Der Blick aus meinem Fenster
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Der Blick aus meinem Fenster

Essays

  1. 288 Seiten
  2. German
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Essays

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Bletschacher, ehemaliger Chefdramaturg an der Wiener Staatsoper, ist als Regisseur, Maler und Autor zahlreicher Operntexte, Schauspiele, Erzählungen sowie musikwissenschaftlicher Studien tätig. Ebenso vielfältig spannt er den Bogen der kulturellen Themen in seinem neuen Essay-Band: von seinem Geburtsort Füssen am Lech über das barocke Wien mit seinem ersten Theaterbau in der Wiener Hofburg, bis zu zeitgenössischen Persönlichkeiten aus dem Umfeld des Theaters und der Bildenden Kunst. Ein beträchtlicher Teil des Buches ist grundsätzlichen Überlegungen zu unserer gesellschaftlichen Entwicklung gewidmet.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783990122457
GIORGIONE DA CASTELFRANCO
I
Es haben in den beiden letztvergangenen Jahrhunderten zahllose Exegeten sich an die verführerische Aufgabe gemacht, die von ihren Vorgängern im Werk Giorgiones da Castelfranco aufgespürten Rätsel zu lösen oder selbst neue darin zu entdecken. Keiner hat sie so recht zu entschlüsseln vermocht. Und so lag auch die Vermutung nicht fern, dass man vergebens suchen würde, wo nichts verheimlicht worden sei. Der Mann hat wie kein zweiter zu solchen Mühen verleitet, denn er ist so rasch hervorgekommen aus dem Dunkel einer anonymen Herkunft, wie er wieder verschwunden ist. Zu Lebzeiten hat man seiner nicht recht habhaft werden können. Er ist eine jener wundersamen Gestalten in der Geschichte unserer Kultur, die nie gealtert sind. Wir haben sie im Glanz ihrer Jugend im Gedächtnis bewahrt. In jeder der Künste gibt es ihrer kaum eine Handvoll, ein jeder kennt ihre Namen. Sie sind uns in einer besonderen Weise teuer; denn wir meinen, dass es ihnen hätte gegeben sein können, uns auch das Unsagbare noch zu sagen; wir meinen, dass wir Wunder von ihnen hätten erwarten können, Wunder, die von unsereinem nicht zu beschreiben sind. Ihr Tod schmerzt uns und wir trauern um sie, als hätten wir mit ihnen ein Kind verloren, das einst alles das hätte vollbringen können, was wir selbst zu tun nicht befähigt waren. In fast allen dem Giorgione mit Gewissheit zugeschriebenen Bildern scheint so etwas wie eine Erzählung angedeutet zu sein, die kein rechtes Ende hat. Man ist versucht sie in Gedanken zu vollenden und weiß doch nicht wie. Das reizt die Rätsellöser, die nicht bedenken, dass sie mit einer vorgeschlagenen Lösung mehr verderben als gewinnen. Über Giorgiones schmalem Werk liegt etwas wie eine Traumverlorenheit, ein Schleier von Melancholie, als wäre in ihnen die Trauer über ein allzu kurz bemessenes und eben darum mit aller Sinnenlust verzehrtes Leben Gestalt geworden. Wer das einmal verspürt hat, kann sich von diesen Bildern nicht lösen. Mir sind die beiden Verse August von Platens bei ihrem Anblick oft in den Sinn gekommen, die da lauten:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben.
