Meisternovellen
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Meisternovellen

  1. 269 Seiten
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Meisternovellen

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Quellenangaben

Über dieses Buch

Emil Ertl war einer der bedeutendsten Vertreter des österreichischen Heimat- und Geschichtsromans. In seinen Werken beschreibt er die soziale Entwicklung Österreichs und des österreichischen Bürgertums zur Jahrhundertwende 1900.Dieses Buch umfasst 15 ausgesuchte Novellen aus seinem Gesamtwerk.Null Papier Verlag

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783962818951
Auflage
2

Der Salto mortale

In ei­ner Her­ren­ge­sell­schaft lenk­te sich das Ge­spräch auf eine ge­ra­de da­mals viel er­ör­ter­te Ge­richts­ver­hand­lung, in der ein an­ge­se­he­ner Mann, ein Fa­brik­di­rek­tor, zu ei­ner schwe­ren Ge­fäng­niss­tra­fe ver­ur­teilt wor­den war. Er hat­te im Drang der Ge­schäf­te oder aus Unacht­sam­keit es un­ter­las­sen, in sei­nem Be­trieb eine Schutz­vor­rich­tung an­zu­brin­gen, die ihm vom Ge­wer­be­in­spek­to­rat vor­ge­schrie­ben wor­den. Die Ver­säum­nis er­streck­te sich ei­gent­lich nur auf we­ni­ge Tage, dann wäre er dem be­hörd­li­chen Auf­trag ohne Zwei­fel nach­ge­kom­men. Aber das Un­glück woll­te es, daß ge­ra­de in die­sen Ta­gen zwei Ar­bei­ter, die sich üb­ri­gens der An­brin­gung je­ner Schutz­vor­rich­tung hart­nä­ckig wi­der­setzt hat­ten, weil sie über­flüs­sig und nur hin­der­lich sei, in die Ma­schi­ne ge­rie­ten, wo­bei der eine von ih­nen eine schwe­re Ver­stüm­me­lung er­litt, der an­de­re sei­ne Un­vor­sich­tig­keit gar mit dem Le­ben bü­ßen muß­te.
In­des­sen gab es, wie sehr man die­se Op­fer im­mer be­kla­gen moch­te, doch sol­che, die auch dem Fa­brik­di­rek­tor ihre Teil­nah­me nicht ver­sag­ten. Ins­be­son­de­re nahm in je­nem en­gen Krei­se ein Groß­kauf­mann in mitt­le­ren Jah­ren, der, schon von Haus aus wohl­ha­bend, durch ge­schäft­li­che Tüch­tig­keit hoch hin­auf­ge­kom­men war, ihn leb­haft in Schutz, in­dem er die An­sicht ver­trat, der Fa­brik­di­rek­tor sei zwar ge­wiß nicht ganz ohne Schuld ge­we­sen, den­noch aber kaum schul­di­ger als un­zäh­li­ge an­de­re, die sich in nichts von ihm un­ter­schie­den, als daß sie we­ni­ger Pech ge­habt hät­ten.
Ein hö­he­rer Be­am­ter, der für ein Mus­ter von Ta­del­lo­sig­keit galt und sich eben­falls in der Ge­sell­schaft be­fand, wi­der­sprach.
