Paradies Amerika
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Paradies Amerika

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Über dieses Buch

Fassung in aktueller RechtschreibungMit 193 Fußnoten und einem Vorwort von Kurt TucholskyKisch liefert in seiner umfangreichen Reportagesammlung, für die er als unerwünschter Kommunist inkognito recherchieren musste, eine unterhaltsame, aber auch ungeschönte Beschreibung des amerikanischen Alltags am Anfang des 20. Jahrhunderts.Es werden die Entrechteten gezeigt und die Ausgebeuteten – die, die den amerikanischen Traum immer hinterjagen; und die erschöpften Seeleute, die Fließbandarbeiter bei Ford oder die Gefängnisinsassen ohne Hoffnung, weil sie der Todesstrafe entgegensehen.Kischs vom Zynismus geschärfter Blick zeigt uns die Spekulanten der Wall Street und die "wild gewordenen" Immobilienmakler, Menschen also, die mit der Arbeit anderer und durch einen Federstrich mehr verdienen, als sie je in ihrem Leben ausgeben können.Der Autor führt uns auch mit viel Humor durch den Wilden Westen und in das Hollywood Chaplins. Zu guter Letzt darf der Leser auch noch die Bekanntschaft machen mit der Amerikanischten aller Sportarten: dem Football, das aber in den Augen des Verfassers nicht wirklich gegen das "richtige" Fußball, also das Europäische ankommen mag.Ist Amerika das Paradies? Ja, aber – wie Tucholsky in seiner Besprechung anführt – letztlich nur für die Unternehmer.Ein Buch, das auch heute geschrieben worden sein könnte und das Kischs einzigartiges Können unter Beweis stellt.Null Papier Verlag

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783962816698

Als Leichtmatrose nach Kalifornien

Die gan­ze Ge­schich­te, von der ich nicht weiß, wie sie aus­ge­hen wird, ob sie über­haupt aus­ge­hen wird und ob sie über­haupt eine Ge­schich­te wird – denn ich be­gin­ne kurz nach ih­rem Be­ginn ih­ren Be­ginn zu no­tie­ren, heu­te am 12. Ja­nu­ar 1929, und un­se­re Rei­se soll bis tief in den Fe­bru­ar hin­ein dau­ern! –
Die gan­ze Ge­schich­te also be­gann im In­ter­na­tio­na­len See­manns­klub in New York.
Dort kam ich mit ei­nem Bur­schen in ein Ge­spräch. Er hieß Har­ry War­wick, wie ich spä­ter er­fuhr, aber vor­aus­sicht­lich sind we­der er noch sein Name von ir­gend­wel­cher Wich­tig­keit für den wei­te­ren Ver­lauf der Be­ge­ben­heit, de­ren An­lass und Ur­sprung er ge­we­sen. Be­gie­rig frag­te er mich über Deutsch­land aus, das sich in ihm zu ei­nem Sehn­suchts­land ent­wi­ckelt hat­te, ob­wohl oder weil er noch nie­mals je­man­den aus Deutsch­land ge­se­hen oder ge­spro­chen hat­te und weil er so viel über Deutsch­land ge­hört. Gleich möch­te er bei der Uni­ted Sta­tes Line an­heu­ern, wenn er nicht schon mor­gen früh den ver­damm­ten Trip nach Ore­gon an­tre­ten müss­te. Aber im April sei er wie­der hier, und dann gehe es nach Bre­men, kos­te es, was es wol­le.
»Mor­gen se­gelst du?«
»Mor­gen um neun.«
»Wie fahrt ihr da?« frag­te ich, hat­te ich doch kei­ne rech­te Ah­nung, wo das liegt: Ore­gon.