Und so ist es mir stets als ein besonderer Glücksfall erschienen, dass sich im Kunsthistorischen Museum von Wien einige der großartigsten Gemälde Giorgiones befinden: Die drei Philosophen, Die Anbetung der Hirten, Laura, Der Knabe mit dem Pfeil, Der Krieger, das Bildnis des Francesco Maria della Rovere und Der Bravo, das Letztere ein Bild, das, als ich es zum ersten Mal sah, als düsteres Beispiel von Giorgiones ungewöhnlicher Einfühlungsgabe galt, und das seit einigen Jahren nun doch dem alles verschlingenden Werk des Tizian zugeordnet wird. Vor diesen Gemälden bin ich als junger Mann oft staunend gestanden und habe mehr als einmal den Vorsatz gefasst, meine Verehrung für den früh vollendeten Maler in Worte zu fassen. Je mehr ich mich jedoch mit den über die Jahrhunderte ins Unermessliche angehäuften Untersuchungen und Rätselratereien der Kunsthistoriker, Kustoden und Restauratoren eben zum Thema der venezianischen Malerei beschäftigte, umso klarer erkannte ich, dass dies eine Arbeit war, die mit wissenschaftlichem Anspruch von mir, der ich auf anderen Gebieten vollauf beschäftigt war, nicht zu leisten sein würde. Allein die Reisen zu den Aufbewahrungsorten seiner Werke hätten mich überfordert. Auch musste ich zur Kenntnis nehmen, dass manche der aufgerichteten Hypothesen zu Giorgiones Werk mit einem Emportement verteidigt, bestritten und bald schon durch neue ersetzt wurden, dem es als Sakrileg erscheinen musste, wenn einer unberufen sich eindrängte in den Streit der Gelehrten. Und in der Tat besteht heute gut die Hälfte aller über den Gegenstand verfassten Texte in Verweisen auf andere Texte und Nennungen von Verfassern, ganz zu schweigen von den angefügten wissenschaftlichen Apparaten. Der Rang eines Schriftgelehrten wird neuerdings allen akademischen Ernstes ausgemacht durch die Zahl der Zitierungen seines Namens. So wichtig dies sein mag und so unbestreitbar der Nutzen auch für die Geschichte nicht nur der Kunst, sondern auch des Handwerks der Malerei ist, so war dies doch nichts, wozu ich betragen wollte. Mein Interesse galt dem Künstler, nicht seinen Interpreten. Und mehr noch als dem Maler galt es dem Werk. In den Streit der Meinungen einzugreifen, war nicht meine Absicht. So scheute ich mich lange, meiner Dankbarkeit Ausdruck zu geben vor einer Kunst, die mir die Augen geöffnet und mein Leben bereichert hatte.
Nachdem jedoch in den Jahren 2003 und 2007 in Wien zuerst eine Ausstellung zum Werk Giorgiones und danach eine zur venezianischen Malerei mir zum ersten Male die Möglichkeit gegeben hatten, manche Gemälde, die ich zuvor noch nie oder nur in unzulänglichen Abbildungen gesehen hatte, mit eigenen Augen zu betrachten, erwachte mein alter süchtiger Wunsch aufs Neue. Nun also entledige ich mich meiner Zweifel und Bedenken und versuche zu tun, was zu tun mich lange verlangte. Ich hoffe, man wird mir die mangelnde Kenntnis mancher Ergebnisse neuester Verabredungen nicht verübeln und meinen Beitrag zum viel besprochenen Thema als mehr literarischen und weniger wissenschaftlichen Versuch gelten lassen. Dabei werde ich mich vor allem bemühen, die bislang erforschten Fakten zu benennen, und die psychologischen Rätselratereien den Betrachtern der unvergleichlichen Gemälde überlassen. Um allen Vorhaltungen der akademischen Fachwelt aus dem Wege zu gehen, danke ich den Autoren, auf deren Schultern ich stehe, summarisch. Als meine Gewährsmänner werde ich nur die frühesten Zeugen namentlich anführen, beginnend beim Zeitgenossen, dem Grafen Baldassare Castiglione, dann beim Autor des Dialogo della pittura aus dem Jahre 1548, Paolo Pino, dann fortfahrend beim ersten Biographen, dem Maler Giorgio Vasari, und beim Sammler Marcantonio Michiel, der Katalog führte über die zahlreichen von ihm besichtigten Gemälde im venezianischen Umkreis – wobei diese beiden schon der nächstfolgenden Generation angehören –, und werde danach nur noch die Inventare der Sammlungen der venezianischen Patrizier Vendramin, Grimani und Bartolomeo della Nave anführen sowie einen Chronisten aus dem 17. Jahrhundert, der wohl noch manches aus erster oder zweiter Hand erfahren haben mag: Carlo Ridolfi, dessen Maraviglie dell’Arte 1648 in Venedig ediert wurden. Die Literatur über Giorgione beginnt erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu wuchern, dann jedoch so üppig, dass sie seither zu einem Gestrüpp von wenigen Fakten und zahllosen Meinungen herangewachsen ist, das zu durchschauen oder gar zu durchdringen mir nicht nur der Mut, sondern auch der Überblick fehlt.
