Kerl sein.
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Kerl sein.

Kulturelle Szenen und Praktiken von Jungen

  1. 360 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfĂŒgbar
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Kerl sein.

Kulturelle Szenen und Praktiken von Jungen

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Über dieses Buch

Ein "echter" Kerl sein - wohl eine der hĂ€ufigsten Erwartungen, mit denen sich Jungen konfrontiert sehen. Und sicherlich auch eine Wunschvorstellung bei vielen von ihnen.Bloß: Was ist ĂŒberhaupt ein Kerl, ein "echter" zumal? Ein cooler Checker, der weiß, wo's langgeht? Ein kerniger Typ, der Eier hat? Einer, der krĂ€ftig austeilen, aber auch ordentlich einstecken kann? Jemand, der sich durchsetzt - wenn's sein muss: um jeden Preis? Oder verhĂ€lt es sich ganz anders? Muss man(n) ein Frauenversteher sein? Sind GefĂŒhl und HĂ€rte gefragt? Jugendszenen halten Angebote, manchmal auch Kopiervorlagen fĂŒr MĂ€nnlichkeitsvorstellungen und -praxen bereit. Straßenkulturen, rechte Szenen, Autonome, aber auch Emos, Transgender und weitere Jugend- und PopulĂ€rkulturen bieten Antworten auf Fragen wie die oben genannten. In welcher Gestalt sie dies jeweils tun und fĂŒr wen sie AttraktivitĂ€t entfalten, beschreiben und analysieren die BeitrĂ€ge dieses Buches.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783943774382

1

EINFÜHRUNG

Lothar Böhnisch

CLIQUEN MACHEN MÄNNER.

JUNGEN IM KONTEXT VON CLIQUEN UND JUGEND(SUB)KULTUREN

Gleichaltrigengruppen — Peers — sind aus psychoanalytischer, soziologischer und pĂ€dagogischer Gesamtsicht alterstypische Medien der Regulation, mit denen Triebdynamik kanalisiert, soziale Differenzierung entwickelt, Rollen erprobt und Übergangssituationen bewĂ€ltigt werden. In ihnen symbolisieren sich die Ablösung von der Herkunftsfamilie (das Nicht-mehr) und der unstrukturierte und deshalb normdiffuse Übergang in das spĂ€tere Erwachsenenalter (das von sich weggeschobene Noch-nicht) gleichermaßen.1 In den Peers wird aber nicht nur Jugend ausgelebt, sondern auch — damit verbunden — GeschlechtsidentitĂ€t (weiter)entwickelt und inszeniert. Dies hat bei Jungen eine weitreichendere Bedeutung als bei MĂ€dchen. Denn hier sind sie nach einer langen von Frauen dominierten und abhĂ€ngigen Kindheitsperiode „endlich“ und nun kulturell selbstĂ€ndig „unter MĂ€nnern“. Jungenfreundschaften ĂŒber Cliquen sind nicht nur jugendkulturelle ExperimentierrĂ€ume, sondern auch Orte der Suche nach mĂ€nnlicher IdentitĂ€t.2

