Die Schwere der Schuld
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Die Schwere der Schuld

Ein Gefängnisdirektor erzählt

  1. 192 Seiten
  2. German
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Die Schwere der Schuld

Ein Gefängnisdirektor erzählt

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Thomas Galli erzählt von seiner Arbeit als Gefängnisleiter und zeichnet präzise Verbrechen und innere Konflikte von besonders auffälligen Häftlingen nach. Vor allem die aussichtslosen Fälle blieben ihm in Erinnerung - die unverbesserlichen und hemmungslosen, die süchtigen und die resignierten Täter. Er schildert auch Situationen, in denen das Justizpersonal überfordert war: Gewalt, Geiselnahmen, Verführungsversuche. Durch seine Erfahrung und Fachkenntnis gelingt es dem Autor, ein differenziertes Bild des deutschen Strafvollzugs zu zeichnen und die schwierige Aufgabe der Justizbeamten zu vermitteln, gleichzeitig öffentliche Sicherheit, Persönlichkeitsrechte der Gefangenen und Resozialisierung zu gewährleisten.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783360501264

Gefangen zwischen
den Welten

I.

»Ich wollte einfach nicht abpissen!« Das war der längste Satz, den ich bisher von ihm zu hören bekommen hatte.
Waldemar Schumacher, ein junger Mann aus Sibirien, Anfang zwanzig, sprach nur gebrochen Deutsch und so leise in sich hinein, dass man schon sehr genau hinhören musste. Er roch noch Meter entfernt nach schalem Rauch, wie fast alle Gefangenen, die Tag für Tag, und vor allem Nacht für Nacht, in ihren kaum belüftbaren Hafträumen rauchten. Er trug die typische gräuliche, abgewetzte und vielfach geflickte Häftlingskleidung. Nur zum Sport durften die Gefangenen eigene Kleidung anziehen. Vielleicht wirkte er gerade deshalb so sympathisch, weil er eingeschüchtert und zurückhaltend auftrat. Er sah einem beim Sprechen nicht in die Augen und hielt die meiste Zeit über seinen Kopf gesenkt, als säße er vor einem hohen Gericht oder hätte dauernd Angst davor, geschlagen zu werden. In gewisser Weise traf das auch zu, zumindest was den Vergleich mit einem Gericht betrifft. Er saß vor mir im Rahmen eines Disziplinarverfahrens.
Zwei Tage in der Woche waren für die Disziplinierung von Gefangenen vorgesehen, die gegen Vorschriften verstoßen hatten. Das konnte das Nichtbefolgen einer Anordnung von Bediensteten, eine Schlägerei mit Mitgefangenen oder der Konsum von Alkohol oder Drogen sein. Es gab einen umfangreichen Kanon möglicher Disziplinarmaßnahmen, der vom Entzug der Einkaufsmöglichkeiten für Tabak oder Kaffee über die Aussetzung der Arbeit bis hin zum Arrest reichte.
Der Arrest, der etwa in Bayern immer noch als Disziplinarmaßnahme durchgeführt wird, ist eine Art verschärfte Einzelhaft für die Dauer von bis zu vier Wochen. Die Gefangenen werden in einem Haftraum ohne Fernseher und Radio untergebracht, als Lesestoff bekommen sie nur die Bibel oder ein anderes religiöses Grundlagenwerk ihrer Glaubensrichtung. Den Aufenthalt im Freien, der ihnen eine Stunde täglich zusteht, müssen sie getrennt von den anderen Gefangenen verbringen. Die übrigen 23 Stunden sind sie in dem Arrestraum eingesperrt.
Arrest wurde vor allem für den Konsum von Drogen in der Anstalt ausgesprochen. Die Drogen gelangten über ganz verschiedene Wege an die Gefangenen. In den unkontrollierbaren Körperöffnungen von Besuchern, über Gefangene, die Ausgang hatten, oder auch einfach in Tennisbälle eingearbeitet und über die Anstaltsmauer geworfen. Der Kampf gegen Drogen in der Anstalt glich einem Kampf gegen Windmühlen. Immer wenn ein Schmuggelweg aufgedeckt und versperrt worden war, wurden neue aufgemacht. Die meisten Gefangenen hatten schon vor ihrer Haft Drogen konsumiert, von den übrigen fingen viele in der Haft damit an.
