Die Verirrungen des Philosophen
eBook - ePub

Die Verirrungen des Philosophen

  1. 314 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Die Verirrungen des Philosophen

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Knigges Entwicklungsroman erzählt die Lebensgeschichte des Philosophen Ludwig von Seelberg, einem die Menschen liebenden Kosmopolit, der immer wieder an seine Grenzen geführt wird.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Die Verirrungen des Philosophen von Adolf Freiherr von Knigge im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatur & Literatur Allgemein. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2012
ISBN
9783849629618

Seelbergs Geschäfte mit seinem Vormunde waren bald abgethan. Der rechtschaffene Mann hatte besser gewirthschaftet, als nur einmal der Mündel hätte erwarten können. Seine Güter, freilich nur zur Hälfte so beträchtlich als ehemals, waren doch schuldenfrey, und, was noch mehr ist, die Verwandten, welche durch den gewonnenen Prozeß in den Besitz der andern Hälfte gekommen waren, hatten eine beträchtliche Summe Geldes herausbezahlen müssen, welchen Umstand der kluge Vormund dem jungen Herrn verschwiegen und das Geld als einen Nothpfenning sorgfältig zurückgelegt hatte. Dieser Nothpfenning kam itzt grade zu gelegener Zeit; er reichte hin zu Bezahlung der akademischen Schulden, zu neuer Equipierung und die zu der anderthalbjährigen Reise bestimmten Kosten zu bestreiten. Auch wurde sogleich Anstalt zu Antretung dieser Reise gemacht; Seelberg ging deswegen zuerst nach Leipzig zurück, und sein angelegentlichstes Geschäft bey seiner Ankunft in dieser Stadt war, den Juden aufzusuchen und denselben zu befriedigen. Es versteht sich, daß er kaum eine Stunde im Gasthofe zubringen konnte, ohne daß unser Herr von Leuchtenburg von seiner Anwesenheit unterrichtet gewesen wäre; und da Dieser noch immer nicht wußte, wie die Sache mit Seelbergs und Luisens Bekanntschaft zusammenhing, und er doch einmal alles wissen mußte, so suchte er die persönliche Bekanntschaft unsers Helden zu machen. Dies erlangte er leicht an der Wirthstafel, und da fragte er dann so lange und drehete und wendete das Ding herum, bis er erfuhr, was er erfahren wollte, welches ihm um so weniger schwer wurde, da Seelberg dies für eine sehr gleichgültige Sache hielt und überhaupt von Natur nicht sehr zurückhaltend war. Auch entdeckte er dem Frager ohne Bedenken die jetzige Lage seiner Umstände und seinen Vorsatz, fremde Gegenden zu sehn, indem er hinzufügte: er wünschte, zu Verringerung der Unkosten, einen Gesellschafter zu finden, der mit ihm die Reise machte und einen Theil des Aufwandes bestritte. Leuchtenburg hatte wirklich die Absicht, in kurzer Zeit den nämlichen Plan auszuführen. Er war sein eigener Herr, nicht sehr reich, doch ziemlich vermögend und ein überaus guter Wirth. Diese Gelegenheit schien ihm zu vortheilhaft, als daß er sich nicht gleich hätte anbieten sollen, der Reisegefährte zu werden, und da er, wie alle Leute seiner Art, ein geschmeidiges Mundwerk führte und die Gabe hatte, auf kurze Zeit einzunehmen, Ludwig auch im Grunde keinen Freund, sondern nur einen Gesellschafter und einen Menschen suchte, der mitbezahlen konnte, so wurden sie bald ihres Handels einig. Ein paar Erkundigungen in der Stadt nach Leuchtenburgs Umständen waren hinlänglich (indes auch Dieser den Juden über den Punkt der empfangenen Bezahlung und den Wirth in Ansehung der Schwere der von Seelberg mitgebrachten Chatulle ad articulos vernommen hatte), die Sache richtig zu machen. Um noch völlig das Zutrauen seines Reisegefährten zu gewinnen, konnte sich endlich der Herr von Leuchtenburg nicht enthalten, Seelbergen, doch auf seine eigene Manier, im engsten Vertrauen die Geschichte von des Grafen Storrmann Durchreise durch Leipzig und wie derselbe bey dem Juden für ihn gutgesagt hätte, zu erzählen – Auf seine eigene Manier, denn nicht nur gedachte er mit keinem Worte Luisens und des zärtlichen Antheils, den Diese an der Begebenheit genommen, sondern er drehete auch die Sache auf eine Art (die solchen Personen sehr gewöhnlich ist, denn sie wollen alles gethan haben), daß die ganze Ehre der Handlung auf ihn selbst fiel: »Ich erfuhr«, sagte er, »von Ungefähr, daß Sie in Verlegenheit wären. Ich war grade nicht bey Gelde, und doch konnte ich es unmöglich zugeben, daß ein Mann von Ihrem Stande, Charakter und Vermögen einer solchen Kleinigkeit wegen unruhige Stunden haben sollte. Ich wendete mich also an meinen Vetter, den Grafen Storrmann, der grade hier durchreisete, und bat ihn, mich zu meinem Vorhaben durch seine Bürgschaft zu unterstützen. Ich wurde angenehm überrascht, als ich erfuhr, daß Sie alte Bekannte zusammen wären. Indessen wollten wir Beide nicht gern, daß Sie für einen so geringen Dienst uns danken sollten; daher wurde dem Juden befohlen, unsre Namen zu verschweigen. Zudem konnte sich der Graf nicht hier aufhalten – Sagen Sie nichts, mein Lieber! von Verbindlichkeit! Das kleine Häuflein der bessern, festen Männer muß sich einander beistehn – Und was ist denn das elende Geld in der Welt? Sie würden gewiß nicht weniger für einen andern Biedermann gethan haben.