Die Dynamik von Idolisierung und Abwertung

Das Aufwachsen von Jungen in unserer Gesellschaft ist durch die Suche nach mĂ€nnlicher GeschlechtsidentitĂ€t im Bindungs-/AblösungsverhĂ€ltnis zur Mutter und in dem — mit ihm konkurrierenden und zugleich suchenden — Verlangen nach dem „mĂ€nnlichen“ Vater (oder einer vergleichbaren mĂ€nnlichen Bezugsperson) bestimmt. Dies unterscheidet sie in der frĂŒhen kindlichen Phase von den MĂ€dchen, die sich auf der Suche nach GeschlechtsidentitĂ€t nicht von der Mutter lösen mĂŒssen und bei denen der Geschlechtskonflikt erst in der PubertĂ€t in der Dramatik der Ablösung von der Mutter Gestalt gewinnt. FĂŒr den Jungen aber beginnt der Ablösungsprozess von der Mutter schon im frĂŒhkindlichen Alter von drei bis fĂŒnf Jahren zu einer Zeit, in der sich das autobiografische GedĂ€chtnis entwickelt hat und der Junge erkennen kann, dass er körperlich nicht der Mutter, sondern dem Vater oder anderen mĂ€nnlichen Bezugspersonen gleicht. FĂŒr den Jungen ist es aber meist schwer, ĂŒber den Vater — oder eine Ă€hnlich nahe mĂ€nnliche Bezugsperson — die Alltagsidentifikation zu bekommen, die er braucht, um in ein ganzheitliches, StĂ€rken und SchwĂ€chen gleichermaßen verkörperndes Mann-Sein hineinwachsen zu können. Die VĂ€ter sind ja meist unter der Woche außer Haus. Die alltĂ€gliche Beziehungsarbeit obliegt so der Mutter, die sich dem Jungen in ihren StĂ€rken und SchwĂ€chen zeigt. Die SchwĂ€chen des Vaters und seine alltĂ€glichen Nöte des Mannseins, des Ausgesetzt-Seins und der Verletzungen im Beruf werden dagegen fĂŒr den Jungen kaum sichtbar. Das heißt nicht, dass die VĂ€ter nicht engagiert sind. Aber die meisten sind nur am Wochenende verfĂŒgbar, und dann machen sie mit den Kindern „etwas los“; der Vater bringt die Events. So wird auch in unseren Vorstudien zur reprĂ€sentativen SĂŒdtiroler MĂ€nnerstudie deutlich, dass der Großteil der VĂ€ter zeitlich enorm an die Arbeit gebunden ist und dass sie es oft bedauern, z. B. keine lĂ€ngere Elternzeit nehmen zu können. Der Junge erhĂ€lt aufgrund dessen oft ein einseitiges Vaterbild, das durch die ’starken’ MĂ€nnerbilder, die er mit zunehmendem Alter ĂŒber die Medien wahrnimmt, noch verfestigt wird. Dies fĂŒhrt bei ihm zwangslĂ€ufig zur Idolisierung des Mannseins und zur Abwertung des GefĂŒhlsmĂ€ĂŸigen, Schwachen, „Weiblichen“, da er ja die eigenen weiblichen GefĂŒhlsanteile, die er seit der frĂŒhkindlichen Verschmelzung mit der Mutter in sich trĂ€gt, immer weniger ausleben kann. Neuere VĂ€terstudien zeigen zwar, dass sich eine höhere Beziehungsund damit alltĂ€gliche VorbildqualitĂ€t entwickelt, wenn VĂ€ter zeitlich und emotional intensiver in der familialen SphĂ€re der Söhne auftauchen. Freilich hat sich dabei noch nicht viel Grundlegendes an der Struktur vĂ€terlicher Familienarbeit geĂ€ndert. Dazu brĂ€uchte es auch gesellschaftliche Vorgaben der Anerkennung und Förderung mĂ€nnlicher Hausarbeit. Gerade die Feminisierung der Erwerbsarbeit lĂ€sst in diesem Zusammenhang ambivalente Folgen erwarten. Indem das NormalarbeitsverhĂ€ltnis erodiert, prekĂ€re ArbeitsverhĂ€ltnisse auch die MĂ€nner stĂ€rker erreichen, werden sich viele erst an die traditionelle Erwerbsarbeit klammern, wenn die alternativen Bereiche der Hausarbeit keine anerkannte MĂ€nnerrolle versprechen. Deshalb ist es schon in der Kindheit fĂŒr den Jungen wichtig, eine Mutter zu erleben, die sowohl dem Vater als auch dem Jungen gegenĂŒber anerkannte SelbstĂ€ndigkeit ĂŒber die Familie hinaus verkörpert und damit signalisiert, dass sie dem Jungen auch soziale Rollenbilder anbieten kann. Ist die Mutter dagegen eher abhĂ€ngig und von daher mit schwachem SelbstwertgefĂŒhl ausgestattet, kann sich bei ihr die unbewusste Tendenz verstĂ€rken, den Sohn als mĂ€nnlich stark erleben zu wollen. Die Mutter bleibt also weiterhin eine zentrale Figur im Prozess der Entwicklung von MĂ€nnlichkeit. Gleichzeitig hĂ€ngt es aber vor allem vom Vater bzw. der vom Jungen gesuchten mĂ€nnlichen Bezugsperson ab, inwieweit er sich gegenĂŒber dem Jungen so öffnen kann, dass dieser erfĂ€hrt und spĂŒrt, dass zum Mannwerden nicht nur Inszenierung von StĂ€rke, sondern auch Erleben und Durchleben von SchwĂ€chen gehören.
Wie sich im Kindesalter das Mannwerden je unterschiedlich biografisch entwickelt, hĂ€ngt aber nicht nur von der jeweiligen Mutter-Vater-Konstellation ab, sondern auch von den ersten gesellschaftlichen Erfahrungen, die Jungen in ihrer Umwelt machen. Diese Erweiterung ist wichtig, da es ja keineswegs an den Eltern allein liegt, in welches Geschlechterrollenverhalten Kinder hineinwachsen, und manche Eltern sich wundern, warum ihre Kinder, trotz elterlicher Versuche einer geschlechtsemanzipativen Erziehung, traditionelle Geschlechterrollenstereotype ĂŒbernehmen. Hier spielen die frĂŒh von den Kindern konsumierten Medien und deren Geschlechterbilder schon eine wichtige Rolle. Schließlich fĂ€llt ins Gewicht, dass die Jungen im Kindergarten und in der Grundschule kaum auf mĂ€nnliche Erzieher/KindergĂ€rtner oder Lehrer treffen und somit auch wieder Vorbilder des Mannseins fehlen. Dies ist die Kehrseite des — hier nur bedingten — Vorteils, dass sie dort weibliche Zuwendung erfahren.