Ein guter Teil unserer Arbeitskraft wurde in der Anstalt darauf verwendet, diesen Konsum und Handel von Drogen zu minimieren. Das glich nicht selten einem großen »Räuber-und-Gendarm-Spiel«. Drogenspürhunde kamen regelmäßig zum Einsatz. Hafträume wurden durchsucht, stundenlang, jedes noch so kleine mögliche Versteck. Gefangene, ihre Arbeitsplätze, Besucher, alle wurden ständig durchsucht. Manchmal nur durch Abtasten, manchmal auch verbunden mit Entkleidung. Wurde etwas gefunden, mussten ein Bericht gefertigt, eine Anzeige an die Staatsanwaltschaft geschickt und Disziplinar- und Sicherungsmaßnahmen ausgesprochen werden. Ein riesiger Aufwand, der nichts, aber auch gar nichts brachte, um dem eigentlichen Ziel des Strafvollzuges, der Reintegration des Straftäters in die Gesellschaft, näher zu kommen.
Der Wert und der Preis von Drogen im Gefängnis ist immens und um ein Vielfaches höher als »auf der Straße«. Ein lukratives Geschäft für die Hintermänner. Drogenhändler im Knast zu sein lohnt sich mehr, als Drogenhändler in Freiheit zu sein.
Die Gefangenen mussten beim Verdacht eines Konsums Urin zur Kontrolle auf Drogen abgeben. Wer sich weigerte, wurde behandelt, als hätte er Drogen konsumiert. Oft gaben die Gefangenen allerdings an, sie würden selbstverständlich Urin abgeben, hätten aber unter der unmittelbaren Aufsicht nicht gekonnt. Anders Herr Schumacher, der nun vor mir saß.
Die Disziplinarverfahren liefen ab wie kleine Gerichtsverfahren. Es gab, vergleichbar mit der Anklageschrift, die Anzeige eines Bediensteten. Der Gefangene wurde dann von mir im Rahmen einer Art Hauptverhandlung damit konfrontiert und konnte Stellung beziehen. Auch wurden Beweise erhoben, indem zum Beispiel Zeugen vernommen wurden. In geheimer Beratung wurde sodann die Disziplinarmaßnahme festgelegt und dem Gefangenen im Anschluss eröffnet.
»Warum haben Sie denn keinen Urin abgegeben, Herr Schumacher?«
Er antwortete so leise, dass man ihn kaum hören konnte, während er vor sich auf seine gefalteten Hände sah: »Ich mag das nicht, wenn jemand zuschaut.«
»Haben Sie denn irgendwelche Drogen konsumiert?«
Hier sah Schumacher kurz auf: »Nein!«
Schumacher wirkte nicht nur so, als würde er nicht die Wahrheit sagen, sondern als hoffte er geradezu, ich würde sie dennoch aus seinen Worten herauslesen. »Haben Sie schon jemals Urin zur Kontrolle abgegeben?«
»Nein, ich musste das noch nie.«
»Und warum wurden Sie jetzt dazu aufgefordert?«
»Ein Mitgefangener hat den Beamten einen Tipp gegeben, dass ich mir angeblich was gespritzt hätte.« Er wurde gesprächiger und schien etwas aufzutauen.
»Was denn angeblich?«
»Heroin.«
»Und wer war der Tippgeber?«
Schumacher nannte den Namen eines Mitgefangenen, der aus Kasachstan stammte, jedoch deutscher Staatsbürger war. Das war nun sehr auffällig. Die Gruppe der »russlanddeutschen« Gefangenen (so wurden alle deutschstämmigen Inhaftierten aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion genannt) war innerhalb der Anstalt eine eingeschworene Gemeinschaft. Sie lebten in ihrer ganz eigenen Welt, mit eigenen Regeln und Strukturen. Nur selten gelang es uns, Einblick in diese Welt zu bekommen, ganz durchschaut haben wir sie nie. Und noch nie zuvor hatte ich es erlebt, dass ein Russlanddeutscher gegen einen anderen Russlanddeutschen aussagte. Ich hatte das Gefühl, dass Schumacher etwas sehr Schweres auf der Seele lag, von dem er sich nicht traute, es anzusprechen.

