Ansätze zur Kooperation mit dem Westen
Die Mauer, die Ökonomie und das Signal von Strauß
Als ich 1962 zum Sekretär des ZK gewählt wurde, existierte die Mauer fast ein Jahr. Sie wurde bekanntlich im Sinne der Sicherung einer Staatsgrenze auf Beschluss der Staaten des Warschauer Vertrages gebaut. Ihre Notwendigkeit wurde aus den Aufgaben zur Friedenssicherung hergeleitet. Sie war der deutlichste Ausdruck des damals in seiner Blüte befindlichen Kalten Krieges zwischen den Systemen.
Sie war aber auch ein Ausdruck dafür, dass der Sozialismus im ökonomischen Wettbewerb mit dem Kapitalismus die schlechteren Ausgangsbedingungen hatte, und er ökonomisch allein seine Existenz nicht behaupten konnte. Zumindest wurde das bereits für die DDR deutlich, die sich unerbittlich am ökonomischen und sozialen Fortschritt der Bundesrepublik messen lassen musste, wobei sich die BRD schon damals auf dem Wege zu jener ökonomischen Großmacht befand, zu der sie in den 80er Jahren wurde.
Es war bereits zu diesem Zeitpunkt eine Tatsache, dass die DDR nicht in der Lage war, ökonomisch das Tempo mitzuhalten und demzufolge die Lebensverhältnisse nicht in dem Maße verbessert werden konnten, wie dies im Vergleich zur BRD erforderlich gewesen war. So sollten die herangereiften ökonomischen und sozialen Widersprüche durch außerökonomische Sofortmaßnahmen gelöst werden, um die Einflüsse aus dem Westen zu begrenzen. Aber in Gegensatz zu der erhofften Wirkung kam eine Spirale in Gang. Die wirkliche »Mauer«, das heißt das ganze System von Sperranlagen, entstand erst in der Folgezeit. Es gab einen Hang zur ständigen Perfektionierung. Das geschah über Jahre hinweg, Schritt für Schritt, ohne politische Entscheidungen dazu. Immer gab es für diese oder jene Einzelmaßnahmen eine Begründung, und die hieß »im Interesse der Gewährleistung der Sicherheit«. Diese Leerformel genügte, um weitere Mittel und Kräfte einzuplanen. Ich kann die Kosten dafür nicht nennen, all das verschwand unter den globalen Summen im geheimen Militärbereich der Staatlichen Plankommission. Aber dem Nationaleinkommen wurden so wachsende Mittel entzogen, die anderswo fehlten.
Man muss es um der Ehrlichkeit willen heute der Intervention von Franz Josef Strauß zuschreiben, dass diesem Prozess ein gewisses »Halt« entgegengesetzt worden ist. Mit dem Abbau der Selbstschussanlagen und der Entminung begann eine selektive Demontage des Mauersystems. Das kam dann mit meiner Unterstützung gegen den Widerstand anderer durch politische Entscheidungen von Seiten Erich Honeckers zustande. Es gab auch danach nicht wenige Versuche, das Erreichte mit anderen Mitteln zu unterlaufen. Aber erste wichtige Schritte in umgekehrter Richtung sind getan worden.
Die Schuldenlast und der Milliardenkredit
Die Dinge standen zu Beginn der 80er Jahre auf des Messers Schneide. Die der DDR zur Verfügung stehenden Ressourcen der Leistungssteigerung wurden immer geringer, die Öllieferungen stagnierten, und für die gleichen Mengen musste ein Mehrfaches bezahlt werden. Am Wachsen des Bevölkerungsverbrauchs wurde jedoch in jeder Position festgehalten. Hauptargument war: Erhaltung der politischen Stabilität.