Entstehung, Entwicklung und Dynamik von Jungencliquen

Die Jungenclique entwickelt sich im Kindergarten vor den Augen meist ĂŒberraschter ErzieherInnen, die den Gender-Mechanismus, der dieser Gruppendynamik kleiner Jungen innewohnt, nicht durchschauen. Dabei liegen die GrĂŒnde auf der Hand: Jungen im frĂŒhen Kindesalter streben in unserer Kultur nach der (unbewussten) Ablösung von der Mutter und nach mĂ€nnlicher Geschlechtsidentifikation. In den meisten unserer KindergĂ€rten aber finden sie keine MĂ€nner als Erzieher. Deshalb wenden sie sich den gleichaltrigen kleinen MĂ€nnern zu und finden sich in Gruppen, die sich ĂŒber Abgrenzung, schon kleine Abwertungen von MĂ€dchen und die Idolisierung des mĂ€nnlich Starken bilden. Dabei mögen die einzelnen Jungen fĂŒr sich gar nicht so abgrenzend und abwertend sein. Es ist die Gruppe und ihre Dynamik, in der Dinge getan werden, die die einzelnen Jungen allein gar nicht tun wĂŒrden. Aber die Angst, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden, nicht dazuzugehören, lĂ€sst sie mitmachen. In kritischen Konstellationen, vor allem im Jugendalter, kann sich dieser gruppendynamische Mechanismus von Idolisierung des MĂ€nnlichen und Abwertung des Weiblichen immer wieder neu aufschaukeln. So zusammengeschweißte Cliquen sind habituelle und affektuelle „Gesinnungsgenossenschaften“.3 Gerade im jugendlichen PubertĂ€tsalter zwischen 13 und 16 Jahren steht die Ablösung von den Eltern und die betonte Hinwendung zur Gleichaltrigenkultur im Mittelpunkt des Entwicklungsprozesses. „Abgrenzungen junger MĂ€nner bewegen sich zwischen heftigen und konfliktreichen Trennungen von den Eltern, oft verbunden mit deren Entwertung, und BemĂŒhungen, an der kindlichen NĂ€he zu ihnen festzuhalten, nicht selten oszillieren sie zwischen den beiden Polen“.4 Diese innerpsychische fluide Konstellation spiegelt sich auch im Ă€ußeren Sozialverhalten: Bereits Jugendstudien der 1990er Jahre (z. B. Deutsche Shell AG 1997 und 2000) machen deutlich, dass zwar die jugendkultur- und cliquenzentrierte Orientierung in der Jugendpopulation verbreitet ist, aber gleichzeitig eine bemerkenswerte NĂ€he zu den Eltern bleibt, die sich in den 2000er Jahren — als jugendĂŒberdauerndes Wohnen bei den Eltern — verstĂ€rkt hat. Wenn auch die Freizeitorientierung ĂŒberwiegend jugendzentriert ablĂ€uft, so zeigen sich in anderen sozialen und kulturellen Einstellungen der Jugendlichen deutliche AffinitĂ€ten zu den Eltern.5 Die Gleichaltrigenkultur ist deshalb auch nicht prinzipiell gegen die Eltern gerichtet. Sie hat aber dort ihre zentrale, elternabgewandte Bedeutung, wo es um die soziokulturelle EigenstĂ€ndigkeit und die Formierung der GeschlechtsidentitĂ€t geht. Hier fallen die mĂ€nnlich dominierten Cliquen auf, wenngleich auch MĂ€dchen inzwischen schon ihre eigenen jugendkulturellen Gesellungsformen suchen. Man könnte formulieren, dass die Jungen im Kontext der Gesellungsform der mĂ€nnlichen Clique zum ersten Mal richtig „unter MĂ€nnern“ sind und sich nur an (gleichaltrigen) „MĂ€nnern“ orientieren können. Allerdings kommen — je nach bisherigen biografischen BewĂ€ltigungserfahrungen und entsprechenden sozialen Chancen — Jungen zusammen, die sich selbst noch nicht ihres Mannwerdens sicher sind. Das in der mĂ€nnlichen