»Und selbst wenn Sie recht hät­ten,« sag­te er mit ei­nem An­flug von Un­ge­duld: »Daraus, daß man­cher Leicht­fer­ti­ge durch­rutscht, läßt sich doch nicht fol­gern, daß ein der Leicht­fer­tig­keit Über­wie­se­ner straf­los aus­ge­hen soll? Oder ge­hö­ren Sie zu de­nen, die Schuld über­haupt leug­nen, und wol­len Sie für al­les Ge­sche­hen statt der Men­schen den bö­sen Zu­fall ver­ant­wort­lich ma­chen?«
»Durchaus nicht!« wehr­te sich der an­de­re. »Aber die ge­sell­schaft­li­che Ach­tung, wie sie eine Ge­fäng­niss­tra­fe mit sich bringt, soll­te nach mei­nem Ge­fühl nur da ver­hängt wer­den, wo die Ab­sicht kei­ne ein­wand­freie war. Ein Ver­se­hen, ein vor­über­ge­hen­des Sich­ver­ges­sen muß nicht not­wen­dig eine Leicht­fer­tig­keit, ein Ver­säum­nis noch lan­ge kei­ne Ge­wis­sen­lo­sig­keit sein. Wohl man­cher un­ter uns hat in sei­nem Le­ben ein­mal einen schwa­chen Au­gen­blick ge­habt, in wel­chem er ir­gend et­was tat oder un­ter­ließ, wor­über er, woll­te es das Un­glück, hät­te strau­cheln, viel­leicht so­gar den Hals bre­chen kön­nen ... Ich selbst«, sag­te er nach­denk­lich ge­wor­den, »er­in­ne­re mich ei­ner kitz­li­chen Sa­che, de­ren Fol­gen gar nicht ab­zu­se­hen ge­we­sen wä­ren, wenn – ja, wenn sie ein­ge­tre­ten wä­ren. Sie blie­ben aus, und ich kam mit dem Schre­cken da­von. Aber es wäre pha­ri­sä­isch, woll­te ich nicht of­fen be­ken­nen, daß ich da­mals min­des­tens eben­so schul­dig – nein! viel schul­di­ger ge­we­sen bin als je­ner Fa­brik­di­rek­tor.«
Er lä­chel­te, in­dem er hel­len Au­ges um sich blick­te, von ei­nem zum an­dern.
»Bloß mehr Glück hat­te ich in je­nem Fal­le. Das ist al­les!«
Jah­re sind es her, ich diente zu je­ner Zeit bei der Feld­ar­til­le­rie und war als Re­ser­ve­of­fi­zier ein­ge­rückt, um das feld­mä­ßi­ge Schie­ßen mitz­u­ma­chen, als un­se­re Bat­te­rie an ei­nem fast un­er­träg­lich hei­ßen Spät­som­mer­abend in ei­nem arm­se­li­gen Dor­fe nahe der un­ga­ri­schen Gren­ze ih­ren Ein­zug hielt. Die Un­ter­brin­gung der Pfer­de und Mann­schaft in den nicht zahl­rei­chen und fast durch­weg dürf­ti­gen Ge­höf­ten mach­te nicht ge­rin­ge Schwie­rig­kei­ten, und der Quar­tier­ma­cher hat­te sich nicht an­ders zu hel­fen ge­wußt, als in­dem er die ein­zel­nen Tei­le des zu­sam­men­ge­hö­ri­gen Trup­pen­kör­pers trenn­te und fast je­des Paar der Be­span­nungs­pfer­de bei ei­nem an­de­ren Bau­er ein­stell­te. Der Quar­tier­zet­tel, den ich für mich selbst in Empfang nahm, wies mich nach ei­nem herr­schaft­li­chen Schlos­se, das etwa zwei Ki­lo­me­ter vom Dor­fe ent­fernt lag.
Mein Pferd war über­mü­det, aber es moch­te ah­nen, daß es nun end­lich zur Krip­pe ging, und nahm sei­ne letz­ten Kräf­te zu­sam­men. Eine Vier­tel­stun­de spä­ter ritt ich in den Schloß­hof ein. Ein herr­schaft­li­cher Stall­bur­sche, der be­reits auf mich ge­war­tet zu ha­ben schi­en, über­nahm mein Tier und rief ein paar­mal in den Flur hin­ein nach dem »Herrn Haus­hof­meis­ter«. Da­rauf er­schi­en ein Mann mit pech­schwar­zem Kraus­kopf und scharf aus­ge­präg­ten bart­lo­sen Zü­gen, der ei­gent­lich aus­sah wie ein Schmie­ren­schau­spie­ler, den man in eine sei­ne Li­vree mit sil­ber­nen Knöp­fen ge­steckt hat­te. Er for­der­te mich mit großer Wür­de auf, ihm in den ers­ten Stock zu fol­gen, wo mein Zim­mer be­reit­stün­de. Ich ließ mir das nicht zwei­mal sa­gen, denn ich hat­te eine wah­re Sehn­sucht nach Wasch­was­ser und ei­nem Ru­he­bett, um mei­ne mü­den Glie­der dar­auf aus­zu­stre­cken. Mein ers­ter Blick, als ich das ge­räu­mi­ge Zim­mer be­trat, galt die­sen Din­gen, und mit Be­frie­di­gung be­merk­te ich auf dem mar­mor­nen Wasch­tisch ein Be­cken, das je­dem Go­liath recht ge­we­sen wäre, nebst ei­nem Krug von der Höhe ei­ner rö­mi­schen Am­pho­ra, nur daß er be­deu­tend dick­bau­chi­ger war. Wer je­mals Schein­krieg spie­lend eine Wo­che lang in sen­gen­der Hit­ze auf stau­bi­gen Land­stra­ßen um­her­ge­rit­ten ist, um abends in den ver­schie­de­nen man­gel­haf­ten Un­ter­künf­ten ein Wasch­schüs­sel­chen vor­zu­fin­den, daß in der Re­gel kaum viel grö­ßer war als eine Kaf­fee­tas­se, der be­greift mein Ent­zücken. Auch ein Di­wan be­fand sich in mei­nem Zim­mer, so lang und breit, wie ich es nur wün­schen moch­te.