Dieses Argument der Wahrung der politischen Stabilität durch Vermeidung von sozialen Verschlechterungen war schon ernst zu nehmen. Die DDR war zu diesem Zeitpunkt bereits in einer Lage, wo sie aus eigener Kraft das erforderliche qualitativ höhere Niveau der Steigerung der Arbeitsproduktivität auf keinen Fall mehr erreichen konnte. Der RGW schied als Impulsgeber ebenfalls aus. Hier hoffte man im Gegenteil bezüglich neuer Technologien auf die DDR. Es blieb nur der Weg einer engeren Zusammenarbeit und eines engeren Anschlusses an die Bundesrepublik, auch unter stillschweigender Inkaufnahme der Tatsache, dass die Bundesrepublik ihre Hilfe stets unter der Prämisse der Vorbereitung einer künftigen Wiedervereinigung leistete. Daran haben ihre führenden Politiker auch niemals einen Zweifel gelassen, und das in aller Öffentlichkeit.
Der Milliardenkredit, der von Franz Josef Strauß 1983 vermittelt wurde, wozu es, wie aus Veröffentlichungen hervorgeht, eine entsprechende Abstimmung mit der Bundesregierung gab, war ein politisches Signal dahingehend, dass die Geschicke des Ostens Deutschlands der BRD nicht gleichgültig waren. Er war ein Signal dafür, dass man von Seiten der BRD keine unkontrollierten Entwicklungen in der DDR wollte, die dann vielleicht zu einem erneuten Herunterlassen des »Eisernen Vorhangs« geführt hätten, der sich ja seit dem Grundlagenvertrag, wenn auch nicht vollständig, so doch Zentimeter für Zentimeter gehoben hatte. Er war ein Schritt in Richtung auf die Milderung seines menschenfeindlichen Charakters, indem die Minenfelder und andere Leben und Gesundheit von Menschen gefährdende Einrichtungen an der Grenze abgebaut wurden.
Honecker stimmte diesen Intentionen von Strauß damals zu. Zu diesem Zeitpunkt gab es täglich die Meldung über den Stand der Zahlungssituation. In der Tat wurde eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung damals verhindert, weil der internationale Kreditboykott gegenüber der DDR sich im Gefolge dieses Signals spürbar lockerte.
Aber: Statt den äußeren Anstoß zum Anlass zu nehmen, nunmehr einen dynamischen Prozess in Gang zu setzen, in dessen Verlauf übertriebenes Sicherheitsdenken durch politisches Handeln ersetzt wurde, verlor man durch zögerliches Handeln wertvolle Zeit. Die Folge war, dass weiterhin hohe Forderungen an Mitteln zur Gewährleistung der Sicherheit und zur Perfektionierung der Grenzanlagen, einschließlich der Anforderungen, die sich aus dem Verteidigungssystem der Staaten des Warschauer Vertrages ergaben, gestellt worden sind. All das ging erneut auf Kosten der so dringend notwendigen ökonomischen Stabilisierung der DDR.
Es waren doch zwei einander entgegengesetzte Aufgaben gleichzeitig zu lösen: Verminderung der Schuldenlast in der Zahlungsbilanz, deren Preis zunehmende Zinszahlungen waren, und Bereitstellung von entschieden mehr Mitteln für die Schaffung einer dem internationalen technologischen Niveau entsprechenden Struktur der DDR-Volkswirtschaft und für die dringendsten Maßnahmen des Umweltschutzes.
Eine solche Aufgabe konnte nicht als wirtschaftspolitisches Problem schlechthin, sondern nur durch eine neue gesamtgesellschaftliche Strategie gelöst werden. Aber eine Strategie gab es nur auf ökonomischem Gebiet. Sie musste jedoch in ihrer Wirkung stark eingeschränkt bleiben, weil es eben an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür fehlte. Eine ökonomische Strategie ohne die erforderlichen Mittel dafür zu verwirklichen, das war ein nicht zu überwindendes Handikap. Es wurde auch kein Auftrag zur Ausarbeitung einer adäquaten Gesellschaftsstrategie insgesamt erteilt. Es blieb dabei, dass sich alles linear weiterentwickelte, vor allem die Ausgaben, und sie betreffen eben das weitere Ansteigen der hohen Summen für den Sicherheitsbereich und für die Verteidigung. Hier lagen die größten Reserven, um Stagnation und Rückgang bei den Mitteln für die Investitionen in der Volkswirtschaft zu verhindern und mehr zu tun, um den bereits eingetretenen gravierenden Rückstand zum internationalen Niveau zumindest zu verringern.