Beginnen werde ich meinen Versuch einer Annäherung an Giorgione mit einer kurzen Darlegung der gesicherten Erkenntnisse zur Biographie unseres Meisters, dem soll eine notgedrungen unvollständige Aufzählung und Beschreibung der ihm zugeschriebenen Werke folgen, und den Abschluss soll eine Betrachtung seines Handwerks und der ihm eigenen Mittel bilden, über die Wunder der sichtbaren Welt mit Hilfe von Pinsel und Farben aus seinem Innersten zu uns zu sprechen.
II
Giorgiones kurzes Leben fällt zusammen mit den ersten Jahren des großen Jahrhunderts der Wiederbelebung der bildenden Künste durch die Neuentdeckung der Meisterwerke der Antike; es fällt insbesondere zusammen mit dem großen Jahrzehnt der Renaissance der italienischen Malerei. Durch die aus Flandern eingeführte Technik der Verwendung von Öl anstelle von Eiweiß zur Mischung und Bindung der Farben und durch die Erschließung neuer Motive und Bildformate gewann die Malkunst um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert in der reichen Handelsstadt Venedig ein erneuertes Leben. Die Zuwanderung byzantinischer Gelehrter und Künstler nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken im Mai 1453 brachte neue Impulse. Und es ist nicht zu bestreiten, dass auch der Aufenthalt eines einzelnen Mannes, des Sizilianers Antonello da Messina, während der siebziger Jahre in der Lagunenstadt und seine Kunst der Vermenschlichung heroischer oder sakraler Themen wichtige Anregungen gaben. Die auf dem Gipfelpunkt ihrer Macht stehende Herrscherin der Meere, trat mit einer Generation von Künstlern erster Ordnung nun auch auf den Gebieten der bildenden Kunst, der Literatur und bald auch der Musik in Wettstreit mit den kulturellen Großmächten Rom und Florenz. Die Stadt beherbergte in jenen Jahren eine Bevölkerung von etwas über 100.000 Menschen und herrschte nicht nur über das Gebiet des damals noch weit ins Lombardische reichenden Veneto, über Friaul, Istrien und Dalmatien, sondern auch über zahlreiche Inseln und Küstenstädte im östlichen Mittelmeer. Sie trieb Handel darüber hinaus mit der damals erforschten Welt. Unermesslicher Reichtum mehrte sich in ihren Warenhäusern und Palästen. Künstler aus allen Provinzen wanderten auf die Insel in der Lagune. Es ist gewiss eine der größten Epochen abendländischer Kunst, die sich nun rasch aufblühend vor allem in der Malerei der großen Venezianer offenbarte. Bereits die Meister des ausgehenden Quatrocento, allen voran der Vater Jacopo und die Söhne Gentile und Giovanni Bellini und der ihnen verschwägerte Andrea Mantegna, sowie Vittore Carpaccio und Cima da Conegliano mussten zu den bedeutendsten Malern ihrer Epoche gezählt werden. Doch die unübertroffenen Meisterwerke ihrer Kunst schufen die Künstler der nachfolgenden Generation: Giorgione da Castelfranco, Tiziano Vecellio, Sebastiano del Piombo, Lorenzo Lotto und Palma Vecchio. Denen folgte eine zweite, kaum weniger fruchtbare Generation mit Tintoretto, Bordone, Palma Giovane, Savoldo und Veronese. Von den Meistern ihrer Zunft sind damit, um nicht zu verwirren, nur wenige aufgeführt, und aus ihnen hervorgehoben sei, auch wenn der Ruhm des großen Tizian seit Jahrhunderten alle anderen überstrahlt, hier nur der eine: Giorgione da Castelfranco.