« Ludwig dankte, wie sich's versteht, seinem neuen Freunde für diese scheinbare Großmuth und war um so geneigter, ihm das ganze Verdienst davon zuzuschreiben, da er sehr kalt und mißtrauisch gegen Storrmann geworden war, theils durch die vor Zeiten von den beiden Livländern gegen denselben empfangenen widrigen Eindrücke, theils dadurch, daß Dieser gänzlich den Briefwechsel mit ihm abgebrochen hatte und nun sogar in der nämlichen Stadt zugleich mit ihm gewesen war, ohne ihn aufzusuchen, obgleich er die Ursachen von diesem Allen leicht in seiner eigenen Aufführung hätte finden können, wenn solche Menschen gerecht genug wären, dergleichen Betrachtungen anzustellen.
Es kam nun noch darauf an, festzusetzen, was für Städte und Länder unsre beiden Reisenden besuchen und welchen Weg sie nehmen wollten. Unter Leuten, die einen bestimmten Gegenstand zum Zweck ihrer Reise machen – und das sollte doch billig bey Jedem, der seine Heimath verläßt, um in fremden Gegenden umherzufahren, der Fall seyn – ist es freilich eine große Frage bey der Wahl eines Reisegesellschafters, ob den Gefährten grade die nämliche Absicht wie uns zum Auswandern bewegt und ob er diese seine Absicht auf unserm Wege gleichfalls erreichen kann. Allein bey jenen Beiden fiel diese Bedenklichkeit weg. Ludwig reisete mit der sehr gewöhnlichen, aber höchst unbestimmten Idee aus: Menschen zu sehn – gleich als wenn es nicht dabey wieder sehr verschiedene Arten, Zwecke, Gegenstände und Gesichtspunkte gäbe, zum Beispiel: den intellektuellen, den moralischen, den physischen, den in bürgerlichen Verbindungen lebenden, den korrumpierten, den religiösen, den ländlichen, den industriösen, den Handel treibenden, den gelehrten, den thörichten Menschen und unzählige andre Rücksichten, worauf der Beobachter sein Augenmerk heften kann – Leuchtenburg aber zog eigentlich nur auf das Anekdotensammlen aus, welches ein ebenso schmutziges und nicht so nützliches Geschäft als das Lumpensammlen und eine in unsern tadelsüchtigen Tagen nicht weniger übliche Art zu reisen ist, die aber wahrlich unserm Zeitalter nicht viel Ehre macht, wenngleich sie uns Reisebeschreibungen in dicken Bänden liefert. Man hat, glaube ich, kein Beispiel in alten Zeiten, daß ein einziger Mann, nachdem er in einigen Monaten einige fremde Länder durchrennt wäre, es gewagt hätte, nachher entscheidend zugleich von dem Zustande der Literatur, der Regierung, der Religion, der Künste, der Industrie, kurz! von Allem Nachricht zu geben – Das war unsern erleuchteten Zeiten vorbehalten. Freilich ist dies der sicherste Weg, wenn man seine herumschweifende Aufmerksamkeit auf so vielerley Arten von Dingen ausdehnt, in allen Örtern der Welt Stoff zu finden, ein leeres Gehirn und eine leere Schreibtafel zu beklecksen; allein das Herz wird durch solches Reisen nicht gebessert, der Kopf hingegen mit einem Chaos verwirrter Bilder angefüllt, und da bey der Menge der verschiedenen Gegenstände unmöglich alles genau geprüft werden kann, so wird Manches schief gesehn, grundfalsch oder wenigstens unbestimmt aufgeschnappt und der Welt wiedererzählt, wozu noch kömmt, daß ein solcher fahrender wilder Anekdotenjäger gewöhnlich ein Augenglas mit auf den Weg nimmt, welches aus einer geschmolzenen Komposition seiner Lieblingsideen geschliffen ist und durch welches er den Himmel und die Erde in allen Zonen beschauet, da dann dieser würdige, allsehende Polyhistor in allen Ecken sieht, was er darin sehn will, indem sein Glas die Gegenstände, von denen er nichts versteht, in solche Formen prismatisch umschafft, daß sie zu den Kindern seiner Fantasie passen. So findet der Mann, der von Regentenkritik angesteckt ist und aus Journalen erfahren hat, daß in einem gewissen Lande die Regierung sorglos und inkonsequent sey, wenn er in dies Land kömmt, tausend Dinge zu tadeln, die in seinem Vaterlande grade eben also sind, nur daß er dort nie achtsam darauf gewesen, weil Staatskunst nicht sein Fach war. Ich könnte ein paar sehr treffende Beispiele von der Art aus ganz neueren Zeiten anführen, wenn ich Lust hätte, mich ein wenig mit ungeschliffenen Halbgelehrten herumzuschimpfen, und wenn ich nicht in meiner Erzählung weitereilte – Also kurz! Beiden, Seelbergen und Leuchtenburgen war es ziemlich gleichgültig, welchen Weg sie nehmen möchten, daher beschlossen sie, durch Sachsen und Böhmen nach Österreich, von da durch Bayern, Schwaben, Franken und die Rheingegenden nach Frankreich, zuletzt aber nach Italien zu gehn. Seelberg bezahlte erst in Göttingen seine Schulden, wurde dort von seinem Gesellschafter aufgesucht und fuhr mit demselben und einem Jäger Namens Triller ab.