Dass der von Strauß protegierte Milliardenkredit durch die DDR aufgenommen werden musste, charakterisierte die Dramatik der Situation mit äußerster Schärfe. Franz Josef Strauß wurde bis dahin in der Öffentlichkeit als die Personifizierung feindseligen Verhaltens zur DDR schlechthin dargestellt, und er wurde, vor allem innerhalb der Reihen der SED, als das Urbild antikommunistischer Politik angesehen. Ausgerechnet dieser Mann bot der DDR eine Hilfestellung an, die von der Führung angenommen wurde. Das musste doch von jedem einigermaßen denkenden Menschen als Ausdruck einer kritischen Situation, in die die DDR damals bereits geraten war, erkannt werden.
So hätte doch jedes Politbüromitglied den Ernst der Lage auf dem Gebiet der Zahlungsbilanz erkennen müssen. Mindestens seit diesem Zeitpunkt konnte niemand mehr vom ehemaligen Politbüro behaupten, er habe von der Entwicklung hinsichtlich der Zahlungsbilanz der DDR nichts gewusst. Trotzdem war kaum jemand zu ernsthaften und durchgreifenden Maßnahmen bereit. In den Beschlüssen wurde die Aufgabe zur Halbierung des »Sockels«, das heißt der Nettoverschuldung, »ganz prinzipiell« gestellt – aber der Vorsitzende des Ministerrates sah sich beispielsweise nicht imstande, das Anwachsen des Verwaltungsaufwandes zu stoppen, geschweige denn, diesen zu vermindern. Im Gegenteil, dieser Aufwand stieg weiter an, ebenso der Verteidigungsetat.
Für meine Kontakte zu Franz Josef Strauß erntete ich nicht wenige scheele Blicke. Man muss sich vorstellen, was in jenen Jahren, als die Denkklischees des Kalten Krieges noch dominierten, ein Zusammentreffen ausgerechnet mit Franz Josef Strauß bedeutete, das, nebenbei gesagt, mit der sowjetischen Seite nicht abgestimmt war. Strauß erhielt ja damals keine Einladung in die UdSSR. Das gesamte Umfeld war auf eine solche Begegnung nicht vorbereitet, und es gab nicht wenige Querschüsse. Es gehörten schon eiserne Nerven dazu, solche Verhandlungen zu unterstützen.
Ich hatte Franz Josef Strauß in mehreren persönlichen Gesprächen, zuerst in Bonn, dann auch in Leipzig, gut kennengelernt. Er machte aus seiner Einstellung als konservativer Politiker niemals einen Hehl. Aber er war ein Realist, weniger pragmatisch als strategisch, ein in großen Zusammenhängen denkender Politiker, der es verstand, zum richtigen Zeitpunkt die Zeichen der Zeit zu erkennen und danach zu handeln. Er wusste sehr gut, dass es zu einer atomaren Auseinandersetzung nicht kommen durfte. Er sah offenbar gleichzeitig auch, dass die wirtschaftliche Stärke des Westens richtig ausgespielt, ein erfolgversprechender Weg zur Verwirklichung seiner gesellschaftspolitischen Grundauffassungen sein würde.
Auch wir waren an einer atomaren Katastrophe nicht interessiert, traten gegen die Aufstellung neuer amerikanischer wie sowjetischer Raketen auf deutschem Boden auf. Ich sah in gegenseitig vorteilhafter ökono...