»Die Küs­te ent­lang bei Penn­syl­va­ni­en, Ma­ry­land und South Vir­gi­nia. In Ge­or­gia stop­pen wir, von dort geht’s nach Flo­ri­da und dann hin­über zum Pa­na­ma­ka­nal, durch, und hin­auf nach Los An­ge­les und San Fran­cis­co und bis Port­land, das ist schon Ore­gon.«
»Teu­fel«, sag­te ich, »möcht ich da ger­ne mit­fah­ren!«
Wer hät­te denn et­was an­de­res ge­sagt? Wenn je­mand eine be­son­de­re Rei­se an­tritt, muss er die­sen Satz hö­ren, oft mit hu­mo­ris­tisch sein sol­len­den Bei­fü­gun­gen: »Kön­nen Sie mich da nicht im Kof­fer mit­neh­men?«, »Brau­chen Sie nicht einen Se­kre­tär oder je­man­den, der Ih­nen die Stie­fel putzt?«
Aber sel­ten kriegt der Sehn­süch­ti­ge die Ant­wort, die mir der jun­ge Ma­tro­se Har­ry War­wick gab: »Nun, so fahr doch mit.«
»Wie?« frag­te ich, denn ich glaub­te, nicht rich­tig ver­stan­den zu ha­ben. Wie sagst du? soll­te das etwa hei­ßen. Aber er ver­stand: Wie ma­che ich es, um mit­zu­fah­ren? Und er­wi­der­te, ich möge ihn jetzt ein­fach be­glei­ten, sein Schiff, die »Hia­wa­tha« lich­te mor­gen früh An­ker, viel­leicht neh­me man mich mit.
»So schnell kann ich nicht weg.«
»Nun, so­bald du Zeit hast, mel­dest du dich im Sea Ser­vice Bu­reau und sagst: ich will als See­mann ge­hen. Da schickt dich der Clerk auf ir­gend­ein Schiff, das Leu­te an­ge­spro­chen hat. Das muss dich auf­neh­men.«
»Ich bin doch kein See­mann!«
»Wen küm­mert das et­was! Wenn du zur See fährst, bist du ei­ner. Je­der, der zur See fährt, ist ein See­mann.«
Da war et­was mehr oder et­was we­ni­ger dar­in als eine Be­haup­tung des gu­ten Har­ry: es war eine all­ge­mei­ne ame­ri­ka­ni­sche Bana­li­tät, »Are you a good sai­lor« ist nicht etwa die Fra­ge, ob man ein gu­ter An­ge­hö­ri­ger der Ma­ri­ne ist, son­dern ob man nicht see­krank wird. »My wife is a bad sai­lor« – nicht ein schlech­ter Ma­tro­se, son­dern zu See­krank­heit nei­gend.
»Aber ich habe doch kei­ne Pa­pie­re!«
»Du brauchst nur das ers­te!«
»Hab ich auch nicht.«
Ganz groß sah mich Har­ry War­wick an, er hat­te sie­ben Mee­re durch­schifft und al­ler­hand Men­schen ge­se­hen, heu­te so­gar einen, der ge­ra­des­wegs aus Deutsch­land kam – aber dass je­mand, und gar die­ser schon oh­ne­dies Ab­son­der­li­che, nicht ein­mal das Ers­te Bür­ger­pa­pier der Staa­ten habe, das war dem See­mann Har­ry War­wick denn doch noch nicht be­geg­net.
»Macht nichts. Wenn du auf die Löh­nung ver­zich­test, kannst du über­all mit­fah­ren. Da steckt der boos’n dei­nen Lohn ein – das tun sie im­mer, wenn sie einen work-a-way ha­ben …«
»Wen …?«
»Ei­nen Stu­den­ten oder einen Kauf­mann, der an­heu­ert, um sei­ne Rei­se un­ent­gelt­lich zu ha­ben.«
»Wie hast du das ge­nannt?«
»Ei­nen work-a-way, einen, der sich sei­nen Weg er­ar­bei­tet, das kommt oft vor, meist so Bur­schen ge­gen zwan­zig. Wie alt bist du denn?« – »Zwei­und­zwan­zig.« – »Na, das ist ge­ra­de noch gut. Kannst Mitt­woch fah­ren mit der ›Han­na­wah‹, das ist un­ser Schwes­ter­schiff. Sie liegt ne­ben uns, bei In­dia Street in Broo­klyn. Sie se­gelt schon am Mitt­woch. Komm mit mir, du wirst Dave Dun­ge tref­fen – er ist boos’n auf der ›Han­na­wah‹, du kannst es gleich aus­ma­chen. Ich hole ihn oh­ne­dies ab.«
So gin­gen wir in ein Bil­lard­lo­kal, nach­dem mir Har­ry noch ein­ge­schärft, ich möge mit Dave Dun­ge nicht über Po­li­tik spre­chen, er in­ter­es­sie­re sich zwar nicht da­für, aber es sei bes­ser so.