»Es ist gut, ich dan­ke,« sag­te ich zu dem Haus­hof­meis­ter in der Ab­sicht, ihn zu ver­ab­schie­den.
Er ver­neig­te sich und be­merk­te mit ei­nem ei­gen­tüm­lich stei­ner­nen Lä­cheln, das mich an das Lä­cheln der Zir­kus­leu­te er­in­ner­te, wenn sie für Bei­fall dan­ken: »Die Frau Baro­nin las­sen um sie­ben Uhr zum Di­ner bit­ten.«
Ich ge­ste­he, daß ich über die­se Ein­la­dung nicht eben er­freut war; ein paar Beefs­teaks mit Spie­ge­lei­ern auf mein Zim­mer ser­viert, und zwar so bald als mög­lich, so­wie ein tüch­ti­ger Krug Bier dazu, das wäre mir in der Ver­fas­sung, in der ich mich be­fand, will­kom­me­ner ge­we­sen. In­des­sen be­hielt ich Le­bens­art ge­nug, mei­ne Ge­dan­ken vor dem son­der­ba­ren Haus­hof­meis­ter ver­bor­gen zu hal­ten, und in­dem ich ihm mei­ne Kar­te über­reich­te, be­auf­trag­te ich ihn, bei der Baro­nin an­zu­fra­gen, wann ich mir die Frei­heit ge­stat­ten dür­fe, mei­ne Auf­war­tung zu ma­chen.
Er nahm die Kar­te in Empfang, stell­te sie mit ei­ner Ecke auf­recht auf die Spit­ze sei­nes Zei­ge­fin­gers, wo sie merk­wür­di­ger­wei­se ru­hig ste­hen blieb wie eine Ker­zen­flam­me, und sag­te mit dem­sel­ben stei­ner­nen Lä­cheln von vor­hin: »Um halb sie­ben, vor dem Di­ner,« wor­auf er sich aber­mals ver­neig­te und mich al­lein ließ. Mei­ne Be­suchs­kar­te trug er auf dem Zei­ge­fin­ger mit fort, ohne daß sie her­un­ter­ge­fal­len wäre oder auch nur ge­wa­ckelt hät­te, ge­ra­de als sei dies die na­tür­lichs­te und ein­fachs­te Art, eine Vi­si­ten­kar­te zu tra­gen.
Mir konn­te es schließ­lich gleich­gül­tig sein, wie er sie trug, ich leg­te die ver­staub­te Blu­se ab und tauch­te mei­nen Kopf ins Wasch­be­cken, wo­bei mir zu­mu­te war wie ei­nem Fisch, der nach lan­gem Zap­peln auf dem tro­ckenen San­de durch einen glück­li­chen Sprung den Weg in die Flut zu­rück­ge­fun­den hat. Nach­dem ich mich ge­nü­gend er­quickt und aus dem Ge­päck, das mein Bur­sche in­zwi­schen ge­bracht, einen fun­kel­neu­en Waf­fen­rock her­vor­ge­sucht und an­ge­legt hat­te, streck­te ich mich wohl­ge­mut auf den Di­wan und ließ den Rauch ei­ner Zi­ga­ret­te zur wei­ßen De­cke stei­gen, die mit lus­ti­gem Ro­ko­kos­tuck aus­ge­füllt war. In die­ser Tä­tig­keit wur­de ich bald durch ein Klop­fen an der Tür un­ter­bro­chen, ein mir be­freun­de­ter Dra­go­ner­of­fi­zier trat ein, Ober­leut­nant von Höch­storff. Mei­ne Bat­te­rie war eine rei­ten­de, und wir ma­nö­vrier­ten ge­mein­sam mit der Ka­val­le­rie. Ich hat­te aber nicht ge­wußt, daß au­ßer mir noch an­de­re Of­fi­zie­re in die­sem Schlos­se ein­quar­tiert wa­ren.
