Als Leichtmatrose nach Kalifornien
Die ganze Geschichte, von der ich nicht weiß, wie sie ausgehen wird, ob sie überhaupt ausgehen wird und ob sie überhaupt eine Geschichte wird – denn ich beginne kurz nach ihrem Beginn ihren Beginn zu notieren, heute am 12. Januar 1929, und unsere Reise soll bis tief in den Februar hinein dauern! –
Die ganze Geschichte also begann im Internationalen Seemannsklub in New York.
Dort kam ich mit einem Burschen in ein Gespräch. Er hieß Harry Warwick, wie ich später erfuhr, aber voraussichtlich sind weder er noch sein Name von irgendwelcher Wichtigkeit für den weiteren Verlauf der Begebenheit, deren Anlass und Ursprung er gewesen. Begierig fragte er mich über Deutschland aus, das sich in ihm zu einem Sehnsuchtsland entwickelt hatte, obwohl oder weil er noch niemals jemanden aus Deutschland gesehen oder gesprochen hatte und weil er so viel über Deutschland gehört. Gleich möchte er bei der United States Line anheuern, wenn er nicht schon morgen früh den verdammten Trip nach Oregon antreten müsste. Aber im April sei er wieder hier, und dann gehe es nach Bremen, koste es, was es wolle.
»Morgen segelst du?«
»Morgen um neun.«
»Wie fahrt ihr da?« fragte ich, hatte ich doch keine rechte Ahnung, wo das liegt: Oregon.
»Die Küste entlang bei Pennsylvanien, Maryland und South Virginia. In Georgia stoppen wir, von dort geht’s nach Florida und dann hinüber zum Panamakanal, durch, und hinauf nach Los Angeles und San Francisco und bis Portland, das ist schon Oregon.«
»Teufel«, sagte ich, »möcht ich da gerne mitfahren!«
Wer hätte denn etwas anderes gesagt? Wenn jemand eine besondere Reise antritt, muss er diesen Satz hören, oft mit humoristisch sein sollenden Beifügungen: »Können Sie mich da nicht im Koffer mitnehmen?«, »Brauchen Sie nicht einen Sekretär oder jemanden, der Ihnen die Stiefel putzt?«
Aber selten kriegt der Sehnsüchtige die Antwort, die mir der junge Matrose Harry Warwick gab: »Nun, so fahr doch mit.«
»Wie?« fragte ich, denn ich glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. Wie sagst du? sollte das etwa heißen. Aber er verstand: Wie mache ich es, um mitzufahren? Und erwiderte, ich möge ihn jetzt einfach begleiten, sein Schiff, die »Hiawatha« lichte morgen früh Anker, vielleicht nehme man mich mit.
»So schnell kann ich nicht weg.«
»Nun, sobald du Zeit hast, meldest du dich im Sea Service Bureau und sagst: ich will als Seemann gehen. Da schickt dich der Clerk auf irgendein Schiff, das Leute angesprochen hat. Das muss dich aufnehmen.«
»Ich bin doch kein Seemann!«
»Wen kümmert das etwas! Wenn du zur See fährst, bist du einer. Jeder, der zur See fährt, ist ein Seemann.«
Da war etwas mehr oder etwas weniger darin als eine Behauptung des guten Harry: es war eine allgemeine amerikanische Banalität, »Are you a good sailor« ist nicht etwa die Frage, ob man ein guter Angehöriger der Marine ist, sondern ob man nicht seekrank wird. »My wife is a bad sailor« – nicht ein schlechter Matrose, sondern zu Seekrankheit neigend.
»Aber ich habe doch keine Papiere!«
»Du brauchst nur das erste!«
»Hab ich auch nicht.«
Ganz groß sah mich Harry Warwick an, er hatte sieben Meere durchschifft und allerhand Menschen gesehen, heute sogar einen, der geradeswegs aus Deutschland kam – aber dass jemand, und gar dieser schon ohnedies Absonderliche, nicht einmal das Erste Bürgerpapier der Staaten habe, das war dem Seemann Harry Warwick denn doch noch nicht begegnet.
»Macht nichts. Wenn du auf die Löhnung verzichtest, kannst du überall mitfahren. Da steckt der boos’n deinen Lohn ein – das tun sie immer, wenn sie einen work-a-way haben …«
»Wen …?«
»Einen Studenten oder einen Kaufmann, der anheuert, um seine Reise unentgeltlich zu haben.«
»Wie hast du das genannt?«
»Einen work-a-way, einen, der sich seinen Weg erarbeitet, das kommt oft vor, meist so Burschen gegen zwanzig. Wie alt bist du denn?« – »Zweiundzwanzig.« – »Na, das ist gerade noch gut. Kannst Mittwoch fahren mit der ›Hannawah‹, das ist unser Schwesterschiff. Sie liegt neben uns, bei India Street in Brooklyn. Sie segelt schon am Mittwoch. Komm mit mir, du wirst Dave Dunge treffen – er ist boos’n auf der ›Hannawah‹, du kannst es gleich ausmachen. Ich hole ihn ohnedies ab.«
So gingen wir in ein Billardlokal, nachdem mir Harry noch eingeschärft, ich möge mit Dave Dunge nicht über Politik sprechen, er interessiere sich zwar nicht dafür, aber es sei besser so.