Ende des ersten Theils.

Zweiter Theil

Erstes Kapitel

Zuvörderst versichre ich, daß es mich herzlich freuet, den Helden meiner Geschichte endlich einmal mit Ehren über seine Universitätsjahre hinausgeführt zu haben. Man macht einigen unsrer neuern deutschen Schriftsteller nicht ohne Grund den Vorwurf, sie stellten in ihren Romanen nur Studentencharaktere dar, und meint, es sey doch etwas gar Langweiliges für einen gesetzten, vernünftigen Mann, wenn man ihn in keine andre Gesellschaft als solcher ungebildeten Menschen führte, die im Grunde noch gar keinen Charakter hätten. Indessen darf man sich darüber nicht wundern, wenn man bedenkt, daß die mehrsten Derer, die Romane schreiben, sowie überhaupt die mehrsten unsrer heutigen Büchermacher entweder selbst nur noch unbärtige Jünglinge oder Leute sind, die keine andre Welt als die akademische kennen. Das ist nun zwar bey mir der Fall nicht, folglich kann ich mich dieser Entschuldigung nicht bedienen, wenn man mein Buch wegen des nämlichen Fehlers anklagt; allein ich habe etwas viel Besseres, wie ich mir einbilde, zu meiner Rechtfertigung zu sagen. Der Zweck meines Buchs ist nämlich, zu zeigen, durch welche Modifikationen sich in meinem Helden Charakter, Neigungen, Gefühle und Systeme nach und nach geformt, entwickelt und ihn zum Denken und Handeln bestimmt haben. Da nun der Grund hierzu bey ihm so wie bey allen Menschen vorzüglich in den Kinder- und Jünglingsjahren gelegt worden, so mußte ich auch bey diesen Perioden seines Lebens mich länger aufhalten und in mehr Details eingehn, als ich in der Folge thun werde, indem ich entschlossen bin, von nun an die Zeiträume enger zusammenzufassen.
Um zu zeigen, daß es mir mit dieser Abkürzung ein wahrhafter Ernst ist, will ich Sie auch, hochgeneigte Leser! mit der genaueren Reisebeschreibung der beiden jungen Herrn von einer Stadt zur andern verschonen. Dagegen aber müssen Sie mir gestatten, damit ich mein Hauptaugenmerk nie aus dem Gesichte verliere, Ihnen, bevor wir weiter gehen, eine allgemeine Skizze von Seelbergs Charakter, wie er jetzt war, vorzulegen; und dann wollen wir sehen, auf welche gute und böse Wege ihn diese Stimmung in der größern Welt, in welche er nun trat, führte.
Ich habe im dreizehnten Kapitel des ersten Theils dieser Geschichte einen Unterschied festgesetzt unter zweierley Gattungen von Mißtrauen gegen Rechtschaffenheit und Treue und dabey erwähnt, daß Ludwig damals nur noch von jener unschuldigen Art von Unglauben an die Würde der Menschen angesteckt war, von dem Unglauben, der sich auf Selbsterkenntnis, auf Bewußtseyn eigener Schwäche gründet, sich aber dennoch mit Duldung, Bruderliebe und Wohlthätigkeit verträgt. Jetzt hingegen, da er von vermeintlichen Freunden so schändlich war betrogen worden und, wie er glaubte, auch nicht einen einzigen ganz edeln Menschen angetroffen hatte, jetzt bekam er täglich eine größere Meinung von seinem eigenen werthen Ich und eine schmählichere von andern Leuten. Er besuchte also fremde Städte und Länder so, wie ein neugieriger hartherziger Mann Narren-, Kranken- und Zuchthäuser besucht; nicht als Arzt und Philosoph, der die Krankheiten des Leibes und der Seele studieren will, um Mittel zur Hilfe, Besserung und Erleichterung zu finden, sondern als Einer, dem die Fratzen der Narren und die Verwünschungen der Eingekerkerten Spaß machen, indem er sich dabey seiner Gesundheit und seiner Sicherheit freuet. Er suchte aller