Die Leiden des jungen Werther
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Die Leiden des jungen Werther

  1. 194 Seiten
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Die Leiden des jungen Werther

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Über dieses Buch

Der junge Rechtspraktikant Werther berichtet in zahllosen Briefen über seine unglückliche Liebe zu der vergebenen Lotte. Eine Liebe, die ihn schließlich zerstören wird.Werthers Stimmung ist eine einzige Achterbahnfahrt. Wie alle unglücklich Verliebten versucht er jede Geste, jede Äußerung, jede Fürsprache der Angebeteten zu seinen Gunsten zu deuten, nur um kurz darauf wieder in bodenlose Apathie zu verfallen.Für Goethe war die Veröffentlichung ein riesiger Erfolg: Vorgestellt erstmalig auf der Leipziger Buchmesse 1774 wurde "Die Leiden des jungen Werthers" der größte deutsche Bestseller seiner Zeit, der sogar europaweit für Furore sorgte. "Die Leiden des jungen Werthers" gilt als Schlüsselroman der als "Sturm und Drang" bekannten literarischen Epoche.Goethe wählte für den "Werther" die Form des Briefromans. Erst gegen Ende des zweiten Teils wird dieser Briefwechsel durch Kommentare eines angeblichen Herausgebers ergänzt.Die Geschichte, obschon vom Autor als real geschildert, ist frei erfunden. Dennoch weißt sie viele biografische Züge aus Goethes Leben auf. Sein Freund Karl Wilhelm Jerusalem hatte sich wie Werther in eine verheiratete Frau verliebt und Selbstmord begangen. Die literarische Figur der Lotte trägt auch Züge einer realen Bekanntschaft des jungen Goethe aus der Entstehungszeit des Romans.Die Nachahmung des Suizids durch das Publikum prägte im Zuge einer aufkeimenden Medienkritik in den 1970er-Jahren erstmalig den Begriff "Werther-Effekt".Als Vorlage für diese digitale Ausgabe dienten folgende Veröffentlichungen: -J. J. Weber, Leipzig, 1922-J. G. Cotta'sche Verlagsbuchhandlung-Hammersmith, London, 1911Null Papier Verlag

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783962816544
Zweites Buch

Am 20. Oktober 1771

Ges­tern sind wir hier an­ge­langt. Der Ge­sand­te ist un­paß und wird sich also ei­ni­ge Tage ein­hal­ten. Wenn er nur nicht so un­hold wäre, wär’ al­les gut. Ich mer­ke, ich mer­ke, das Schick­sal hat mir har­te Prü­fun­gen zu­ge­dacht. Doch gu­ten Muts! Ein leich­ter Sinn trägt al­les! Ein leich­ter Sinn? Das macht mich zu la­chen, wie das Wort in mei­ne Fe­der kommt. O ein biss­chen leich­te­res Blut wür­de mich zum Glück­lichs­ten un­ter der Son­ne ma­chen. Was! Da, wo an­de­re mit ih­rem biss­chen Kraft und Ta­lent vor mir in be­hag­li­cher Selbst­ge­fäl­lig­keit her­um­schwa­dro­nie­ren, ver­zweifle ich an mei­ner Kraft, an mei­nen Ga­ben? Gu­ter Gott, der du mir das al­les schenk­test, warum hiel­test du nicht die Hälf­te zu­rück und gabst mir Selbst­ver­trau­en und Ge­nüg­sam­keit?
Ge­duld! Ge­duld! Es wird bes­ser wer­den. Denn ich sage dir, Lie­ber, du hast recht. Seit ich un­ter dem Vol­ke alle Tage her­um­ge­trie­ben wer­de und sehe, was sie tun und wie sie’s trei­ben, ste­he ich viel bes­ser mit mir selbst. Ge­wiss, weil wir doch ein­mal so ge­macht sind, dass wir al­les mit uns und uns mit al­lem ver­glei­chen, so liegt Glück oder Elend in den Ge­gen­stän­den, wo­mit wir uns zu­sam­men­hal­ten, und da ist nichts ge­fähr­li­cher als die Ein­sam­keit. Un­se­re Ein­bil­dungs­kraft, durch ihre Na­tur ge­drun­gen sich zu er­he­ben, durch die fan­tas­ti­schen Bil­der der Dicht­kunst ge­nährt, bil­det sich eine Rei­he We­sen hin­auf, wo wir das un­ters­te sind und al­les au­ßer uns herr­li­cher er­scheint, je­der an­de­re voll­komm­ner ist. Und das geht ganz na­tür­lich zu. Wir füh­len so oft, dass uns man­ches man­gelt, und eben was uns fehlt, scheint uns oft ein an­de­rer zu be­sit­zen, dem wir denn auch al­les dazu ge­ben, was wir ha­ben, und noch eine ge­wis­se idea­lis­ti­sche Be­hag­lich­keit dazu. Und so ist der Glück­li­che voll­kom­men fer­tig, das Ge­schöpf un­se­rer selbst.
Da­ge­gen, wenn wir mit all un­se­rer Schwach­heit und Müh­se­lig­keit nur ge­ra­de fort­ar­bei­ten, so fin­den wir gar oft, dass wir mit un­se­rem Schlen­dern und La­vie­ren es wei­ter brin­gen als an­de­re mit ih­rem Se­geln und Ru­dern – und – das ist doch ein wah­res Ge­fühl sei­ner selbst, wenn man an­de­ren gleich oder gar vor­läuft.

