1. Nach Hille
Am Tag nach dem am Schluss des vorigen Bandes beschriebenen Abend unternahmen wir den geplanten Ritt zum Turm von Babylon, jetzt von den dortigen Beduinen Birs Nimrud genannt. Man rechnet von Bagdad nach Hille drei kurze Tagesreisen. Mit unseren schnellen Pferden brauchten wir nicht so lange Zeit, und darum fiel es uns nicht ein, den Ritt schon am Vormittag zu beginnen; wir ließen vielmehr gerade wie damals die größte Tageshitze vorüber und ritten, nachdem wir uns von unserem Wirt und seinem dicken Onbaschi verabschiedet hatten, den Fluss hinauf und über die Brücke zum rechten Tigrisufer.
Als wir von dort aus einen Blick zurücksandten, lag die Stadt, gerade wie damals, in hellem Sonnenglanz vor unseren Augen. Links sahen wir den Volksgarten, die von Midhat Pascha angelegte Pferdebahn und die Quarantäneanstalt, hierauf das Kastell und hart am Wasser das Gouvernementsgebäude; rechts lag die Vorstadt mit der alten Mostanßir. Dann dehnte sich die von Minaretts und Moscheekuppen überragte Häusermasse aus, über die sich der Dunst- und Staubschleier breitete, welcher Bagdad eigen ist.
Von hier aus wandten wir uns zum Oschach-Kanal, und als wir diesen hinter uns hatten, sahen wir vor uns die freie Wüste. Ja, es ist Wüste. Da, wo vor nicht gar langer Zeit Garten an Garten sich reihte, wo Tausende von Palmen winkten, Blumen dufteten und herrliche Früchte glänzten, da dehnt sich eine unabsehbare, trostlose Wüste westwärts bis an das Ufer des Euphrat aus.
Durch diese Einöde führte unser Weg erst zum Khan Asad und dann nach dem Khan Bir Nust, den wir kurz vor Abend erreichten. Im Khan selbst zu übernachten, fiel uns wegen des dortigen Ungeziefers nicht ein; wir suchten ihn nur auf, um unsere Pferde zu tränken, und ritten dann noch ein Stück in der Richtung zum Khan Iskenderije weiter, wo wir abstiegen, die Tiere anpflockten und unsere Decken zum Lager ausbreiteten.
Wir hatten bis hierher keinen einzigen schiitischen Pilger und keinen einzigen Leichentransport gesehen, dennoch sagte Halef, als wir uns nebeneinander niedergesetzt hatten:
„Sihdi, riechst du nichts? Mir ist ganz so, als ob wir uns im Pesthauch der Todeskarawane befänden. Geht es dir nicht auch so?“
„Ja, ganz genau wie dir“, antwortete ich. „Die Erinnerung wirkt auf unsere Geruchsnerven. Ich sehe die Todeskarawane nicht bloß an mir vorüberziehen, sondern ich rieche sie auch. Es war entsetzlich damals, ganz entsetzlich, und es ist kein Wunder, dass unsere Nasen den Leichenduft, welcher ihnen damals zu grausam mitspielte, heute noch nicht vergessen haben.“
Todeskarawane, Karwan el Amwat, wie der Beduine sagt, was ist das?
Der Mohammedaner schiitischen Glaubens ist überzeugt, dass ein jeder Moslem dieser Sekte, dessen Leiche in Kerbela oder Nedschef Ali begraben wird, ohne alle weiteren Hindernisse sofort in das Paradies komme. Bekanntlich zerfallen die Anhänger des Islam in die beiden Abteilungen der Sunniten und Schiiten. Das Wort Sunna, zu deutsch ‚Weg‘ oder ‚Richtung‘, bezeichnet alle auf eine Tat oder einen Ausspruch Mohammeds bezüglichen Traditionen, die für solche Fälle, in denen der Koran sich entweder gar nicht oder undeutlich ausspricht, als Gesetze Geltung haben. Die Sunna bildet also für ihre Anhänger neben dem Koran die hauptsächlichste Quelle der Religions- und Lebensvorschriften. Nebenbei, doch ebenso hauptsächlicherweise unterscheiden sich die Sunniten von den andersgläubigen Mohammedanern auch dadurch, dass sie die drei Kalifen Abu Bekr, Omar und Othman als rechtmäßige Nachfolger des Propheten anerkennen. Zu ihnen gehören fast alle Moslems in Afrika, auch Ägypten, in der Türkei, in Syrien, Arabien und in der Tatarei. – Schia heißt so viel wie ‚Partei‘. Die Schiiten verwerfen die genannten drei Kalifen und behaupten, nur Ali und seinen Nachkommen habe die Kalifenwürde gebührt. Sie sind meist über Persien und Indien verbreitet, während sie in anderen Ländern nur vereinzelt vorkommen. Man schätzt sie auf zwanzig Millionen, während es über zweihundert Millionen Sunniten gibt.