Von seinem Leben haben sich nur wenige Daten in Dokumenten niedergeschlagen. Nicht mehr als eine Handvoll Zahlen werden genannt. Alles andere beruht auf mehr oder weniger vertrauenswürdigen Behauptungen oder Schlussfolgerungen. Folgt man dem Biographen Giorgio Vasasi, der sehr vieles, aber nicht immer alles sehr gründlich erforscht hat, so muss man die Geburt Giorgiones entweder in das Jahr 1477 oder in das folgende 1478 legen. Vasari errechnete es aus einem Alter von angeblich vierunddreißig Jahren in seinem Todesjahr. Wenn wir heute nachrechnen und das von ihm fälschlich mit 1511 angegebene Todesjahr auf 1510 korrigieren, so kommen wir auf ein anderes Alter oder auf ein anderes Geburtsjahr. Heute nennt man allgemein eine Lebenszeit von 1478 bis 1510 und ein Alter von 32 Jahren, ohne sichere Beweise anführen zu können. Er sei, wie Vasari schreibt, von niederer Herkunft, „di humilissima stirpe“ in Castelfranco geboren, einem Ort im Veneto etwa zwanzig Kilometer westlich von Venedig und ebenso weit nördlich von Padua gelegen. Sein Familienname ist nicht bekannt, und so kann auch in den Urkunden der Provinz Treviso, zu der Castelfranco gehört, nichts über seine Verwandtschaft, Patenschaft oder Erziehung ausgeforscht werden. Es ist nicht ganz klar, wann der Taufname Giorgio umgewandelt wurde in die Vergrößerungsform Giorgione. Vielleicht geschah es erst nach seinem Tod. Man hat unter anderem auch auf eine jüdische Herkunft oder Erziehung geraten, ebensogut könnte man jedoch seine Aufnahme als Waisenkind in einem Kloster behaupten. Beides ist gleich unwahrscheinlich, denn Giorgione erhielt vergleichsweise wenige Aufträge für alttestamentarische oder christliche Themen und hat sich, soweit man dies weiß, später in Venedig weder in kirchlichen noch in jüdischen Kreisen in einer über das Übliche hinausgehenden Weise bewegt. Wenn man die Reihe seiner Auftraggeber betrachtet, könnte man mit besseren Gründen auch eine adelige Herkunft vermuten, denn der junge Mann war laut Vasari in den Häusern der vornehmsten Familien wohlgelitten, war stets freundlich und von gutem Benehmen und wurde als Lautenspieler und Sänger zu vielen Festen geladen. Auch der erste Auftrag, von dem wir erfahren, erging an ihn durch einen Aristokraten, der, aus Sizilien stammend und durch militärische Taten bis zum Vizekönig von Zypern aufgestiegen, sich in Castelfranco niedergelassen hatte. Die Juden hingegen wohnten in jenen Jahren nicht in Castelfranco und nicht in Venedig, sondern in Mestre und es wurde ihnen erst während der Wirren der kriegerischen Ereignisse von 1516 gestattet, auf der Insel Schutz und dauernde Bleibe im nunmehr sogenannten Ghetto zu suchen. Wir wollen uns nach diesem kurzen Hinweis nicht weiter an solchen Spekulationen beteiligen und begnügen uns mit der Annahme, dass er seine ersten Erfolge nicht so sehr seinen verwandtschaftlichen oder gesellschaftlichen Verbindungen, sondern seinen offenkundigen Talenten verdankte. Ob er diese geerbt hat, wissen wir nicht; es gibt jedoch eine nicht sehr zuverlässige Nachricht, dass sich nach ihm ein jüngerer Bruder mit den gleichen Ambitionen auf den Weg begeben habe von der provinziellen Heimat in die Weltstadt Venedig. Der hat nicht weiter von sich reden gemacht. Giorgiones Talent war nicht wiederholbar.
