezug zum je vorhandenen Vorwissen bzw. im Vergleich zu bereits vorhandenen Daten und den daraus bereits gewonnenen Erkenntnissen. Deshalb ist jede durch theoriegenerierende Forschung erarbeitete neue Erkenntnis eine Modifikation und Weiterentwicklung bereits vorher vorhandener Erkenntnisse, deren Gültigkeit dadurch zugleich eingeschränkt und präzisiert wird.
•Theoriegenerierende Forschung ist integrativ, insofern die verschiedenen existierenden handlungsrelevanten Perspektiven auf den sozialen Gegenstand variiert werden und dadurch in das Ergebnis eingehen, also – dialektisch ausgedrückt –im Ergebnis ›aufgehoben‹ sind.
•Theoriegenerierende Forschung ist rekonstruktiv, weil sie davon ausgeht, dass der in Frage stehende soziale Gegenstand durch die Analyse der erfragten, beobachteten oder selbst erprobten Handlungsweisen und Vorstellungen der Menschen in ihren verschiedenen Perspektiven allein erkannt und verstanden werden kann. Das heißt insbesondere, dass soziale und kulturelle Gegenstände in dieser handlungstheoretischen Perspektive durch das Handeln der Menschen erzeugt werden, wobei natürlich auch jeweils soziale und kulturelle Bedingungen struktureller Art eine Rolle spielen. Die Forschung folgt dieser Herstellung des Gegenstandes, indem sie sie aus den verschiedenen Perspektiven heraus nachvollzieht.
•Theoriegenerierende Forschung ist empirisch und findet im Forschungsfeld statt. Sie benutzt vorhandene Theorien vor allem, um die Forschungsperspektive breit anzulegen und um Startbedingungen definieren zu können. Sie ist im Weiteren dann aber an den handlungsleitenden Perspektiven der Experten orientiert. Dabei definieren Experten sich über ihren jeweiligen Standpunkt und ihre Perspektive, in denen sich ihre Erfahrungen und ihre Umgangsweisen mit dem Forschungsgegenstand organisieren und als Praxis ausdrücken (was sie von bloßen Einstellungen und Meinungen unterscheidet).
•Theoriegenerierender Forschung meint dementsprechend die Herstellung einer datenbasierten Theorie als Textzusammenhang, die den Forschungsgegenstand in seiner Erscheinung, Art und Struktur darstellt und ihn in seinen Kontexten und Beziehungen als Prozess versteht und handhabbar macht. Die Regeln des richtigen Forschens dienen dafür als Hilfen. Bei diesen Konstruktionsprozessen gibt es Kriterien zur Beurteilung des Vorgehens und Kriterien zur Beurteilung des Resultats. Insbesondere ist es wichtig, ein Feld- bzw. Forschungstagebuch zu führen und auszuwerten, um die Entwicklung von Theorien als Lernprozess des Forschers bzw. der Forscherin zu dokumentieren und zu berücksichtigen. Weitere verfahrensspezifische Kriterien zur Beurteilung des Vorgehens und der Resultate bei der Anwendung der einzelnen Verfahren werden im Rahmen ihrer Darstellung aufgeführt. Zusammenfassend wird das Problem der Qualität theoriegenerierender Forschung im abschließenden Kapitel 7 noch einmal aufgenommen.
•Logik und Erkenntnistheorie, Dialektik und Pragmatismus sagen gleichermaßen, dass die Gültigkeit von (wissenschaftlichem) Wissen durch Denkoperationen alleine ebenso wenig begründet werden kann wie durch empirische Forschung, ganz gleich, welche Verfahren und Methoden man verwendet. Sinnvolles Ziel von Forschung ist deshalb die Konstitution von Theorien unter Einhaltung vereinbarter Regeln, wobei sowohl Regeln als auch Theorien kommunizierbar sind und der Wissenschaftlergemeinschaft auch kommuniziert werden und werden müssen. Diese entscheidet (zumindest idealerweise) in ihrem herrschaftsfrei angelegten und auf Argumente bezogenen Diskurs darüber, was davon Teil ihres akzeptierten Wissensbestands ist und was genauer untersucht werden muss. Allein über diesen Prozess und seine Begründung durch Argumente kann sich Wissenschaft als gesellschaftliche Institution auf Dauer rechtfertigen – auch gegenüber einer vorrangig an Verwendung interessierten Öffentlichkeit. Deshalb ist Forschung auch nie nur instrumentelle Beschäftigung mit einer als extern verstandenen Wirklichkeit, sondern vor allem und in erster Linie Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs und Sicherung dessen argumentativer Grundorientierung.