Dave Dun­ge spiel­te Bil­lard oder das, was man hier­zu­lan­de so nennt, ein Spiel für Ame­ri­ka­ner und Kin­der, mit sech­zehn ver­schie­den­far­bi­gen und num­me­rier­ten Ku­geln, die durch An­spie­len mit der wei­ßen in sechs Sei­ten­ta­schen des Bretts zu ka­ram­bo­lie­ren sind. Nur zwei Re­geln scheint es zu ge­ben: dass man den Rock ab­le­gen, aber Hut und Re­vol­ver­fut­te­ral an­be­hal­ten muss.
Dave Dun­ge war ent­zückt zu hö­ren, dass ich als work-a-way an­heu­ern möch­te und ihm mei­ne Löh­nung zu über­las­sen ge­neigt sei, im­mer­hin 42 Dol­lar im Mo­nat, wie ich be­dau­ernd ver­nahm. Er leg­te gleich das Queue nie­der, zahl­te der her­bei­schie­ßen­den Mu­lat­tin sei­nen Teil vom Bil­lard­geld, und selbdritt1 wan­der­ten wir zum Broo­kly­ner Ha­fen, wo wir alle wohn­ten: Dave auf der »Han­na­wah«, Har­ry auf der »Hia­wa­tha« und ich am Ufer bei Mrs. Field, 104 Co­lum­bia Heights. Wir kehr­ten noch in eine Flüs­ter­knei­pe ein. Da­rauf be­stand Dave Dun­ge, und eben­so dar­auf, un­se­re neun Glas Whis­ky zu be­zah­len, mich da­durch so­zu­sa­gen mit Hand­geld ver­pflich­tend.
Am liebs­ten hät­te er es wohl ge­se­hen, wäre ich gleich an Bord mit­ge­kom­men. Das tat ich umso we­ni­ger, als ich er­fuhr, dass das Schiff fünf Tage in Bal­ti­mo­re vor An­ker lie­gen wer­de. »Kann ich nicht erst in Bal­ti­mo­re an Bord kom­men?« frag­te ich. »Bis zum 10. kann ich auf je­den Fall mei­ne An­ge­le­gen­hei­ten in Ord­nung brin­gen. Ob das bis Mitt­woch geht, weiß ich nicht so be­stimmt.«
»Al­les recht. Wenn du bis Mitt­woch nicht da bist, kommst du nach Bal­ti­mo­re. Ich neh­me kei­nen an­de­ren auf. Am 9. abends bist du an Bord, wir ma­chen dann noch eine Nacht. Ich hab dort ein Mä­del – Har­ry kennt sie. Auf Pier 9, Lo­cus Point, Bal­ti­mo­re and Ohio Rail­road lie­gen wir.« (Er schrieb mir das auf.) »Hast du Ar­beits­an­zug und Stie­fel? Al­les recht, ich borg dir einen gu­ten Over­all und Stie­fel.«
»Ist es auch ganz si­cher? Ich möch­te die Bahn­fahrt nach Bal­ti­mo­re nicht ver­geb­lich ma­chen.«
»Per­fekt si­cher.« Hand­schlag.
Die letz­te Fra­ge hat­te ich nur ge­stellt, um sei­ne Be­sorg­nis zu zer­streu­en, dass ich’s nicht ernst mei­ne.
Mein­te ich’s ernst?
Es war eine schwie­ri­ge Sa­che. Ei­ner­seits: ich kann Flo­ri­da se­hen und Ka­li­for­ni­en mit­samt Los An­ge­les und Hol­ly­wood, und San Fran­cis­co, wozu ich sonst nicht käme; die Rei­se von New York dort­hin und zu­rück kos­tet an 400 Dol­lar, die ich bei Wei­tem nicht be­sit­ze.