Wenn wir weiter Vasari folgen, so müssen wir annehmen, dass der junge Mann in eine berühmte Werkstatt als Lehrling aufgenommen wurde, in keine geringere nämlich als die Giovanni Bellinis, des unumschränkten Fürsten der venezianischen Malerei in der Epoche des ausgehenden 15. Jahrhunderts und Lehrers zahlreicher Schüler, die als sogenannte Belliniani an seinen Erfolgen Teilnahme suchten. Durch Dokumente bewiesen werden kann Vasaris Behauptung nicht. Der Biograph wurde erst 1521, elf Jahre nach Giorgiones Tod, geboren und kam 1541 und 1542 erstmals für mehrere Monate nach Venedig. Dabei hat er vermutlich Gelegenheit gesucht und gefunden, unter anderem mit Tizian zu sprechen, der etwa zehn Jahre jünger war als Giorgione und ebenfalls als Schüler Bellinis galt. Der hätte falsche Mutmaßungen gewiss berichtigt. Bei meinen Forschungen über die Werkstätten der Lautenmacher in Venedig und Padua habe ich feststellen können, dass die jungen Burschen bereits im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren oft auch aus weit entlegenen Orten in eine Lehre gegeben wurden. Man verließ sich dabei auf die Empfehlungen und die Aufsicht vorangegangener Landsleute.
Da die anderen venezianischen Maler keine denen des Giovanni Bellini vergleichbaren Werkstätten unterhielten, gibt es in diesem Fall keinen Anlass, an Vasaris Behauptung zu zweifeln. Der junge Giorgione dürfte demnach in den frühen neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts nach Venedig gekommen und in dessen Werkstatt eingetreten sein. Dort wird er seinen etwa gleichaltrigen Kollegen Vincenzo Catena und Lorenzo Lotto begegnet sein. Vasari folgend lesen wir nun weiter, dass sich der junge Mann zunächst vor allem dem Zeichnen widmete, „das er sehr schätzte und worin ihn die Natur so sehr begünstigte, dass er, da er die schönen Dinge der Welt liebte, nichts darstellen wollte als das, was er nach dem Leben malen konnte. Und so sehr war die Natur ihm zum Inhalt geworden und so weit ging er in ihrer Nachahmung, dass er nicht nur den Ruf erwarb, Gentile und Giovanni Bellini hierin zu übertreffen, sondern auch mit jenen in Wettstreit zu treten, die in der Toskana arbeiteten und die Repräsentanten des modernen Stiles waren.“ An der Durchsetzung dieses „stile moderno“ war Vasari, dem Mann aus Arezzo, vor allem gelegen. Mit dessen Repräsentanten hat er wohl vor allem Leonardo da Vinci gemeint. Und in der Tat zeigt sich ein ungewöhnlich starker Einfluss eben dieses Künstlers auf das gesamte spätere Werk unseres Meisters. In Venedigs Palästen sollen nach Notizen des kunstsinnigen Aristokraten Marcantonio Michiel damals drei Porträtbilder von Leonardos Hand zu sehen gewesen sein. Und wenn der junge Giorgione durch seine Kunst, seine musikalischen Talente und sein liebenswürdiges Wesen dort bald Zutritt erhalten und sogar, wie Vasari schreibt, durch zahlreiche Liebeshändel von sich reden gemacht hat, so wird er wohl auch alle Bemühung daran gesetzt haben, die Bilder des weithin berühmten Mannes mit eigenen Augen zu sehen. Im März 1500 besuchte Leonardo dann selbst die Stadt in der Lagune, um dem Rat der Zehn einige seiner Maschinen zur Verteidigung der von den Türken bedrohten Provinz Friaul vorzustellen. Offenbar waren damals bereits die ersten Vorzeichen auf die kriegerischen Ereignisse zu erkennen, welchen Venedig in den kommenden Jahren ausgesetzt werden sollte. Man kann sich nicht vorstellen, dass der Gast bei diesem Anlass nicht auch die Werkstätten der bekanntesten unter seinen Kollegen besucht haben sollte. Auch hat er sich in die Werkstatt eines Lautenmachers namens Gusnasco begeben. Hier oder dort wird vermutlich der junge Mann aus Castelfranco die Gelegenheit gefunden haben, dem Meister zu begegnen, der ihm danach zum wichtigsten Vorbild werden sollte. Spuren davon lassen sich bis in seine letzten Arbeiten finden. Tizian und Sebastiano hingegen waren um die Jahrhundertwende eben erst in die Lehre eingetreten und sicher noch zu jung, um aus einer solchen Begegnung Nutzen zu ziehen. Ihnen wurde die künstlerische Botschaft einige Jahre später durch ihren Lehrer Giorgione vermittelt.