»Liegt ihr eben­falls hier?« frag­te ich.
»Bloß mei­ne Schwa­dron,« sag­te er; »aber die­sem Hau­se ist Heil wie­der­fah­ren: die Got­t­obers­ten woh­nen un­ter sei­nem Da­che.«
Wer al­les da sei? woll­te ich wis­sen. Und er er­öff­ne­te es mir: »Das gan­ze Ober­kom­man­do und der Stab der drit­ten Bri­ga­de.«
Der Ge­dan­ke, mich in so glän­zen­der Ge­sell­schaft zu be­fin­den, war mir nicht ganz be­hag­lich, ich wäre lie­ber mit mei­nen en­ge­ren Ka­me­ra­den al­lein ge­we­sen. Aber die la­gen eine hal­be Stun­de ent­fernt in ei­nem an­dern Her­ren­sitz, des­sen Name mir ent­fal­len ist. Ich wuß­te, daß Höch­storff den Go­tha'schen im klei­nen Fin­ger hat­te, und er­kun­dig­te mich nach der Baro­nin, die un­se­re Wir­tin war, und ob auch der Baron an­we­send sei?
»Der alte Herr ist schon ge­stor­ben,« sag­te er; »und mit sei­ner Wit­we, der Freifrau, sind das so ei­ge­ne Ge­schich­ten ...«
Was für eine Ge­bo­re­ne sie sei? Er lach­te; die sei über­haupt kei­ne Ge­bo­re­ne, be­haup­te­te er.
»We­nigs­tens nicht ad­lig, ka­pierst du?«
Er nä­her­te sich mei­nem Ohr, und hielt die Hand an den Mund: »Eine vom Brettl ist sie ge­we­sen.«
Eine Ah­nung ging mir auf: »Und der ko­mi­sche Haus­hof­meis­ter, der da her­umspa­ziert?«
»Mit dem soll sie einst ge­ar­bei­tet ha­ben, wie die Ar­tis­ten sa­gen. Ein ehe­ma­li­ger Kol­le­ge – du ver­stehst? Ich bin ge­spannt, sie ken­nen zu ler­nen.«
Jetzt be­mäch­tig­te sich na­tür­lich auch mei­ner eine ge­wis­se Neu­gier­de. Es war an der Zeit, uns zum Empfang ein­zu­fin­den, der in ei­nem großen, ebener­dig ne­ben dem Spei­se­saal ge­le­ge­nen Sa­lon statt­fand. Es glit­zer­te dar­in be­reits von Or­den und gol­de­nen Kra­gen, ich wur­de der Haus­frau vor­ge­stellt und prall­te fast zu­rück. Ein flüch­ti­ges Auf­leuch­ten ih­res Au­ges sag­te mir, daß sie mich wie­der­er­kannt hat­te wie ich sie. Ich beug­te mich nie­der und küß­te ihre Hand. In dem­sel­ben Au­gen­blick riß ein La­kai die Flü­gel­tü­ren auf und mel­de­te, daß ser­viert sei. Sie er­hob sich und rausch­te am Arm ei­ner kahl­köp­fi­gen Ex­zel­lenz in den Spei­se­saal, wo eine lan­ge glän­zen­de Ta­fel un­ter glä­ser­nen Kron­leuch­tern ge­deckt stand, an de­nen un­zäh­li­ge Wachs­ker­zen brann­ten.