•In einer ergänzenden Perspektive kann man den Prozess der empirischen Forschung als einen Prozess beschreiben, der von der Fülle der Realität über abstrakte Kategorien und sonstige einseitig bezogene Zwischenergebnisse zu einer breiten, theoretisch fruchtbaren und praktisch verwendbaren, ›dichten‹ Beschreibung und Theoretisierung der Wirklichkeit führt. Dabei ist der enge Datenbezug generell das wichtigste Gütekriterium, und die Befolgung von Regeln macht die dafür getroffenen Entscheidungen transparent und kritisierbar.
Im Folgenden werden nun die Grounded Theory nach Glaser und Strauss, die Heuristische Sozialforschung nach Kleining und als übergreifende Forschungsstrategie die Ethnographie vorgestellt. Wir hatten diese bereits in Kapitel 2 kurz skizziert. Die ersten beiden wurden dort als eher taktische, problem- und fragebezogene Verfahren bezeichnet. Die Ethnographie wurde demgegenüber als breiter und strategisch angelegtes Regelsystem skizziert. Sie bildet einen Rahmen für Forschung, innerhalb dessen unterschiedliche Einzelverfahren verschiedener Art verwendet werden können. Wir werden auch detailliert begründen, warum dies der Fall ist: Die Ethnographie ermöglicht es insbesondere, die kommunikativen und kulturellen Grundlagen herzustellen bzw. zu sichern, auf deren Basis sie selbst wie auch die Heuristische Sozialforschung und die Grounded Theory erst funktionieren können.
Die beiden zunächst vorgestellten Verfahren der Grounded Theory und der Heuristischen Sozialforschung sind in ihrer inneren Logik, in ihren Grundlagen und sogar in einzelnen praktischen Schritten durchaus ähnlich. Insofern werden wir manche Überlegungen, die wir bei der Vorstellung der Grounded Theory detailliert anstellen, später bei der Vorstellung der Heuristischen Sozialforschung nur noch andeuten und auf die Ausführungen bei der Darstellung der Grounded Theory verweisen. Grounded Theory und Heuristische Sozialforschung unterscheiden sich aber auch in vielen Besonderheiten voneinander.
Verfahren funktionieren ja immer auch als Filter, welche Daten sie durchlassen und welche nicht, und welche Interpretationen bzw. Auswertungen dann wie theorierelevant durchgeführt werden können. Deshalb führen beide Verfahren in manchen Fällen zu unterschiedlichen, in anderen zu gleichartigen Theorien – stets werden aber ähnliche Grundstrukturen erkennbar werden. Das heißt nicht, dass das eine Verfahren besser oder schlechter ist als das andere. Man muss aber entscheiden, welches von ihnen in Bezug auf eine spezifische Fragestellung erfolgversprechender ist. Hintergrund dieser Tatsache ist, dass ein und dasselbe soziale und kulturelle Phänomen durch unterschiedliche theoretische Entwürfe rekonstruiert werden kann – was sich davon auf Gütekriterien auswirkt, wird in Kapitel 7 erläutert.
Bei der Darstellung der drei Verfahren werde ich ›in gewisser Hinsicht‹ selektiv vorgehen.
›In gewisser Hinsicht‹ heißt: Über die drei Verfahren, die vorgestellt werden sollen, sind viele Bücher geschrieben worden. Sie in einem Band vorzustellen heißt: selektiv Schwerpunkte zu setzen. Das geschieht hier mit dem Ziel, die Grundlinien der drei Verfahren so darzustellen, dass eine normale Studierende, ein normaler Studierender sie anwenden können. Wenn Sie das Buch gelesen haben: Stellen Sie eine Forschungsfrage, entscheiden Sie sich für eines der Verfahren und fangen Sie dann an, systematisch eine Theorie zu entwickeln, die Ihre Frage beantworten kann.
Dabei werden Sie, wenn Sie vor den Mühen der Praxis stehen, häufig merken, dass das, was Sie in diesem Buch hier gelesen haben, Ihre Fragen nicht alle beantwortet. Längst nicht. Aber es wäre eigentlich auch absurd, das zu erwarten. Wenn man sich auf Forschungsfeldern bewegt, die noch kaum untersucht sind oder die neuer Theorien bedürfen, wie Sie sie gerade entwickeln wollen, können Sie nicht erwarten, dass es eine Art Rezeptbuchwissen gibt, das Sie ohne viel nachzudenken anwenden können. Im Gegenteil – ohne Ihre Kreativität geht es nicht. Und Kreativität bedeutet in diesem Fall auch, dass Sie die im Prinzip verstandenen Grundregeln theoriegenerierenden Forschens auf den Spezialfall zuschneiden müssen, mit dem Sie zu tun haben – das Thema und die Zugangsprobleme zu Personen, die man befragen kann, die Frage, wie man Daten erhebt und die spezifischen Probleme löst, die es immer gibt, wie man weitere Befragte findet und wie man mit den Daten umgeht, wie man all die Einzelheiten zusammenbringt und wann man eigentlich fertig ist: All das und noch mehr müsse...