An­de­rer­seits: fünf, sechs Wo­chen mei­ner für Ame­ri­ka be­wil­lig­ten Auf­ent­halts­dau­er durch eine viel­leicht lang­wei­li­ge, viel­leicht stür­mi­sche See­rei­se auf ei­ner al­ten Fracht­kis­te tot­zu­schla­gen, bei jäm­mer­li­cher Kost, in ei­nem schmut­zi­gen Bett (so fürch­te­te ich da­mals – oh, hät­te ich doch we­nigs­tens ein schmut­zi­ges Bett!) und bei acht­stün­di­ger Ar­beits­zeit!
Zwei­und­zwan­zig Jah­re! Die­ses Al­ter hat mir Har­ry War­wick ge­glaubt. Das sei ge­ra­de noch recht!
Gu­ter Har­ry! Ich bin dop­pelt so alt, und die­se Zwei­und­zwan­zig, die ich mehr zäh­le als zwei­und­zwan­zig, sind nicht wie die ers­ten Zwei­und­zwan­zig, worin ja Kind­heit und Schu­le ein­be­grif­fen sind: nein, die­se zwei­ten Zwei­und­zwan­zig sind zwei­und­zwan­zig­mal 365 Tage und Näch­te mit Ar­beit und Af­fä­ren und Auf­re­gun­gen, mit Wün­schen und Er­fül­lun­gen und Nicht­er­fül­lun­gen, mit Gast­haus­kost und frem­den Bet­ten und Frau­en und ei­nem Welt­krieg. Und jetzt soll ich da eine frem­de Ar­beit be­gin­nen, auf frem­dem Fracht­kahn in eine frem­de See?
Nein, ich mein­te es doch nicht ernst.
Und ich zähl­te mei­ne Bar­schaft. Sie reich­te so un­ge­fähr für eine Fahr­kar­te nach San Fran­cis­co und einen Auf­ent­halt von etwa vier­zehn Ta­gen in San Fran­cis­co oder Chi­ca­go, vor­aus­ge­setzt, dass ich dort in der glei­chen Preis­la­ge le­ben könn­te wie in New York. Aber nicht mehr zur Rück­rei­se, ver­flucht! Es wäre scha­de, die Ame­ri­ka­rei­se ge­macht zu ha­ben und nichts als New York und Chi­ca­go zu se­hen. (Mei­ne Rück­rei­se-Schiffs­kar­te nach Eu­ro­pa hat­te ich schon in Ber­lin ge­löst.)
Nach mei­ner Vor­le­sung in der New Yor­ker Volks­büh­ne hat­ten mich die Ver­an­stal­ter ge­fragt, ob ich nicht in ih­ren Orts­grup­pen im Wes­ten le­sen wol­le, drei­ßig Dol­lar für einen Abend. Das muss­te ich ab­leh­nen, denn das hät­te kaum für die Spe­sen ge­reicht. Wenn ich nun­mehr nach dem Wes­ten un­ent­gelt­lich fah­ren kann, bleibt nur die Rück­rei­se nach New York zu be­zah­len, und die­se lie­ße sich von den Vor­trä­gen de­cken. Ich frag­te te­le­fo­nisch an: »Seid ihr noch be­reit, die Tour­nee zu ar­ran­gie­ren?« Sie be­jah­ten.
So, jetzt mein­te ich es ernst!
Den Kof­fer ließ ich bei Mrs. Field, 104 Co­lum­bia Heights, Broo­klyn, und fuhr nach Bal­ti­mo­re. Mei­ne New Yor­ker Freun­de, de­nen ich von die­sem Rei­seent­schluss Mit­tei­lung mach­te, konn­ten sich al­le­samt in Be­kun­dun­gen auf­rich­ti­gen Nei­des nicht ge­nug­tun, be­wun­der­ten die »Kühn­heit« mei­nes Ent­schlus­ses und be­haup­te­ten, ich sei ein »Mords­kerl«.