Orten Genuß, Lust, Abwechselung. Es fiel ihm nicht mehr der Gedanke ein, für Andre zu leben, Andern zu dienen, sondern sein Ich war ihm der Mittelpunkt alles Wirkens. War er vorher, aus Temperamentshang und Mangel an Überlegung, freigebig und verschwenderisch gewesen, so fing er nun an, den Werth des Geldes kennenzulernen und, um nicht wieder in Verlegenheit kommen zu können, ein guter Wirth zu werden, das heißt bey solchen Menschen: da zu sparen, wo ihm das Geld keine sinnliche Freuden verschaffen konnte, um immer einen gespickten Beutel zu haben da, wo sich Gelegenheit fand, zu genießen und zu schwelgen. Hatten ihn aber vorher die Anforderungen seines reizbaren Körpers und seine verwöhnten Begierden ohne feine Auswahl zu allerley Ausschweifungen hingerissen, über welche ihm nach geschehener That mehrentheils seine Vernunft Vorwürfe machte, so kalkulierte er jetzt besser. Er sündigte mit Raffinement, mit Vorsatz, sooft für den sinnlichen Genuß üppige Freuden zu erwarten und keine gefährliche Folgen zu befürchten waren, und die Überzeugung, daß niemand ihm helfen könnte noch würde, wenn er Vermögen oder Gesundheit (denn er hatte ebenso nachtheilige Begriffe von der Geschicklichkeit der Ärzte als von der Gutwilligkeit der Reichen) aufopferte, hielt ihn jetzt von Handlungen zurück, gegen welche ehemals die Stimmen der Religion und der Tugend vergebens gewarnet hatten, denn für diese Stimmen hatte er kein Ohr mehr. Er glaubte nicht mehr an Unschuld und Tugend, weil diese Gefühle in ihm schliefen und der Umgang mit schlechten Menschen und das Lesen schlechter Bücher den Sinn dafür erstickt hatten. Was die Religion betrifft, so haben wir schon gehört, daß sie seit langer Zeit nicht mehr ein Gegenstand seiner warmen, innigen Herzensergießung, sondern seines kalten Raisonnements geworden war, und von dieser Periode an konnte man sagen, daß er den ersten Schritt zu seiner sittlichen Verschlimmerung gethan hatte; denn was vermag die bescheidene Vernunft gegen ein feuriges Temperament und gegen stürmische, unaufhörlich die sanftere Stimme überschreiende Begierden? Wie leicht wird nicht der Sophist mit jener fertigwerden, wenn seine Empfindungen gegen ihre Gründe streiten? Kurz! Raisonnement ist zu schwach gegen Leidenschaft, und sollen Religion und Tugend die bösen Begierden in uns ersticken, so müssen beide auch einen Grad von Leidenschaft in uns erregt haben, deren reines Feuer jede wilde Flamme niederschlägt. Nur ein von heiliger Liebe zu dem unendlich gütigen Vater durchdrungenes Herz kann sich von niedrigen, unedlen Trieben losreißen, und ein einziger Vorwurf des geängsteten Gewissens, wenn es uns sagt, daß wir uns der höchsten Liebe unwerth machen, der Liebe des Wesens, an welchem wir mit ganzer Seele hängen, und daß wir das heiligste, süßeste Band zwischen unserm Vater im Himmel und uns zerreißen, Ein solcher Vorwurf ist für Den, welcher je die Wonne dieses Verhältnisses geschmeckt hat, mächtiger, uns vom Bösen abzuhalten, als hundert Appellationen an die gesunde Vernunft. Ist nicht selbst im bürgerlichen Leben der Wunsch, Liebe und Zuneigung nicht zu verscherzen, ein schärferer Sporn, gut und freundlich zu handeln, als die Idee, die Gerechtigkeit nicht zu verletzen? Wir sind nun einmal sinnlich.