Als Su­bal­ter­ner von der Re­ser­ve saß ich na­tür­lich am un­ters­ten Ende und konn­te sie nur über Blu­men­auf­sät­ze hin­weg und zwi­schen Wein­fla­schen hin­durch er­bli­cken, wenn ich mich vor­neig­te. Sie un­ter­hielt sich leb­haft mit ih­ren Nach­barn, sah ver­füh­re­risch aus und schi­en kaum äl­ter ge­wor­den, ob­gleich sechs oder sie­ben Jah­re ver­stri­chen wa­ren, seit ich sie ge­kannt hat­te, und sie schon da­mals in der Mit­te der Zwan­zig ge­we­sen sein moch­te. Das reich auf­ge­steck­te glän­zen­de Haar schim­mer­te un­ter den vie­len Lich­tern wie ro­tes Gold, und von den rei­zen­den Ohr­mu­scheln wie im tie­fen Aus­schnitt des Klei­des blitz­ten präch­ti­ge So­li­tärs bis zu mir her­über, fun­keln­den Tau­per­len auf den Blü­ten­blät­tern ei­ner blei­chen Rose ver­gleich­bar – je­ner un­be­schreib­lich zar­ten, matt­wei­ßen Haut der Rot­blon­den. Nicht über­flüs­sig üb­ri­gens zu be­mer­ken, daß sie die ge­wand­ten Um­gangs­for­men ei­ner vollen­de­ten Dame hat­te.
Das Es­sen war aus­er­le­sen und die Wei­ne such­ten ih­res­glei­chen. Mei­ne Nach­barn, gleich­gül­ti­ge Trup­pe­n­of­fi­zie­re, de­ren Ge­sichts­kreis über den all­täg­li­chen Dienst nicht weit hin­aus­reich­te, nah­men mich we­nig in An­spruch, ich konn­te mei­nen Erin­ne­run­gen nach­hän­gen.
Das war auf dem Lido ge­we­sen, da ich sie zum ers­ten­mal ge­se­hen hat­te, bei ei­nem Kon­zert auf der großen Ve­ran­da der Ba­de­an­stalt. Sie be­fand sich in Ge­sell­schaft ei­nes hoch­ge­wach­se­nen und vor­nehm aus­se­hen­den al­ten Ka­va­liers, dem ein präch­ti­ger wei­ßer Bart bis in die hal­be Brust reich­te. In mei­ner Un­schuld hat­te ich sie zu­erst für sei­ne Toch­ter ge­hal­ten. Aber von Zeit zu Zeit traf mich ein selt­sa­mer Blick, ei­ner je­ner wis­sen­den, auf Aben­teu­er aus­zie­hen­den Bli­cke, die be­reit schei­nen, Ver­rat zu üben. Ich saß ihr ge­gen­über an ei­nem Tisch­chen im An­blick des Mee­res, wäh­rend un­ten die Wo­gen rausch­ten und die Ba­den­den Lärm schlu­gen, und be­ob­ach­te­te sie, wie sie eine Er­fri­schung zu sich nahm. Ne­ben­bei be­merkt, war ich jung und noch un­ver­hei­ra­tet. Sie wer­den von mir nicht ver­lan­gen, mei­ne Her­ren – na, ich den­ke, es kann mir nie­mand übel­neh­men, daß ich mich für die Dame in­ter­es­sier­te. Sie war da­mals – ich will nicht ge­ra­de sa­gen eine Schön­heit ers­ten Ran­ges, aber je­den­falls eine auf­fal­len­de und pi­kan­te Er­schei­nung.
Ich sah sie dann noch öf­ter, und ein­mal, an ei­nem Abend, sah ich das Paar auf der Riva in ein Ho­tel tre­ten. Von da ab rich­te­te ich es so ein, daß ich manch­mal in die­sem Ho­tel speis­te. Der Zu­fall war mir gleich das ers­te­mal güns­tig, ich kam in ih­rer Nähe zu sit­zen. Ge­le­gen­heit zu un­schein­ba­ren klei­nen Ge­fäl­lig­kei­ten er­gab sich wie von selbst. Der statt­li­che alte Herr war ein un­ga­ri­scher Ma­gnat und trug einen klang­vol­len gräf­li­chen Na­men. Er plau­der­te gern und war leicht zu­gäng­lich, ich mach­te sei­ne Be­kannt­schaft. Sie galt für sei­ne Frau und ließ sich Grä­fin nen­nen. Ich wur­de na­tür­lich auch mit ihr be­kannt. Un­ser Ge­spräch war ober­fläch­lich und hei­ter, hie und da blieb ich noch nach dem Es­sen, und wir sa­ßen im Ge­sell­schafts­raum des Ho­tels oder auf dem Bal­kon, oder gin­gen noch ge­mein­sam auf dem Mar­kus­platz spa­zie­ren, oder fuh­ren in ei­ner Gon­del – kurz, wir hat­ten uns bald alle drei an­ein­an­der ge­wöhnt und ver­brach­ten man­chen harm­lo­sen Abend zu­sam­men, in­dem wir uns die Zeit ver­trie­ben, wie man es eben als Frem­der in Ve­ne­dig tut.