Dies muss re­pro­du­ziert wer­den, weil ich be­to­nen will, dass ich von An­fang an mei­ne Fahrt nicht im Ge­rings­ten als be­nei­dens­wert emp­fand und nicht als be­nei­dens­wert emp­fin­de, dass ich mir von ihr we­der Aben­teu­er noch Sen­sa­ti­on ver­sprach, sie eher als Zeit­ver­geu­dung an­sah, dass ich da­mit we­der ori­gi­nell noch ein Ko­pist Jack Lon­d­ons sein woll­te; dass ich mir viel be­nei­dens­wer­ter er­schie­nen wäre, hät­te ich mei­nen Weg nach dem Wes­ten im Pull­man­wa­gen zu­rück­le­gen kön­nen, und dass mein Ent­schluss kein Ent­schluss, ge­schwei­ge denn eine Kühn­heit und noch we­ni­ger die Äu­ße­rung ei­nes Mords­kerls war, son­dern nichts wei­ter als das trau­ri­ge Er­geb­nis ei­ner kla­ren Rech­nung, ei­ner Auf­nah­me des Ver­mö­gens­stan­des.
Über Wa­shing­ton fuhr ich nach Bal­ti­mo­re. Am 9. Ja­nu­ar um ein Vier­tel eins mit­tags war ich im Wei­ßen Haus, am Abend sel­bi­gen Ta­ges klet­ter­te ich, mein Ränz­lein auf dem Rücken, von Pier 9, Lo­cus Point, Bal­ti­mo­re, das Fall­reep2 em­por auf S. S. »Han­na­wah«.
Dave Dun­ge be­grüß­te mich. Er sag­te nicht, dass er sehr er­freut sei, mich zu se­hen, wie Coo­lid­ge es heu­te mit­tags ge­sagt hat­te, aber er war es. (Zwei­und­vier­zig Dol­lar!) In sei­ner Ka­bi­ne auf dem Poop­deck3 soll­te ich mein Bün­del ab­le­gen und gleich mit ihm in die Stadt ge­hen, sein Mäd­chen war­te auf ihn. Wenn wir wie­der an Bord kämen, wür­de er mir einen Schlaf­platz an­wei­sen.
Die Nacht war mehr als wüst, ich weiß nicht, ob es wich­tig ist, sie zu be­schrei­ben, es scheint je­doch, sie wer­de auf mein Bord­le­ben nicht ohne Fol­gen blei­ben. In Hull Street pfiff er durch die Fin­ger, einen lan­gen und zwei kur­ze Pfif­fe, und schon stand De­bo­rah vor ih­rem Haus. Sie war An­fang der Drei­ßig, nicht eben häss­lich, ob­zwar si­cher­lich nur aus Höf­lich­keit oder Ka­me­rad­schaft­lich­keit der gute Har­ry War­wick in New York so ver­zückt be­stä­tigt hat­te, wie hübsch sie sei.
Und dann ein Sa­loon mit vier oder fünf klei­nen be­setz­ten Ti­schen und ei­ner dicht um­stan­de­nen Bar, der Whis­ky, laut Eti­kett der Fla­schen, »Old Ken­tucky«, aber si­cher­lich nicht O. K. Wir tran­ken, er­gat­ter­ten schließ­lich einen Tisch, aber Dave se­gel­te zur Bar, um dort große Re­den zu hal­ten und schließ­lich zu wür­feln. Als wir ge­gen Mit­ter­nacht mit dem An­trag, end­lich auf­zu­bre­chen, zu Dave Dun­ge an die The­ke ka­men, lehn­te er ab.
Un­ser Tisch war in­zwi­schen be­setzt. Dave wür­fel­te und war so be­trun­ken, dass er De­bo­rahs nicht ach­te­te. Wir wur­den ab­ge­drängt von ihm. »Komm mit mir weg«, sag­te De­bo­rah. »Kann ich nicht ma­chen«, er­wi­der­te ich, nicht nur, weil Dave mein Chef war. Sie war wü­tend, nun noch über­zeug­ter, ich sei »et­was Bes­se­res«, und ver­mu­te­te, ich wol­le mich nicht zum Bes­ten hal­ten las­sen. »Komm«, flüs­ter­te sie mir zu, »wir sind gleich zu­rück. Ich war­te auf dich, Hull Street 19.« Sie ging.