Sobald Seelberg erst eine gewisse habitude im Laster erlangt hatte, so suchte er auch Gründe hervor, welche die zuweilen sich erhebenden innern Anklagen widerlegen mochten, und schuf sich ein Lehrgebäude, bey welchem er als ein ehrlicher Mann – ausschweifen könnte, und da ihm hierbey die Religion, auch als System betrachtet, im Wege stand, so mußte dieselbe fortphilosophiert werden, welches nicht viel Mühe kostete, da der Schritt vom Zweifel zum Unglauben nicht groß ist und da ich (das gestehe ich frey) alle theoretische Beweise für die Echtheit der geoffenbarten Religion a priori, alle Beweise, die sich nicht auf das Gefühl des Herzens und die Erfahrung von der Wohlthätigkeit ihrer Lehren gründen, für unmöglich überzeugend zu führen halte. Ich meine wahrlich, die Dogmatik sey ein gänzlich unnützes Ding, wovon die guten Apostel, welche so herrliche Pflichten predigten, gar nichts gewußt haben. Ich meine ferner, wer überzeugt sey, daß die Lehre Jesu ihn glücklich machen könne, der bedürfe keines weitern Beweises für ihre Echtheit, und wer das nicht sey und ihre Kraft auch nicht praktisch an sich prüfen möge, für Den sey es wohl einerley, was er glaube. Auch habe ich noch immer gefunden, daß Der, welcher gradeweg und treu seine Christenpflichten erfüllte, sich's gar nicht einfallen ließ, über gewisse dunkle Lehren ängstlich nachzugrübeln, Beweise von Wundern, Weissagungen und dergleichen aufzusuchen; fuhr ihm aber einmal ein Zweifel von der Art durch den Kopf, so war er sehr bald damit fertig und überließ solche Grübeleien den Herrn Geistlichen, deren Fach das ist. Wo ich hingegen Unglauben oder gar Religionsspott fand, da traf ich auch immer unreine Sitten an, und so wie ein böser Nachdrucker sich ein Privilegium von eben dem Fürsten zu erschleichen weiß, der schon über das nämliche Buch, aber unter anderm Titel, dem rechtmäßigen Verleger ein ausschließliches Recht ertheilt hat, so erzwingen solche sogenannte Freigeister von der Vernunft, auf deren göttlichen Ursprung sie pochen, einen Freiheitsbrief gegen die deutlichen Dokumente, die der Schöpfer selbst in unser Herz geschrieben hat und wovon das, was in der Bibel steht, nur eine Kopie ist.
Sobald also Seelberg anfing regelmäßig auszuschweifen (wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen darf), und nachher, als er allen Glauben an Tugend und den Sinn für Unschuld und Rechtschaffenheit verlor, da verwandelten sich auch seine Religionszweifel in offenbare Verachtung und Verleugnung derselben. Einst hatte er darüber ein Gespräch mit einem redlichen frommen Geistlichen, zu dem er von Ungefähr in Gesellschaft gerieth – ich sage: von Ungefähr, denn er floh, und das thun gewöhnlich die Leute seiner Art, diesen ehrwürdigen Stand wie der Dieb den Polizeidiener. Nach mancherley Gesprächen über Religion, zu welchen er den Pfarrer nöthigte, forderte er ihn auf, indem er ausrief: »Sagen Sie mir doch, ob denn der Verbrecher weniger geworden sind, seit uns das Licht der Religion leuchtet? Sagen Sie mir doch, ob Sie der großen, edlen Thaten mehr aufweisen können und der Schurkereien und Schelmereien weniger seit der Zeit, da das Christenthum ausgebreitet ist, weniger als ehemals unter den blinden Heiden, den Griechen und Römern? Sagen Sie mir doch, ob vormals mehr Königsmorde, Straßen-, Kronen-, Länder- und Ehrenräubereien als gegenwärtig vorfielen? Sagen Sie mir doch, ob nicht in solchen Provinzen, in welchen am eifrigsten die christliche Re...

Inhaltsverzeichnis

  1. Adolf Knigge – Biografie und Bibliografie
  2. Die Verirrungen des Philosophen
  3. Erster Theil
  4. Zweiter Theil