Dave Dunge spielte Billard oder das, was man hierzulande so nennt, ein Spiel für Amerikaner und Kinder, mit sechzehn verschiedenfarbigen und nummerierten Kugeln, die durch Anspielen mit der weißen in sechs Seitentaschen des Bretts zu karambolieren sind. Nur zwei Regeln scheint es zu geben: dass man den Rock ablegen, aber Hut und Revolverfutteral anbehalten muss.
Dave Dunge war entzückt zu hören, dass ich als work-a-way anheuern möchte und ihm meine Löhnung zu überlassen geneigt sei, immerhin 42 Dollar im Monat, wie ich bedauernd vernahm. Er legte gleich das Queue nieder, zahlte der herbeischießenden Mulattin seinen Teil vom Billardgeld, und selbdritt wanderten wir zum Brooklyner Hafen, wo wir alle wohnten: Dave auf der »Hannawah«, Harry auf der »Hiawatha« und ich am Ufer bei Mrs. Field, 104 Columbia Heights. Wir kehrten noch in eine Flüsterkneipe ein. Darauf bestand Dave Dunge, und ebenso darauf, unsere neun Glas Whisky zu bezahlen, mich dadurch sozusagen mit Handgeld verpflichtend.
Am liebsten hätte er es wohl gesehen, wäre ich gleich an Bord mitgekommen. Das tat ich umso weniger, als ich erfuhr, dass das Schiff fünf Tage in Baltimore vor Anker liegen werde. »Kann ich nicht erst in Baltimore an Bord kommen?« fragte ich. »Bis zum 10. kann ich auf jeden Fall meine Angelegenheiten in Ordnung bringen. Ob das bis Mittwoch geht, weiß ich nicht so bestimmt.«
»Alles recht. Wenn du bis Mittwoch nicht da bist, kommst du nach Baltimore. Ich nehme keinen anderen auf. Am 9. abends bist du an Bord, wir machen dann noch eine Nacht. Ich hab dort ein Mädel – Harry kennt sie. Auf Pier 9, Locus Point, Baltimore and Ohio Railroad liegen wir.« (Er schrieb mir das auf.) »Hast du Arbeitsanzug und Stiefel? Alles recht, ich borg dir einen guten Overall und Stiefel.«
»Ist es auch ganz sicher? Ich möchte die Bahnfahrt nach Baltimore nicht vergeblich machen.«
»Perfekt sicher.« Handschlag.
Die letzte Frage hatte ich nur gestellt, um seine Besorgnis zu zerstreuen, dass ich’s nicht ernst meine.
Meinte ich’s ernst?
Es war eine schwierige Sache. Einerseits: ich kann Florida sehen und Kalifornien mitsamt Los Angeles und Hollywood, und San Francisco, wozu ich sonst nicht käme; die Reise von New York dorthin und zurück kostet an 400 Dollar, die ich bei Weitem nicht besitze.
Andererseits: fünf, sechs Wochen meiner für Amerika bewilligten Aufenthaltsdauer durch eine vielleicht langweilige, vielleicht stürmische Seereise auf einer alten Frachtkiste totzuschlagen, bei jämmerlicher Kost, in einem schmutzigen Bett (so fürchtete ich damals – oh, hätte ich doch wenigstens ein schmutziges Bett!) und bei achtstündiger Arbeitszeit!
Zweiundzwanzig Jahre! Dieses Alter hat mir Harry Warwick geglaubt. Das sei gerade noch recht!
Guter Harry! Ich bin doppelt so alt, und diese Zweiundzwanzig, die ich mehr zähle als zweiundzwanzig, sind nicht wie die ersten Zweiundzwanzig, worin ja Kindheit und Schule einbegriffen sind: nein, diese zweiten Zweiundzwanzig sind zweiundzwanzigmal 365 Tage und Nächte mit Arbeit und Affären und Aufregungen, mit Wünschen und Erfüllungen und Nichterfüllungen, mit Gasthauskost und fremden Betten und Frauen und einem Weltkrieg. Und jetzt soll ich da eine fremde Arbeit beginnen, auf fremdem Frachtkahn in eine fremde See?