Aus den frühen Schaffensjahren Giorgiones ist uns keine Nachricht erhalten. Das erste Gemälde, das man ihm heute mit einiger Gewissheit zuschreiben kann, ist in sein zwanzigstes Lebensjahr mit etwa 1498 zu datieren. Auch wird er als junger Mann noch hin und wieder in seine Heimatgemeinde zurückgekehrt sein, denn er hat dort zumindest zwei Beweise seines Könnens hinterlassen: die Arbeit an dem Fries in der Casa Marta und das Altarbild in der Kirche San Liberale, die beide mit guten Argumenten aus schriftlichen Urkunden in das Jahr 1503 datiert werden. Mit diesen Werken beginnt eine Epoche der frühen Reife, über welche uns bei Vasari nur allgemeine Hinweise erhalten sind. Die älteste zeitgenössische Nachricht überhaupt, die aus dem Leben Giorgiones schriftlich auf uns gekommen ist, wurde auf der Rückseite eines Bildes aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum gefunden. Dort steht zu lesen, dass Maestro Zorzo – so die venezianische Schreibweise für Giorgio – das Porträt am 1. Juni des Jahres 1506 mit eigener Hand geschaffen (was wohl heißen soll: beendet) habe, und zwar in der Werkstatt seines Kollegen Vincenzo Catena. Den haben wir bereits als Bellini-Schüler kennengelernt. Aus dieser vielleicht sogar eigenhändigen Beschriftung ist zu schließen, dass Giorgione im Alter von 28 Jahren zwar noch keine eigene Werkstatt besaß, jedoch als Meister eigene Aufträge annehmen und ausführen durfte. Den Akten der Scuola di San Rocco hat man seither entnehmen können, dass sich die Werkstatt Catenas im Pfarrsprengel von San Bartolomé befand. In der Bruderschaft Roccos, des Heiligen der Pilger und Pestkranken, versammelten sich neben den Künstlern einige Mitglieder der angesehensten Familien Venedigs. Man liest in den Listen die Namen Vendramin, Marcello, Loredan und Grimani. Dass Giorgione ebenso wie sein um ein paar Jahre älterer Freund Catena darin Mitglied war, ist denkbar, aber nicht erwiesen.
In den Archiven Venedigs ist ein Hinweis auf den ersten öffentlichen Auftrag an Giorgione gefunden worden. Der offenbar bereits hoch geschätzte Meister sollte für den Audienzsaal des Dogenpalastes ein Gemälde auf Leinwand liefern. Dafür wurden ihm in den Jahren 1507 und 1508 zwei Zahlungen angewiesen, die eine Summe von 35 Dukaten ergeben. Man weiß nichts über das Motiv oder die Größe des Bildes. Vielleicht handelte es sich um ein Porträt des Dogen Leonardo Loredan, von welchem Vasari später in lobenden Worten spricht, ohne es gesehen zu haben. Das Werk muss heute als verloren oder unter anderer Zuschreibung als unerkannt gelten. Im Senat war man offensichtlich zufrieden mit der gelieferten Arbeit und bedachte den jungen Künstler mit einer weiteren, diesmal umfänglicheren Aufgabe. Im Jahre 1505 war die Handelsniederlassung der deutschen Kaufleute am Rialto, der sogenannte Fondaco dei Tedeschi, durch ein Feuer zerstört worden. Der Wiederaufbau wurde 1508 vollendet. Giorgione erhielt den Auftrag, die Fassade des neuen Fondaco gegen den Canal Grande mit Fresken zu schmücken. Diese Arbeit führte er während der warmen Jahreszeit desselben Jahres zur allgemeinen Zufriedenheit aus. Im Oktober schon war sie abgeschlossen, und es wurde beim alten Bellini nachgefragt, wen man als Experten benennen solle, um die Höhe einer gerechten Bezahlung zu ermitteln. Die von der daraufhin eingesetzten Kommission vorgeschlagene Summe von 150 Dukaten wurde jedoch vom Senat auf 130 gekürzt und davon wurden wiederum nur 100 ausbezahlt. Den Folgeauftrag für die Freskierung der Straßenseite des Fondaco erhielt Tizian. Es heißt, Giorgione habe sich über dessen Erfolg verstimmt gezeigt, denn der eben erst großjährige Tizian war, nach einer Lehre bei Bellini, einer von Giorgiones eigenen „creati“, um ein Wort Vasaris zu gebrauchen, will heißen Schüler oder Gesellen, geworden. Man mag aus diesem Vorfall Verschiedenes schließen. Am wahrscheinlichsten dürfte sein, dass Giorgione über die Bezahlung seines Werkes nicht eben erfreut war, denn bis zu 100 Dukaten zahlte man auch für ein großes Gemälde, und dass er alles Weitere der Vermittlung des alten Bellini überließ. Sicher ist jedenfalls, dass das vertraute Verhältnis der beiden jungen Künstler dadurch nicht getrübt wurde.