II.

Schumachers Lebenslauf war typisch für den vieler russlanddeutscher Inhaftierter. Seine Großeltern waren Nachfahren deutscher Siedler in Sibirien, wo seine Eltern und auch er geboren wurden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion siedelten seine Eltern wie viele andere aufgrund ihrer deutschen Staatsbürgerschaft in die Bundesrepublik über. Waldemar war damals noch im Vorschulalter. Wirklich integrieren konnte sich seine Familie nicht, die »Exil-Russlanddeutschen« blieben weitgehend unter sich. Man wohnte in eigenen Siedlungen am Rande der Stadt, sprach miteinander nur Russisch. Wenige fanden Arbeit, man lebte in den meisten Fällen von Kindergeld und Sozialhilfe. Lediglich die Kinder lernten zumindest in der Schule Deutsch, Waldemars Eltern und Großeltern sprechen es bis heute nicht oder kaum. Waldemar kam durch sein Elternhaus und auch gleichaltrige Russlanddeutsche bereits früh mit Alkohol und Drogen in Berührung und beging in der Gruppe kleinere Straftaten. Aktuell war er wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Totschlags in Haft.
Insbesondere Waldemars Vater, ein gelernter Schreiner, hatte Schwierigkeiten, in Deutschland zu einer positiven Identität zu finden. Er fand keine geregelte Arbeit und begann, immer stärker zu trinken. Er fing an, Waldemar, vor allem aber dessen Mutter zu schlagen. Seinen ganzen Frust, seine Wut auf sich selbst und sein Leben ließ er an ihnen aus. Vielleicht war er auch neidisch auf die beiden. Seine Frau besorgte den gesamten Haushalt und den Einkauf, kochte täglich und half Waldemar, als er noch zur Schule ging, bei den Hausarbeiten, so gut sie es mit ihrem Deutsch eben konnte. Dazu ging sie fast jeden Tag einige Stunden putzen, um das karge Familienbudget etwas aufzubessern. Ihr Mann tat überhaupt nichts – außer zu trinken. Jeden Tag. Mal zu Hause, mal auswärts. Waldemar hatte ihn, wie er sagte, nie nüchtern erlebt. Wenn sein Vater überhaupt einmal freundlich war, dann nie ihm, sondern nur seinen Saufkumpanen gegenüber. War nicht genug zu trinken in der Wohnung, musste Waldemar Nachschub holen. Er tat dies nicht nur aus Angst vor den Schlägen des Vaters, sondern immer auch in der Hoffnung, der Vater würde ihn dann mögen. Oder wenigstens anerkennen. Oder ihn zumindest nicht mehr hassen. Waldemar wurde jedes Mal enttäuscht, bis er irgendwann selbst Trost im Rausch suchte. Die Hoffnung aber blieb, über jeden Rausch hinweg. Und Waldemar konnte sich trotz seines Vaters nicht von seinem Elternhaus trennen. Oder vielleicht gerade wegen seines Vaters. Mit knapp zwanzig Jahren wohnte er – auch seiner Mutter zuliebe – immer noch zu Hause. Was würde mit ihr passieren, wenn er ginge? Warum die Mutter ihren Mann nicht verließ, hatte Waldemar nie verstanden. Er blieb also, zum Schutz der Mutter und in der Hoffnung auf die Anerkennung des Vaters. Eine denkbar schlechte Situation, die er nur mit immer mehr Alkohol und Drogen ertragen konnte.
Eines Abends kam Waldemar nach Hause. Sein Vater saß im Wohnzimmer und rauchte. Der Fernseher lief wie immer, aber der Vater war zu betrunken, um die Bilder zu verfolgen. Die Wohnung war völlig verqualmt. Die Mutter nutzte jede Sekunde, in der ihr Mann schlief oder unterwegs war, um durchzulüften, aber der giftige Rauch war längst tief in Teppich, Möbel, Kleider und Wände gedrungen. Waldemars Vater suchte meistens einfach nur Streit. Wie ein trotziges Kind, das so lange immer neue Gegenstände haben will, bis man bei einem nein sagen muss. Dann hat es endlich einen Grund gefunden, zu wüten, zu schreien und zu weinen.
