Wenn man auf der Karte von Mainz eine Gerade bis Kreuznach zieht, so berührt diese Linie den Namen eines Dörfchens, das der Sitz einer Oberförsterei ist. Sie bildet ein geräumiges, schlossähnliches Gebäude, das vor Jahrhunderten für eine zahlreichere Bewohnerschaft gebaut worden war als jene, die es im Jahr 1848 belebte.
Dem hier wohnenden alten Oberförster Rodenstein war es in dem grauen Schloss mit der Zeit zu einsam geworden und so bat er eine entfernte Verwandte, mit ihrer Tochter zu ihm zu ziehen. Diese Verwandte, eine Frau Sternau, war die Mutter Doktor Karl Sternaus. Sie war seit langer Zeit Witwe und erfüllte daher nicht ungern den Wunsch ihres Verwandten, der gewöhnlich Herr Hauptmann genannt wurde, weil er diesen Grad bei der Landwehr bekleidet hatte.
Auf einem kleinen Vorwerk, das eigentlich eher ein Vorhof des Schlosses genannt werden konnte, wohnte die kleine Familie des Steuermannes Unger. Diese Familie bestand außer dem viel abwesenden Vater nur aus Frau Unger und einem achtjährigen Sohn, dem kleinen Kurt, der ein großer Tausendsassa und zugleich der erklärte Liebling sämtlicher Schlossbewohner war.
Es war an einem frühen Morgen, da saß der Herr Hauptmann in seinem Amtszimmer und rechnete Tabellen aus. Das war die Arbeit, die er am wenigsten liebte, und darum lagen schwere Wetterwolken auf seiner Stirn, und aus seinen Augen hätte es gern aufgeblitzt, wenn er nur jemand gehabt hätte, den diese Blitze treffen konnten.
Da klopfte es an die Tür.
„Herrrrrrrein!“, befahl Rodenstein.
Die Tür öffnete sich und der Forstgehilfe Ludwig Straubenberger trat ein. Er war die rechte Hand, das Faktotum des Oberförsters und hatte dessen Licht- und Schattenseiten an erster Stelle zu empfinden. Da er in der Kompanie des Herrn Hauptmanns gedient hatte und von dieser Zeit her an militärische Ordnung gewöhnt war, blieb er mit zusammengeschlagenen Absätzen an der Tür stehen, ohne zu grüßen.
„Nun?“, knurrte der Oberförster.
„Guten Morgen, Herr Hauptmann.“
„’n Morgen! Verdammtes Zeug!“
„Was? Die Holzdiebe?“
„Holzdiebe! Dummheit! Die Tabellen meine ich!“
„Ja, das ist verdammtes Zeug, noch viel schlimmer als die Holzdiebe dahier. Ich bin froh, dass ich nicht Oberförster bin, da lassen sie mich mit den Tabellen in Ruhe!“
„Ha! Du und Oberförster!“, knurrte Rodenstein grimmig. „Würdest auch außer den Tabellen lauter Dummheiten machen! Was bringst du?“
„Es ist ein Herr unten, der mit dem Herrn Hauptmann sprechen will. Er will sich nur dem Herrn Hauptmann selber nennen.“
„Blödsinn! Na, schicke ihn herauf!“
„Zu Befehl, Herr Hauptmann!“
Ludwig entfernte sich und bald trat der Fremde ein, ein langer, dürrer Mensch, der eine große Brille auf der Hakennase trug. Er benahm sich, als sei er hier zu Hause, und fragte gemütlich:
„Sie sind der Oberförster Rodenstein?“
Jetzt endlich hatte Rodenstein eine triftige Veranlassung, seine Blitze an den Mann zu bringen. Er stand auf, öffnete die Tür und winkte hinaus:
„Treten Sie noch einmal zurück!“
„Warum?“
„Warum? Nun, sehr einfach, weil ich es wünsche.“
„Aber ich sehe doch keinen...“
„Hinaus!“, unterbrach ihn der Hauptmann mit einer Stimme, die dem Fremden durch alle Glieder fuhr.
„Nun, wenn Sie es wünschen, so kann ich es ja tun.“ Mit diesen Worten zog er sich bis vor den Eingang zurück.
„So ist es recht“, sagte der Oberförster. „Nun, bitte, treten Sie nochmals ein und grüßen Sie, wie es jeder anständige Mensch zu machen hat, selbst wenn er zu einem Taglöhner kommt.“
Damit schob er den Mann noch weiter hinaus in den Gang und zog die Tür zu. Es dauerte eine Minute, dann klopfte es.
„Herein!“, rief Rodenstein.
Der Fremde öffnete und trat ein. Der höhnische Zug um seinen Mund bewies deutlich, dass er die jetzige Demütigung nur als vorläufig betrachte.
„Herr Oberförster“, sagte er, „ich habe meine guten Gründe, Ihnen nachzugeben. Ich wünsche Ihnen also einen guten Morgen.“
„Guten Morgen! Was weiter?“
„Darf ich Sie um eine amtliche Unterredung bitten? Ich bin großherzoglich-hessischer Polizeikommissar.“
„Ich habe nicht viel Zeit übrig, machen wir es also kurz! Setzen Sie sich! Was wollen Sie?“
„Hier wohnt eine gewisse Frau Sternau?“
„Ja.“
„Mit ihrer Tochter?“
„Ja.“
„In welcher Eigenschaft?“
„Donnerwetter! In der Eigenschaft als Menschen wohnen sie hier bei mir. Punktum!“
„Ich muss Sie aufmerksam machen, dass ich befugt bin, mir höfliche Antworten zu erbitten.“
„Die bekommen Sie ja, Herr großherzoglich-hessischer Polizeikommissarius!“
„Sind außer dieser Tochter noch Kinder da?“
„Kinder nicht, aber ein Sohn. Er ist Arzt.“
„Wo?“
„Hören Sie, ich habe weder Zeit noch Lust, ein Verhör mit mir anstellen zu lassen, dessen Zweck ich nicht kenne. Was ist mit Doktor Sternau?“
„Er wird steckbrieflich verfolgt.“
„Steck – brief – lich!“, rief der Hauptmann. „Wie kommen Sie mir vor?“
„Ich sage die Wahrheit. Ma...