Sozialisation immer noch schwelende HomosexualitĂ€tstabu und der Ethnozentrismus der Gruppe können dann den Kreisel von Idolisierung des MĂ€nnlichen und Abwertung des Weiblichen neu aktivieren. Deshalb kommt hier gerade der Jungenarbeit in der Jugendarbeit die Aufgabe zu, mĂ€nnliche Vorbildfunktionen anzubieten, Projekte zu entwickeln, in denen Jungen vermeintliche SchwĂ€chen als StĂ€rken erfahren und in erweitertem Geschlechterrollenhandeln experimentieren können. Denn im Jugendalter als „zweiter Chance“ der mĂ€nnlichen Sozialisation wird auch fĂŒr Jungen die StĂ€rke von GefĂŒhlen wieder spĂŒrbar.
Clique und Raum verschmelzen gerade bei Jungen zu einer besonderen Aneignungskultur. Es ist die Wechselseitigkeit von rĂ€umlicher und interaktiver Vergewisserung und den daraus erwachsenden Praktiken, in den sich Jungen als Jungen bestĂ€tigen.6 RĂ€ume sind immer noch vor allem von Jungen besetzt, durch ihre demonstrativen Aktionen markiert. MĂ€dchen sind auf ZwischenrĂ€ume, Beziehungsnischen und wechselnde Orte verwiesen. Jungen kontrollieren RĂ€ume, ihr Verhalten ist Territorialverhalten. MĂ€nnliche Dominanz drĂŒckt sich vor allem in verschiedenen Formen rĂ€umlicher Dominanz aus. MĂ€nnliches Raumverhalten ist Kontrolle, Ausgrenzung, ZurĂŒckdrĂ€ngung anderer Jungen, die nicht der Clique angehören, und vor allem auch rĂ€umliche ZurĂŒcksetzung von MĂ€dchen. Die mĂ€nnliche Abwertung der Frau setzt ihre ersten Zeichen im rĂ€umlichen Jungenverhalten der „Anmache“, aber auch in der rĂ€umlich demonstrierten „BeschĂŒtzerpositur“ der Jungen. Allerdings tĂ€uscht oft der Eindruck der ZurĂŒcksetzung der MĂ€dchen. Es ist ein Bild, das vom Eindruck der Dominanz der Jungen geprĂ€gt ist. Dass MĂ€dchen hinter und abseits dieser mĂ€nnlichen BĂŒhne eigene Wege suchen, gerĂ€t dabei meist aus dem Blick. Wenn Jungen in ihrem rĂ€umlichen Verhalten in der Tendenz territorial gebunden sind, so suchen MĂ€dchen eher wechselnde Beziehungsorte, d.h. sie wechseln dann und wann die Orte, versichern sich, ob diese auch eine QualitĂ€t fĂŒr sie haben, verlassen sie wieder. Deshalb muss man fĂŒr das Raumverhalten von MĂ€dchen, weil es durch das raumgreifende Dominanzverhalten der Jungen verdeckt ist, einen besonderen Blick entwickeln.
„Gleichaltrigenbeziehungen sind fĂŒr Jungen (und MĂ€dchen) auch deshalb besonders wichtig, weil sie ein eigenes Übungsfeld in Ablösung von der Familie, der Abgrenzung zur Erwachsenengesellschaft und beim Erwerb sozialer Kompetenzen sind. Der RĂŒckzug aus gemeinsamen Unternehmungen mit der Familie verlĂ€uft [
] geschlechtsspezifisch: 13- bis 15-jĂ€hrige MĂ€dchen und Jungen geben noch zu gleichen Anteilen an, sich regelmĂ€ĂŸig an FreizeitaktivitĂ€ten mit der Familie zu beteiligen. Von den 16- bis 17-jĂ€hrigen Jungen hingegen unternimmt nur noch etwa die HĂ€lfte regelmĂ€ĂŸig etwas mit ihren Eltern oder Geschwistern — und damit deutlich weniger als die gleichaltrigen MĂ€dchen“.7
