Ein anderer Jesus
Was die Bibel verschweigt: Eine verschollene Stadt. Eine verbotene Schrift. Eine Kirche der Frauen. Ostern, der Mythos von Kreuzigung und Auferstehung – so steht es geschrieben. Aber da war noch sehr viel mehr. An den Ursprüngen des Christentums blühte eine spirituelle Welt von faszinierender Vielfalt. Es lohnt sich, diese längst versunkene Kultur der Glaubensfreiheitneu zu entdecken. Gerade jetzt in Zeiten wachsender religiöser Intoleranz
Von Fred Langer
Um das Jahr 175 nach Christus ziehen Zotikos und Julian, zwei Bischöfe aus Kleinasien, in einen Kampf, den sie nicht gewinnen können. Betend und um höchsten Beistand flehend, so werden sie über die staubigen Straßen Anatoliens gewandert sein; und jeder ihrer Schritte bringt sie einer Stadt näher, die ihnen als Brutstätte teuflischer Irrlehren erscheint: Pepouza in Phrygien, 330 Kilometer südwestlich von Ancyra gelegen, dem heutigen Ankara.
Ihr Gegner: ein böser Dämon, der dort aus einer falschen Prophetin spricht.
Maximilla nennt sich diese mutmaßliche Hohepriesterin Satans; mit verführerischer Rede schlägt sie Scharen Leichtgläubiger in ihren Bann. Von Pepouza aus führt sie eine schnell wachsende Bewegung an, in der auch Frauen sich anmaßen, das Wort Gottes zu predigen, Frauen, die ihre Prophezeiungen von einem Neuen Jerusalem in ekstatischer Raserei verkünden. Eitel träten sie auf, dekadent geschminkt, in teure Gewänder gekleidet, und ihre Ehegelübde hätten sie gebrochen, so heißt es.
Kurz vor ihrem unheimlichen Ziel führt der Weg die beiden Exorzisten in eine tiefe Schlucht. Furchterregend ragen die Felsen auf, der Himmel über ihnen wird eng. Dann öffnet sich der Canyon, und in einem Talkessel ausgebreitet liegt: Pepouza. Ehrfürchtig wandeln Pilger über eine Brücke in die Stadt, um die Prophetin Maximilla zu hören oder an den Gräbern der beiden anderen Stifter dieser charismatischen Christenbewegung zu beten, Priscilla und Montanus.
I.
Die verschwundene Stadt
Das dämonische Weib und die Gottesmänner – wir wissen nicht genau, wie die Begegnung verlief; Dokumente wurden vernichtet. Es heißt, Zotikos habe Maximilla zu exorzieren versucht, sei aber von Anhängern der Glaubensführerin aus dem Haus geworfen worden. Mission unvollendet. Gut möglich aber auch, dass die beiden Bischöfe keinen teuflischen Dämon austrieben, weil da keiner war. Ausschweifungen? Im Gegenteil. Die Anhänger dieser christlichen Glaubensgemeinschaft, die sich Neue Prophetie nannte, später bekannt geworden als Montanismus: Sie lebten asketisch und in moralischer Strenge.
Vielleicht mussten die Bischöfe sich eingestehen, dass sie der Propaganda der eigenen Amtskirche aufgesessen waren. Dass da in Wahrheit eine Frau predigte, die mit ihnen auf Augenhöhe über Themen des Christentums debattieren konnte.
„Ihr wollt mich wie eine Wölfin von den Schafen wegtreiben“, so wird sie in einer Chronik aus dem 4. Jahrhundert zitiert. „Ich aber bin keine Wölfin. Ich bin das Wort, der Geist, die Kraft.“
Nein, werden die ungebetenen Besucher entgegnet haben, niemand mehr könne noch Offenbarungen empfangen. „Alles ist gesagt.“
Nicht für die Anhänger der Neuen Prophetie, die überzeugt sind: „Zu uns spric...