Ich dräng­te mich zu Dave Dun­ge. »Hal­lo, Dave, ich glau­be, De­bo­rah ist nach Hau­se ge­gan­gen.« – »Sei si­cher, sie kommt zu­rück.« – »Kann ich mit­wür­feln?« – »Nein, das geht nicht mehr.« Es wa­ren sechs Spie­ler da, die mit ihm um ih­ren Ein­satz kämpf­ten. Er schob mich mit der Hand bei­sei­te.
Noch im­mer spiel­te er mit den sechs, schau­te nicht auf, als ich ins Lo­kal zu­rück­kehr­te. Dann kam De­bo­rah, er gab ihr kei­nen Blick.
Aber als wir end­lich gin­gen, frag­te Dave Dun­ge: »Wo seid ihr ge­we­sen?« – »Ich war zu Hau­se«, sag­te De­bo­rah. – »Ich weiß.« Das war al­les. Er war schlecht ge­launt, ob­gleich er drei Dol­lar neun­zig ge­won­nen hat­te.
An Bord for­der­te er mich auf, sein Bett zu neh­men. Er wer­de sich in das des Lot­sen le­gen.
Und so schlief ich den Rest der Nacht vom 9. auf den 10. Ja­nu­ar in der Koje des Boots­manns. Das ers­te und wohl auch das letz­te Mal.
Als ich am Mor­gen er­wach­te, spät, be­ne­belt und ver­gif­tet von dem üb­len Whis­ky, be­ängs­tigt aus meh­re­ren Grün­den, wim­mel­te es auf Deck von Schau­er­leu­ten, durch­weg Po­len. Sie lösch­ten merk­wür­di­ger­wei­se, ob­wohl das Schiff aus New York kam, wo doch si­cher­lich kei­ne La­dung für Bal­ti­mo­re ge­nom­men wor­den war. Spä­ter er­fuhr ich, dass die »Han­na­wah« vor Mo­nats­frist in Ore­gon Kup­fer­plat­ten für die Bal­ti­mo­re Cop­per Smel­ting and Rol­ling Co. ge­la­den und we­gen ih­rer Schwe­re auf den Grund der Lu­ken ge­bet­tet hat­te. Nach­dem man in New York den üb­ri­gen Kar­go ge­löscht, konn­te man nun in Bal­ti­mo­re dar­an­ge­hen, den kup­fer­nen Grund an sei­nem Be­stim­mungs­ha­fen aus­zu­ge­ben.
Wir lu­den üb­ri­gens eben­so schwe­re Din­ge – Bal­ti­mo­re, Ma­ry­land, ist der Vor­ha­fen Penn­syl­va­ni­ens, des Stahl- und Ei­sen­lan­des –, Stahl­röh­ren, Rund­ei­sen, Zinn­blech. Auch drei La­st­au­tos schweb­ten vom Pier em­por und in den Schiffs­rumpf hin­ab.
Mö­wen schwirr­ten knapp über den pol­ni­schen Ar­bei­tern. Der Ha­fen, rie­sen­haft, war voll von Schif­fen. Die Fäh­ren mit den Wag­g­ons sind stark ge­wölbt, sie se­hen wie über­schwemm­te Ei­sen­bahn­brücken aus, de­ren Pfei­ler im Was­ser ste­hen. Drü­ben in Hull Street, rechts zu ebe­ner Erde, wohnt De­bo­rah. Tod­si­cher war der Whis­ky gif­tig, fast al­ler Al­ko­hol ist hier gif­tig.
Dave kam mich ho­len, führ­te mich zum Steu­er­mann und die­ser zum Ka­pi­tän. Dort un­ter­schrieb ich auf dem Um­schlag die Be­din­gun­gen, die in­nen auf ei­nem Bo­gen stan­den und mir gar nicht ge­zeigt wur­den.