Ein­mal war der Graf nicht ganz wohl und zog sich bald nach der Abend­mahl­zeit auf sein Zim­mer zu­rück. Ich saß mit ihr im Da­men­sa­lon, da sag­te sie un­ver­mit­telt: »Ha­ben Sie ei­gent­lich dar­an ge­glaubt, daß ich sei­ne Frau bin?«
Ich war ehr­lich und ver­nein­te.
»Also brau­chen wir uns kein Blatt vor den Mund zu neh­men,« mein­te sie wie er­leich­tert.
Und sie er­zähl­te mir al­ler­lei aus ih­rem Le­ben.
Der Graf hat­te sie »aus­bil­den« las­sen. Seit er Wit­wer ge­wor­den, reis­te sie manch­mal mit ihm, na­tür­lich nur im Aus­land.
»Er ist Gent­le­man durch und durch und ein schar­man­ter Mensch,« sag­te sie; »ich hab ihm viel zu ver­dan­ken. Sie müs­sen nicht glau­ben, daß bei mir et­was zu ho­len ist – o nein, so eine bin ich nicht! Höchs­tens wenn mich ei­ner hei­ra­ten woll­te – dann könn­te aber auch mein Graf nichts da­ge­gen ha­ben. Auf­rich­tig ge­sagt, möcht' ich für mein Le­ben gern in ge­ord­ne­te Ver­hält­nis­se kom­men. Mit der Gym­nas­tik ist es nicht gar so weit her, und mit dem bis­sel Sin­gen und Tan­zen steckt man schon gar nichts mehr auf – über­haupt die Kunst! ... Und was für eine Kon­kur­renz heut­zu­ta­ge!«
Sie mach­te eine weg­wer­fen­de Be­we­gung mit der Hand.
»Wis­sen Sie, das ist so,« sag­te sie: »Wenn man nicht was kann, das sonst kei­ner kann, so ist die Kunst ein brot­lo­ses Ver­gnü­gen. Im Or­phe­um habe ich ein­mal einen Kol­le­gen ge­se­hen, der ist in ein ganz en­ges Faß hin­ein­ge­kro­chen, das war so hoch wie der gan­ze Mensch. Ein zwei­tes, ganz glei­ches Faß wur­de in ei­ni­ger Ent­fer­nung da­von auf­ge­stellt. Und jetzt ist der Kerl mit ei­nem groß­ar­ti­gen Sal­to aus sei­nem Faß ins an­de­re hin­über­ge­sprun­gen. Se­hen Sie, das war sen­sa­tio­nell, das war eine At­trak­ti­on! Es ist aber auch je­des­mal vor sei­ner Num­mer eine Ta­fel aus­ge­hängt wor­den, dar­auf stand ge­schrie­ben, daß er der ein­zi­ge Mensch auf der Welt sei, der aus ei­nem en­gen Faß in ein an­de­res en­ges Faß sprin­gen kön­ne, und die Leu­te ap­plau­dier­ten wie nicht ge­scheit. Weil er eben wirk­lich der ein­zi­ge war. Ja, wenn man so et­was kann, dann ist man frei­lich aus dem Was­ser. Ich wollt', ich hätt' auch so eine Spe­zia­li­tät. Aber das ewi­ge Reck­tur­nen und die Luf­t­akro­ba­tik, das wird ja den Leu­ten schon fad. Und das Sin­gen und Tan­zen erst recht – ich bitt' Sie! So ein bi­ßel Stimm' hat bald eine, und die Bei­ne schon gar! ...«
»Da­für be­sit­zen Sie we­nigs­tens einen rich­ti­gen Mä­zen,« sag­te ich be­lus­tigt.