Gleichzeitig spielen die MĂ€dchen, die in solchen Cliquen sind, meist eine bezeichnende Rolle: Bei den Ă€ußeren AktivitĂ€ten der Gruppe, im Ă€ußeren MachtgefĂŒge, spielen sie eine untergeordnete Rolle. Die Jungen lassen an ihnen ihr mĂ€nnliches ÜberlegenheitsgefĂŒhl aus und werten sie immer wieder ab oder weisen sie zurĂŒck, demĂŒtigen sie. Im inneren GefĂŒge solcher Cliquen spielen MĂ€dchen dagegen eine sehr dominante Rolle, sie tragen vor allem zum Zusammenhalt der Clique bei, sie vermitteln bei Streitigkeiten und Konflikten nach innen und außen, und sie sind es auch — und das ist in Jugendcliquen immer gefĂŒrchtet — , welche durch das EinfĂ€deln einer Partnerbeziehung einzelne Jugendliche aus der Clique herausbrechen: Mit der festen Freundin scheint der Junge fĂŒr die Clique verloren.
So ist die Jungenclique kein echter Haltepunkt in der Findung mĂ€nnlicher IdentitĂ€t und selbstbestimmter VerhĂ€ltnisse zu Frauen, sondern kann zu einem weiteren Kristallisationspunkt des mĂ€nnlichen Dilemmas im Lebenslauf werden. Viele Jungen haben auch hier wieder keine Beziehung zu sich selbst, keine Ruhe auf der Suche nach MĂ€nnlichkeit, keine Gewissheit im VerhĂ€ltnis zu MĂ€dchen und Frauen gefunden. Im Gegenteil: Es spielen sich hier oft Verhaltensmuster gegenĂŒber MĂ€dchen ein, die dann auch im spĂ€teren Leben im VerhĂ€ltnis zu Frauen immer wiederkehren. Jungen spĂŒren, wie sie sich nach EmotionalitĂ€t und Bindung sehnen, wollen sich MĂ€dchen entsprechend nĂ€hern, sind aber nicht imstande, dieses GefĂŒhl in entsprechendes soziales Verhalten umzusetzen, da ihnen dies seit der Kindheit immer wieder manifest oder latent verwehrt wurde. Sie fĂŒhlen weiblich, nĂ€hern sich den MĂ€dchen aber mĂ€nnlich, mit Imponiergesten oder einer verbalen bis hin zur körperlichen Anmache, auf die heute viele selbstbewusste MĂ€dchen nicht mehr reagieren. So kann sich ein missverstĂ€ndliches „Umwegverhalten“ MĂ€dchen gegenĂŒber entwickeln. Um eigene SchwĂ€chen und Unsicherheiten zu verbergen, „verstecken“ sich Jungen nicht selten hinter Verhaltensweisen, die BedĂŒrfnisse nicht direkt, sondern ĂŒber einen Umweg ausdrĂŒcken. Diese werden als „symbolisch“ bezeichnet, weil das GegenĂŒber die Aufgabe erhĂ€lt, die jeweilige Strategie zu entschlĂŒsseln. Strategisches Verhalten Ă€ußert sich vor allem im Umgang mit MĂ€dchen: Die AnnĂ€herung an MĂ€dchen lĂ€uft hĂ€ufig ĂŒber Anmache (positives Moment: Zuneigung zu MĂ€dchen, Suche von NĂ€he und Geborgenheit; negatives Moment: Der Junge muss vor anderen, insbesondere vor der Clique, seinen Mann stehen; er darf sich nicht dem MĂ€dchen „unterwerfen“). Oft wird dieses Verhalten von MĂ€dchen „gefördert“ und unterstĂŒtzt, z. B. durch Kichern oder das Zulassen solcher AnnĂ€herungen. Strategisches Jungenverhalten ist also ambivalentes Verhalten. Jungen lassen ihre innere mĂ€nnliche Hilflosigkeit nicht nur in frauenabwertenden Abstraktionen und Projektionen aufgehen, sondern senden durchaus empathische Signale nach außen, die aber in der Regel missachtet oder nicht als solche entschlĂŒsselt werden. Strategisches Verhalten ist meist ritualisiert, dies gibt dem Jungen Sicherheit: Er muss sich nicht offenbaren, sich nicht stellen, so kann man vor der Clique das Gesicht wahren. Jungen, die nicht in einer festen Gleichaltrigengruppe sind, werden dennoch ĂŒber die Ausstrahlung der Gleichaltrigenkultur entsprechend beeinflusst. Allerdings sind sie der permanenten Gruppenkontrolle und ihrem KonformitĂ€tsdruck nicht so stark ausgesetzt. Jungen, die gern viel mit MĂ€dchen zusammen sind, sind offener fĂŒr ein anderes als das gĂ€ngige mĂ€nnliche Verhalten.