Nein, ich meinte es doch nicht ernst.
Und ich zählte meine Barschaft. Sie reichte so ungefähr für eine Fahrkarte nach San Francisco und einen Aufenthalt von etwa vierzehn Tagen in San Francisco oder Chicago, vorausgesetzt, dass ich dort in der gleichen Preislage leben könnte wie in New York. Aber nicht mehr zur Rückreise, verflucht! Es wäre schade, die Amerikareise gemacht zu haben und nichts als New York und Chicago zu sehen. (Meine Rückreise-Schiffskarte nach Europa hatte ich schon in Berlin gelöst.)
Nach meiner Vorlesung in der New Yorker Volksbühne hatten mich die Veranstalter gefragt, ob ich nicht in ihren Ortsgruppen im Westen lesen wolle, dreißig Dollar für einen Abend. Das musste ich ablehnen, denn das hätte kaum für die Spesen gereicht. Wenn ich nunmehr nach dem Westen unentgeltlich fahren kann, bleibt nur die Rückreise nach New York zu bezahlen, und diese ließe sich von den Vorträgen decken. Ich fragte telefonisch an: »Seid ihr noch bereit, die Tournee zu arrangieren?« Sie bejahten.
So, jetzt meinte ich es ernst!
Den Koffer ließ ich bei Mrs. Field, 104 Columbia Heights, Brooklyn, und fuhr nach Baltimore. Meine New Yorker Freunde, denen ich von diesem Reiseentschluss Mitteilung machte, konnten sich allesamt in Bekundungen aufrichtigen Neides nicht genugtun, bewunderten die »Kühnheit« meines Entschlusses und behaupteten, ich sei ein »Mordskerl«.
Dies muss reproduziert werden, weil ich betonen will, dass ich von Anfang an meine Fahrt nicht im Geringsten als beneidenswert empfand und nicht als beneidenswert empfinde, dass ich mir von ihr weder Abenteuer noch Sensation versprach, sie eher als Zeitvergeudung ansah, dass ich damit weder originell noch ein Kopist Jack Londons sein wollte; dass ich mir viel beneidenswerter erschienen wäre, hätte ich meinen Weg nach dem Westen im Pullmanwagen zurücklegen können, und dass mein Entschluss kein Entschluss, geschweige denn eine Kühnheit und noch weniger die Äußerung eines Mordskerls war, sondern nichts weiter als das traurige Ergebnis einer klaren Rechnung, einer Aufnahme des Vermögensstandes.
Über Washington fuhr ich nach Baltimore. Am 9. Januar um ein Viertel eins mittags war ich im Weißen Haus, am Abend selbigen Tages kletterte ich, mein Ränzlein auf dem Rücken, von Pier 9, Locus Point, Baltimore, das Fallreep empor auf S. S. »Hannawah«.
Dave Dunge begrüßte mich. Er sagte nicht, dass er sehr erfreut sei, mich zu sehen, wie Coolidge es heute mittags gesagt hatte, aber er war es. (Zweiundvierzig Dollar!) In seiner Kabine auf dem Poopdeck sollte ich mein Bündel ablegen und gleich mit ihm in die Stadt gehen, sein Mädchen warte auf ihn. Wenn wir wieder an Bord kämen, würde er mir einen Schlafplatz anweisen.
Die Nacht war mehr als wüst, ich weiß nicht, ob es wichtig ist, sie zu beschreiben, es scheint jedoch, sie werde auf mein Bordleben nicht ohne Folgen bleiben. In Hull Street pfiff er durch die Finger, einen langen und zwei kurze Pfiffe, und schon stand Deborah vor ihrem Haus. Sie war Anfang der Dreißig, nicht eben hässlich, obzwar sicherlich nur aus Höflichkeit oder Kameradschaftlichkeit der gute Harry Warwick in New York so verzückt bestätigt hatte, wie hübsch sie sei.
Und dann ein Saloon mit vier oder fünf kleinen besetzten Tischen und einer dicht umstandenen Bar, der Whisky, laut Etikett der Flaschen, »Old Kentucky«, aber sicherlich nicht O. K. Wir tranken, ergatterten schließlich einen Tisch, aber Dave segelte zur Bar, um dort große Reden zu halten und schließlich zu würfeln. Als wir gegen Mitternacht mit dem Antrag, endlich aufzubrechen, zu Dave Dunge an die Theke kamen, lehnte er ab.