Nun wur­de mir Ar­beit zu­ge­wie­sen; dar­über zu schrei­ben wer­de ich spä­ter noch Zeit fin­den, eben­so über das Mas­sen­quar­tier, in dem ich nun all­abend­lich in mei­ne Hän­ge­mat­te klet­ter­te.
Am 11. wa­ren wir in Nor­folk – ich glau­be, so schreibt sich das –, ei­nem Ha­fen in Vir­gi­nia, nah­men Erd­nüs­se, Zi­ga­ret­ten und Kar­bid. Nach Son­nen­un­ter­gang se­gel­ten wir zur Koh­len­schüt­te, wo ein gi­gan­ti­sches Klis­tier in den Un­ter­leib der »Han­na­wah« ge­senkt wur­de und sie­ben­hun­dert­fünf­zig Ton­nen hin­ein­spritz­te. Auf ei­nem kreis­run­den Ge­lei­se hoch über un­se­ren Häup­tern dreh­te sich don­nernd ein Ka­rus­sell von Koh­len­wag­g­ons.
Ein Lot­se kam an Bord. Er lenk­te uns vom Ozean in den Sa­v­an­nah Ri­ver, und am 14. war­fen wir im Ha­fen von Sa­v­an­nah An­ker. Ich be­kam den Auf­trag, Brie­fe auf­zu­ge­ben, und ging in die Stadt; am Abend pri­vat ein zwei­tes Mal.
Im Kino hör­te ich un­ter an­de­rem einen Sprech­film mit Ed­die Kan­tor, dem Kurt Bois von Ame­ri­ka. Man sieht ihn an­fangs, wie er am Te­le­fon das En­ga­ge­ment zu dem Sprech­film ab­schließt. »Soll ich in eng­li­scher Spra­che spie­len«, frag­te er, »oder ist es ein Film für New York?« Man kann das Bei­falls­ge­tram­pel des Pub­li­kums nicht schil­dern, mi­nu­ten­lang war kein wei­te­rer Witz des kost­spie­li­gen Ed­die ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Danke
  5. Newsletter abonnieren
  6. Vowort
  7. Der Doktor Becker vor den Pforten des Paradieses
  8. Vorabend, Tag und Nacht der Präsidentenwahl
  9. Käfige in Käfigen, die in Käfigen stecken
  10. Kapitol und Kapitale
  11. Tagebuch vom New Yorker Hafen
  12. Harlem – Fegefeuer der Neger
  13. Erstes Gespräch mit Upton Sinclair
  14. Gefängnisse auf einer Insel im East River
  15. Als Leichtmatrose nach Kalifornien
  16. Fauler Zauber
  17. Individualität, erzeugt am laufenden Band
  18. Hilfe! Grundstücke sind verrückt geworden
  19. Sechstausend Mal: ›Nothing in!‹
  20. Baggermaschinen baggern Gold
  21. Kriminalistik in Washington
  22. Seine Majestät der Kaugummi
  23. Nächtliches Gericht
  24. Mutterseelenallein in Philadelphia
  25. Menschenhandel in Hollywood
  26. Über Konfektionsarbeiter
  27. Friedhof reicher Hunde
  28. Bilderbogen: Tiefstes Chicago
  29. Eine Bank in Wall Street
  30. Henkersmahlzeit, verabreicht von Mister Stein
  31. Filmkostüme
  32. Mummenschanz und Quäkerstadt
  33. Sein Liedchen bläst der Postillon
  34. In einem Theater, das erschossen wurde
  35. Technische Wunderwerke der Wunderstadt Chicago
  36. Die Ballade von Sutter’s Fort
  37. Arbeit mit Charlie Chaplin
  38. Mit den Schwarzfahrern der Ozeane
  39. Getreidebörse
  40. In jedem Schubfach eine Leiche
  41. Hollywoods Natur, Kultur und Skulptur
  42. Bei Ford in Detroit
  43. Und das nennt sich Fußball!
  44. Vierzehn Dinge in Sing Sing
  45. Eine Stadt macht nichts als Hüte: Danbury
  46. »Tolle Kiste«
  47. Erlebt zwischen Hollywood und San Francisco
  48. Das weitere Verlagsprogramm