Maskulinzentrierte und jugendkulturzentrierte Cliquen

Die Gleichaltrigengruppe kann dort problematische Wirkungen zeigen, wo sie zum alleinigen Fixpunkt mĂ€nnlicher IdentitĂ€tsfindung bei Jungen wird. Angesichts der Problematik der Suche nach mĂ€nnlicher GeschlechtsidentitĂ€t im Kindesalter ist es kein Wunder, dass spĂ€ter viele Jungen die mĂ€nnlich dominierte Peergroup geradezu suchen, um endlich unter sich zu sein und sich „an MĂ€nnern“ im Alltag orientieren zu können. In dieser mĂ€nnlichen Gleichaltrigenkultur fallen Jungen auf, die aus dem sozialisatorischen Verstrickungszusammenhang von latenter Frauenabwertung und Idolisierung des MĂ€nnlichen nicht herausgekommen sind und sich zwangslĂ€ufig in der ethnozentristischen Dynamik der mĂ€nnlich dominierten Gleichaltrigengruppe weiter maskulin aufladen. Dies kommt in der jugendsoziologischen Literatur zu delinquenten und gewalttĂ€tigen Jugendgruppen immer wieder zum Ausdruck, wobei jedoch das Geschlechtstypische dieser VorgĂ€nge meist nicht explizit herausgearbeitet ist. Dass manche Jungen — vor allem jene, die von ihrem Herkunftsmilieu keine Kompetenzen zur BewĂ€ltigung des mĂ€nnlichen Geschlechterdilemmas mitbekommen haben — auf solche Frauen abwertende, mĂ€nnerbĂŒndische Gruppenstrukturen geradezu „angewiesen“ sind, relativiert erheblich den pĂ€dagogischen Wert der (mĂ€nnlich dominierten) Peergroup. Deshalb dĂŒrfen Gleichaltrigenbeziehungen in kleineren Gruppen und Freundschaften, wie sie MĂ€dchen traditionell favorisieren,8 die ja von ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation her nicht auf abwertende GruppenbezĂŒge „angewiesen“ sind,...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. Inhalt
  5. 1 EINFÜHRUNG
  6. 2 IN THE GHETTO?
  7. 3 NUR SPORT?
  8. 4 WELCHE SEXUALITÄT?
  9. 5 NIX ALS GEWALT?
  10. 6 POLITIK ODER MEHR?
  11. 7 MULTIKULTI?
  12. 8 SCHWUL, BI, ANDROGYN?
  13. 9 NUR FUN?
  14. 10 UND DIE BILANZ?
  15. Anmerkungen