Die Schiiten widmen Ali und seinen Nachkommen, besonders aber seinen Söhnen Hassan und Husseïn, eine so übertriebene und dabei leidenschaftliche Verehrung, dass er und alle zu seiner Nachfolge berechtigten Nachkömmlinge von einigen extremen Parteien sogar für Inkarnationen Gottes gehalten werden. Sie haben, obgleich sie das nicht zugeben, die ursprüngliche Lehre durch mystische und pantheistische Hineinlegungen verfälscht und stellen die Behauptung auf, dass die Sunniten zu vernichten oder doch noch viel mehr als die Juden, Christen und Heiden zu hassen und zu verfolgen seien. Daher die jahrhundertealten, erbitterten und blutigen Kämpfe zwischen diesen beiden Richtungen. Es ist Blut, sehr viel Blut geflossen, es sind Grausamkeiten verübt worden, welche niederzuschreiben sich die Feder sträubt, und noch heute ist dieser Hass nicht verlöscht. Er glimmt fort und fort und bricht bei jeder Veranlassung in helle, vernichtende Flammen aus. Es versteht sich ganz von selbst, dass diese Erbitterung ihre meisten Opfer in den Gegenden sucht und findet, wo Sunniten und Schiiten vermischt wohnen oder öfters aufeinander stoßen, und das findet ganz besonders statt in der Grenzprovinz Irak Arabi mit den beiden nicht weit von Bagdad liegenden heiligen schiitischen Städten Nedschef Ali und Kerbela.
Die erstere Stadt hat ihren Namen von dem in der Nähe liegenden Nedschef-See erhalten und wird auch Meschhed Ali, das heißt Grabmal Alis, genannt, weil dieser da begraben worden ist. Sie ist ungefähr fünfzig Kilometer südlich der Ruinen von Babylon gelegen, auf welchem Weg man auch über das Dorf Kefil kommt, wo sich die Ruhestätte des Propheten Hesekiel befindet. Kerbela, auch Meschhed Husseïn, also Grabmal Husseïns, genannt, ist die Hauptstadt eines Sandschak, zählt über sechzigtausend Einwohner und soll an Reichtum Bagdad weit übertreffen. Es wird durch einen Kanal mit dem rechten Euphratufer verbunden und bildet den hervorragendsten Wallfahrtsort der Schiiten, von denen es noch heiliger als Nedschef Ali gehalten wird.
Es ist nicht meine Absicht, auf die ersten Kämpfe zwischen Sunniten und Schiiten und den Tod Alis und seiner Söhne Hassan und Husseïn einzugehen. Es genügt zu sagen, dass, wie wir auch noch sehen werden, die Gedenkzeit an Husseïns Tod von den Schiiten mit größter Leidenschaft begangen wird, und zu wiederholen, dass die Bekenner der Schia die Überzeugung hegen, ein jeder ihrer Anhänger gehe sofort in den Himmel ein, falls er in einer der beiden Städte begraben werde.
Aus diesem Grund ist es der heißeste Wunsch eines jeden Schitten, in dieser heiligen Erde ruhen zu dürfen; aber da die meisten Schiiten in Persien und gar Indien leben und der weite Transport der Leichen also ein außerordentlich kostspieliger ist, so ist es nur dem Reichen möglich, nach seinem Tod nach Kerbela oder Nedschef Ali geschafft und dort beerdigt zu werden. Der Arme aber muss sich selbst transportieren, das heißt, er nimmt von seinen Angehörigen für immer Abschied und bettelt sich unter allen möglichen Anstrengungen und Leiden durch die weiten Länderstrecken zum fernen Ziel seiner Wanderung und seines Lebens, um dort dann seinen Tod zu erwarten.
Diese Wanderungen kommen zu jeder Jahreszeit vor und erstrecken sich meist auf ganz bestimmte Wege, welche gebräuchlich geworden sind, weil sie sich als die besten und kürzesten erwiesen haben; auch sind gewisse Strecken, Richtungen oder Abweichungen von den Behörden vorgeschrieben. Diese Wege gleichen einem Fluss-System: Das Gebiet der Quellen, Bäche und einzelnen Wasserläufe ist weit ausgebreitet, dann nähern sich die Zuflüsse einander nach und nach, um die Nebenarme zu bilden, welche sich später zum Hauptstrom vereinigen. Je weiter entfernt desto unbedeutender, aber zahlreicher sind die Wasser; je näher dem Ziel desto geringer wird wird zwar ihre Zahl, aber desto bedeutender sind sie geworden, bis sie endlich alle vereinigt im Hauptbett als mächtiger Fluss der Mündung entgegenrauschen. Ebenso ist es auch mit dem Menschenstrom, den diese Pilgerwanderungen bilden: Die einzelnen schiitischen Wanderer, denen man in den fern liegenden Gegenden begegnet, finden sich an gewissen Vereinigungspunkten zusammen und bilden da Gesellschaften, die sich an weiterliegenden Knotenpunkten vereinigen, um dann von rechts und links immer neue Zuflüsse aufzunehmen, bis sie zu bedeutenden Zügen anwachsen und schließlich die großen, gefürchteten Todeskarawanen ergeben, gefürchtet deshalb, weil sie nicht nur aus dem verkommensten, zu allen Schandtaten fähigen Menschenmaterial, sondern auch aus den zahlreichen Leichentransporten bestehen, die sich ihnen angeschlossen haben. Man denke sich Hunderte und Hunderte von toten Menschenkörpern, welche nur in dünne Decken gewickelt sind oder in längst zerbrochenen Särgen liegen; seit Monaten unterwegs, sind sie dem glühenden Sonnenbrand und allen Einwirkungen der langen Reise und des Wetters ausgesetzt gewesen; sie befinden sich also in allen möglichen Graden der Verwesung und verbreiten einen Gestank, den jeder Windhauch stundenweit verbreitet....