Unser Tisch war inzwischen besetzt. Dave würfelte und war so betrunken, dass er Deborahs nicht achtete. Wir wurden abgedrängt von ihm. »Komm mit mir weg«, sagte Deborah. »Kann ich nicht machen«, erwiderte ich, nicht nur, weil Dave mein Chef war. Sie war wütend, nun noch überzeugter, ich sei »etwas Besseres«, und vermutete, ich wolle mich nicht zum Besten halten lassen. »Komm«, flüsterte sie mir zu, »wir sind gleich zurück. Ich warte auf dich, Hull Street 19.« Sie ging.
Ich drängte mich zu Dave Dunge. »Hallo, Dave, ich glaube, Deborah ist nach Hause gegangen.« – »Sei sicher, sie kommt zurück.« – »Kann ich mitwürfeln?« – »Nein, das geht nicht mehr.« Es waren sechs Spieler da, die mit ihm um ihren Einsatz kämpften. Er schob mich mit der Hand beiseite.
Noch immer spielte er mit den sechs, schaute nicht auf, als ich ins Lokal zurückkehrte. Dann kam Deborah, er gab ihr keinen Blick.
Aber als wir endlich gingen, fragte Dave Dunge: »Wo seid ihr gewesen?« – »Ich war zu Hause«, sagte Deborah. – »Ich weiß.« Das war alles. Er war schlecht gelaunt, obgleich er drei Dollar neunzig gewonnen hatte.
An Bord forderte er mich auf, sein Bett zu nehmen. Er werde sich in das des Lotsen legen.
Und so schlief ich den Rest der Nacht vom 9. auf den 10. Januar in der Koje des Bootsmanns. Das erste und wohl auch das letzte Mal.
Als ich am Morgen erwachte, spät, benebelt und vergiftet von dem üblen Whisky, beängstigt aus mehreren Gründen, wimmelte es auf Deck von Schauerleuten, durchweg Polen. Sie löschten merkwürdigerweise, obwohl das Schiff aus New York kam, wo doch sicherlich keine Ladung für Baltimore genommen worden war. Später erfuhr ich, dass die »Hannawah« vor Monatsfrist in Oregon Kupferplatten für die Baltimore Copper Smelting and Rolling Co. geladen und wegen ihrer Schwere auf den Grund der Luken gebettet hatte. Nachdem man in New York den übrigen Kargo gelöscht, konnte man nun in Baltimore darangehen, den kupfernen Grund an seinem Bestimmungshafen auszugeben.
Wir luden übrigens ebenso schwere Dinge – Baltimore, Maryland, ist der Vorhafen Pennsylvaniens, des Stahl- und Eisenlandes –, Stahlröhren, Rundeisen, Zinnblech. Auch drei Lastautos schwebten vom Pier empor und in den Schiffsrumpf hinab.
Möwen schwirrten knapp über den polnischen Arbeitern. Der Hafen, riesenhaft, war voll von Schiffen. Die Fähren mit den Waggons sind stark gewölbt, sie sehen wie überschwemmte Eisenbahnbrücken aus, deren Pfeiler im Wasser stehen. Drüben in Hull Street, rechts zu ebener Erde, wohnt Deborah. Todsicher war der Whisky giftig, fast aller Alkohol ist hier giftig.
Dave kam mich holen, führte mich zum Steuermann und dieser zum Kapitän. Dort unterschrieb ich auf dem Umschlag die Bedingungen, die innen auf einem Bogen standen und mir gar nicht gezeigt wurden.
Nun wurde mir Arbeit zugewiesen; darüber zu schreiben werde ich später noch Zeit finden, ebenso über das Massenquartier, in dem ich nun allabendlich in meine Hängematte kletterte.
Am 11. waren wir in Norfolk – ich glaube, so schreibt sich das –, einem Hafen in Virginia, nahmen Erdnüsse, Zigaretten und Karbid. Nach Sonnenuntergang segelten wir zur Kohlenschütte, wo ein gigantisches Klistier in den Unterleib der »Hannawah« gesenkt wurde und siebenhundertfünfzig Tonnen hineinspritzte. Auf einem kreisrunden Geleise hoch über unseren Häuptern drehte sich donnernd ein Karussell von Kohlenwaggons.
Ein Lotse kam an Bord. Er lenkte uns vom Ozean in den Savannah River, und am 14. warfen wir im Hafen von Savannah Anker. Ich bekam den Auftrag, Briefe aufzugeben, und ging in die Stadt; am Abend privat ein zweites Mal.
Im Kino hörte ich unter anderem einen Sprechfilm mit Eddie Kantor, dem Kurt Bois von Amerika. Man sieht ihn anfangs, wie er am Telefon das Engagement zu dem Sprechfilm abschließt. »Soll ich in englischer Sprache spielen«, fragte er, »oder ist es ein Film für New York?« Man kann das Beifallsgetrampel des Publikums nicht schildern, minutenlang war kein weiterer Witz des kostspieligen Eddie ...