Waldemar kannte seinen Vater und versuchte, jedem Streit aus dem Weg zu gehen, doch meistens funktionierte das nicht. Und wenn der Vater seinen Frust nicht an ihm abreagieren konnte, musste seine Mutter dran glauben, was für Waldemar noch schlimmer war.
An diesem Abend konnte sein Vater nur noch lallen, was angesichts der Tatsache, dass er ein hartgesottener Trinker war, auf einen selbst für seine Verhältnisse außergewöhnlich hohen Konsum schließen ließ. Waldemars Mutter schlief bereits oder versuchte es zumindest. Der Vater schrie ihn, soweit es seine schwere Zunge noch zuließ, an, warum er wieder so spät nach Hause komme. Er versuchte dabei, aufzustehen und auf Waldemar zuzugehen, geriet aber ins Schwanken und stürzte auf das Sofa. Er war sich des jämmerlichen Bildes bewusst, das er für seinen Sohn abgab, und wurde noch wütender. Er beschimpfte Waldemar als nichtsnutzigen Säufer und Gammler, der sein Leben und das seiner Mutter zerstört habe. Nur seinetwegen seien sie nach Deutschland gegangen, hätten nun keine Heimat mehr und würden nie wieder eine haben. Und er habe nichts daraus gemacht, sei einfach nur undankbar.
Waldemar ließ den Vater üblicherweise einfach reden in der Hoffnung, er würde irgendwann müde werden. An diesem Abend aber war alles anders.
Waldemar hatte eine Frau kennengelernt. Eine Russlanddeutsche wie er, sympathisch, fröhlich, aufgeschlossen und intelligent. Sie sprach Deutsch mit kaum hörbarem Akzent, hatte erfolgreich die Realschule absolviert und befand sich in einer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. Die Beziehung war schon einige Monate alt, aber er hatte sie, selbstredend, noch nie mit nach Hause gebracht. Er hätte sich zu Tode geschämt. Seinem Vater hatte er ohnehin nicht von ihr erzählt, aber auch nicht seiner Mutter. Irgendwie hatte er ein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Mutter, weil er sich jetzt einer anderen Frau zuwandte. Er selbst war allerdings bereits bei den Eltern seiner Freundin zu Hause gewesen. Freundliche, positive Menschen, solche gab es also auch. Der Vater sprach zwar auch kaum Deutsch, war aber sehr fleißig und patent und betrieb einen gut gehenden Hausmeisterservice. Die Mutter arbeitete Teilzeit in einer Wäscherei und kümmerte sich ansonsten um den Haushalt und ihre beiden Töchter – Waldemars Freundin und deren jüngere Schwester. Das war eine Art von heiler Welt, die Waldemar völlig fremd war. Er war an diesem Abend bei ihren Eltern zum Abendessen eingeladen gewesen. Er hatte nur auf direkte Fragen geantwortet und ansonsten kaum ein Wort gesagt, so eingeschüchtert war er von dieser neuen Welt. Obwohl er so höflich, zurückhaltend und ruhig auftrat, dass ihre Eltern ihn sehr sympathisch fanden, fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut. Mehr noch, er schämte sich. Er war überzeugt, dass man ihm sein Elternhaus ansah, diese Lieblosigkeit und Gewalt, und dass man ihn meiden müsste, wollte man nicht angesteckt werden wie von einem tödlichen Gift. Er fühlte sich wie ein Betrüger, ein Hochstapler, wenn er auf die Fragen der Eltern antwortete und dabei freundlich lächelte. Wenn die wüssten, wo er herkam!