»No ja, das ist frei­lich auch et­was wert,« mein­te sie naiv; »man muß halt zu­frie­den sein. Üb­ri­gens hät­te er mich oh­ne­dies ge­hei­ra­tet, aber sei­ne Kin­der, die schon er­wach­sen sind, wol­len es halt durch­aus nicht zu­ge­ben, und das be­greif' ich auch ganz gut. Über­haupt – Un­frie­den stif­ten in ei­ner Fa­mi­lie, das mag ich nicht; geht's nicht, so geht's nicht, da läßt sich ein­mal nichts ma­chen. Vi­el­leicht fin­det sich ge­le­gent­lich ein an­de­rer, der an­beißt.«
»Das wäre ei­gent­lich auch so eine Art Sal­to ans ei­nem Faß ins an­de­re hin­über,« mein­te ich.
»Wa­rum?« frag­te sie. »Was hat das mit dem Faß zu tun?«
Ich er­klär­te ihr, wie ich es mein­te.
»Der Ein­zi­ge zu sein auf der Welt, dar­auf kommt es an – sag­ten Sie nicht so? Also! Wenn ei­ner sich in Sie ver­liebt, so sind Sie die ein­zi­ge für ihn auf der Welt. Und wenn das ein vor­neh­mer oder we­nigs­tens rei­cher Herr ist, so sprin­gen Sie mit der größ­ten Leich­tig­keit vom Brettl in den Ehe­stand und in die gute Ge­sell­schaft hin­über.«
Sie lach­te.
»Auf so einen Glücks­fall darf man sich halt nicht ver­las­sen,« mein­te sie; »in­zwi­schen muß ich schon schau­en, daß ich mir auch ir­gend­ei­ne Spe­zia­li­tät zu­leg'. Den­ken Sie ein­mal dar­über nach, wenn Sie Zeit ha­ben, ob Ih­nen nichts ein­fällt. Et­was recht Apar­tes müßt' es sein, ein Trick, der wirk­lich Auf­se­hen macht.«
Ich wuß­te nicht, wie weit es mit ih­rer Kunst her sei, und mein­te, ein Sal­to mor­ta­le wer­de aber dar­in nicht vor­kom­men dür­fen?
Da maß sie mich ganz ge­kränkt von oben her­ab: »Wa­rum denn nicht? So­viel werd' ich doch noch zu­sam­men­brin­gen! Was glau­ben Sie denn von mir?«
Das al­les kam mir jetzt in die Erin­ne­rung zu­rück, wie ich sie als vor­neh­me Dame und lie­bens­wür­di­ge Wir­tin an der Spit­ze der glän­zen­den Of­fi­ziers­ta­fel sit­zen sah. Ich hat­te seit­her nichts mehr von ihr ge­hört und wuß­te nicht, was sie in­zwi­schen er­lebt ha­ben moch­te. Nur den Tod des Gra­fen er­in­ner­te ich mich ein­mal aus den Ta­ges­zei­tun­gen er­fah­ren zu ha­ben. Er war so un­glück­lich ge­we­sen, bei ei­nem Sturz vom Pfer­de das Ge­nick zu bre­chen. Das hat­te sich bald nach un­se­rem Zu­sam­men­sein in Ve­ne­dig er­eig­net. Sie selbst war mir ganz aus den Au­gen ent­schwun­den, ich kann­te auch we­der ih­ren rich­ti­gen, noch ih­ren Künst­ler­na­men. Daß es ihr nun wirk­lich ge­lun­gen schi­en, in den er­sehn­ten Ehe­ha­fen ei...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Danke
  5. Newsletter abonnieren
  6. Autor
  7. Zum Geleit - Ein Vorwort
  8. Die Rose
  9. Barbana
  10. Artistentragödie
  11. Der Umweg
  12. In der Großen Kartause
  13. Das Konzert
  14. Christl
  15. Der Salto mortale
  16. Der Spitzenschleier
  17. Die Tonnara
  18. Der Eliteball
  19. Der taubstumme Börsenkönig
  20. Schicksal
  21. Im Strandbad
  22. Ein Kind der Liebe
  23. Das weitere Verlagsprogramm