Danach ist nur noch eine einzige zeitgenössische Nachricht über Giorgione auf uns gekommen. Es ist dies der oft zitierte Brief der Herzogin Isabella von Mantua an ihren Agenten in Venedig, Taddeo Albano, vom 25. Oktober und die Antwort Albanos vom 8. November 1510. Aus dem Schreiben Isabellas lesen wir, dass sie vom Tode des Malers erfahren hat und anfragen lässt, ob eines seiner Werke aus dem Nachlass zu erwerben sei. Sie hat dabei vor allem eine so genannte „nocte“ im Sinn, eine Arbeit, die ihr als „molto bella et singolare“ gepriesen werde. Albano bestätigt in seiner Antwort vom 8. November, dass Giorgione tatsächlich gestorben sei. Von dem erwähnten Nachtstück gebe es zwei Versionen, eine nicht ganz zu Ende geführte im Besitz des bekannten Aristokraten Taddeo Contarini, die andere, besser entworfene und ausgeführte, im Besitz eines gewissen Victorio Becharo. Beide Herren jedoch hätten zu verstehen gegeben, dass sie diese Werke um keinen Preis (per prezio nessuno“) verkaufen würden.
Wir wissen aus den Aufzeichnungen des Chronisten Sanudo, dass in Venedig im September 1510 die Pest ausgebrochen war, vermutlich eingeschleppt von den Truppen der Liga von Cambrai, mit der die Serenissima seit 1508 im Krieg lag. Die Seuche währte drei Wochen und erlosch so rasch, wie sie gekommen war. Giorgione fiel ihr zum Opfer. Das Datum seines Todes muss in die letzten Septembertage oder die ersten Tage des Oktober 1510 angesetzt werden. Da er selbst, wie aus den Grundbüchern zu ersehen ist, weder Haus noch Grund in Venedig besessen hat, ist nicht zu ermitteln, wo er gestorben ist. Unbekannt geblieben ist auch sein Grab, falls er ein eigenes gefunden hat und nicht in Hast und Schrecken wie viele andere Opfer in einem Massengrab beigesetzt wurde. Unbekannt ist auch, wer seine Erben waren. Immerhin aber wissen wir, dass seine Schüler oder Gesellen Tizian und Sebastiano del Piombo manche seiner unvollendeten Werke ergänzten, sei es im Auftrag der Erben, der Käufer oder aus eigenem Antrieb. Vielleicht geschah dies alles noch in Catenas Werkstatt. Danach herrscht Schweigen in den Urkunden, bis der Graf Castiglione in seinem seither berühmt gewordenen Werk Il Corteggiano im Jahre 1525 den Namen Giorgiones u...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titelei
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort – Der Blick aus meinem Fenster
  6. Die Lauten- und Geigenmacher des Füssener Landes und ihre Werkstätten in Italien
  7. Vom Vergessen und Wiederfinden des Mittelalters
  8. Ludwig van Beethovens einzige Oper Fidelio
  9. Vogelfangen im Salzkammergut
  10. Erste Unterweisungen in der sozialen Frage
  11. Vom Haben und Entbehren und vom Geben und Nehmen
  12. Giorgione da Castelfranco
  13. Zur Baugeschichte der Wiener Hoftheater
  14. Über die Kränze des Nachruhms. – In Erinnerung an Maria Reining
  15. Jean-Paul Sartres Theorien zu einem kritischen Theater
  16. Was heißt Fortschritt, wovon führt er fort, wo führt er hin?
  17. Die Wege der irischen Mönche im südlichen Germanien