Als er nach Hause ging, war ihm zumute, als hätte er einen Blick ins Paradies werfen dürfen, nicht zu lange, und müsse nun zurück in die Hölle. Die war immer sein Zuhause gewesen und würde es auf ewig bleiben. Er war so wütend. Wütend, weil er den Eltern seiner Freundin, die er ohne Zweifel liebte, keinen besseren Partner für ihre Tochter präsentieren konnte. Wütend, weil er sich vor ihren Eltern schämen musste. Wütend, weil seine Eltern nicht so waren wie ihre. Wütend, weil er selbst so ein Versager war. Nicht einmal einen ordentlichen Beruf konnte er vorweisen! Wütend über seine Wut. Er war viel zu durcheinander, um sich darüber klar zu werden, was er ändern wollte, was er tun sollte, aber irgendetwas musste sich ändern, das wurde ihm an diesem Abend auf dem Heimweg bewusst. Schmerzhaft bewusst, denn letztlich geht es bei allen Veränderungen im Leben, mal mehr und mal weniger, darum, die eigene, persönliche Struktur zu verändern. Doch wie soll das gelingen, wenn man nur spürt, dass die alte einem schadet, aber nicht weiß, wie eine neue, bessere aussehen sollte? Und wenn es niemanden gibt, der einen bei dieser Strukturveränderung unterstützt? Es gab seine Freundin. Für sie und mit ihr wollte er ein anderes Leben führen, ein anderer, ein besserer Mensch werden. Aber er wollte ihr nicht zur Last fallen und es nicht auf ihre Kosten tun.
Als er nun die Wohnung betrat, musste er sich die Schimpftiraden seines Vaters anhören. Er würde sich später kaum noch an das erinnern können, was dann geschah und was in seinem Kopf passierte. Er tickte einfach aus. Er schlug seinem Vater so hart mit der Faust ins Gesicht, dass er sich selbst zwei Finger dabei brach. Nach dem ersten Hieb brachen alle Dämme. Er prügelte auf den Vater ein, mit beiden Fäusten, und schrie so laut wie nie zuvor in seinem Leben. Der Vater war längst bewusstlos geworden und auf dem Sofa zusammengesackt, da trat Waldemar, als er nicht mehr schlagen konnte, mit den Füßen auf ihn ein. Seine Mutter beobachtete das Ganze von der Tür zur Küche aus. Erst als Waldemar fast die Luft ausging und er immer längere Pausen machen musste, um durchzuatmen, trat sie von hinten auf ihn zu und umarmte ihn. Alle Wut, aller Hass, alle Aggression waren mit einem Mal weg. Er fühlte sich nur noch leer, ausgelaugt und traurig. Als er zu seinem Vater hinübersah, der sich einuriniert und übergeben hatte und mit blutverschmiertem, aufgequollenem Gesicht auf dem Sofa lag, die Augen geschlossen und den Mund einen Spalt geöffnet, aus dem langsam etwas Blut floss, da dachte er, der Vater sei tot. Seine Mutter rief die Polizei und dann den Krankenwagen.

III.

Der Vater ist nicht gestorben. Das Gericht sah es aber als erwiesen an, dass Waldemar mit seinen Schlägen den Tod des Vaters gewollt, zumindest billigend in Kauf genommen hatte. Er wurde wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Totschlags verurteilt.
Mittlerweile kam seine Mutter hin und wieder zu Besuch in die Anstalt, in der Waldemar insgesamt neun Jahre zu verbüßen hatt...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. Über das Buch
  5. Über den Autor
  6. Inhalt
  7. Vorbemerkung
  8. Es schnürt einem die Luft zum Leben ab …
  9. Gefangen zwischen den Welten
  10. Eine verhängnisvolle Liaison
  11. Hinter der Trennscheibe
  12. Der Geruch des Todes
  13. Ein außerordentliches Vorkommnis
  14. Der Vollzugsteilnehmer
  15. Mit einem Muttermörder will man doch nicht Fußball spielen
  16. Der Wahnsinn bleibt draußen!
  17. Epilog
  18. Nachwort