Am 26. November 1771

Ich fan­ge an, mich in­so­fern ganz leid­lich hier zu be­fin­den. Das bes­te ist, dass es zu tun ge­nug gibt; und dann die vie­ler­lei Men­schen, die al­ler­lei neu­en Ge­stal­ten ma­chen mir ein bun­tes Schau­spiel vor mei­ner See­le. Ich habe den Gra­fen C… ken­nen ler­nen, einen Mann, den ich je­den Tag mehr ver­eh­ren muss, einen wei­ten, großen Kopf, und der des­we­gen nicht kalt ist, weil er viel über­sieht; aus des­sen Um­gan­ge so viel Emp­fin­dung für Freund­schaft und Lie­be her­vor­leuch­tet. Er nahm teil an mir, als ich einen Ge­schäfts­auf­trag an ihn aus­rich­te­te und er bei den ers­ten Wor­ten merk­te, dass wir uns ver­stan­den, dass er mit mir re­den konn­te wie nicht mit je­dem. Auch kann ich sein off­nes Be­tra­gen ge­gen mich nicht ge­nug rüh­men. So eine wah­re, war­me Freu­de ist nicht in der Welt, als eine große See­le zu se­hen, die sich ge­gen einen öff­net.

Am 24. Dezember 1771

Der Ge­sand­te macht mir viel Ver­druss, ich habe es vor­aus­ge­sehn. Er ist der pünkt­lichs­te Narr, den es nur ge­ben kann; Schritt vor Schritt und um­ständ­lich wie eine Base; ein Mensch, der nie mit sich selbst zu­frie­den ist, und dem es da­her nie­mand zu Dan­ke ma­chen kann. Ich ar­bei­te gern leicht weg, und wie es steht, so steht es; da ist er im­stan­de, mir einen Auf­satz zu­rück­zu­ge­ben und zu sa­gen: »Er ist gut, aber se­hen Sie ihn durch, man fin­det im­mer ein bes­se­res Wort, eine rei­ne­re Par­ti­kel.« – Da möch­te ich des Teu­fels wer­den. Kein Und, kein Bin­de­wört­chen darf au­ßen­blei­ben, und von al­len In­ver­sio­nen, die mir manch­mal ent­fah­ren, ist er ein Tod­feind; wenn man sei­nen Pe­ri­od nicht nach der her­ge­brach­ten Me­lo­die her­a­bor­gelt, so ver­steht er gar nichts drin. Das ist ein Lei­den, mit so ei­nem Men­schen zu tun zu ha­ben.
Das Ver­trau­en des Gra­fen von C… ist noch das ein­zi­ge, was mich schad­los hält. Er sag­te mir letzthin ganz auf­rich­tig, wie un­zu­frie­den er mit der Lang­sam­keit und Be­denk­lich­keit mei­nes Ge­sand­ten sei. »Die Leu­te er­schwe­ren es sich und an­de­ren. Doch«, sag­te er, »man muss sich dar­ein re­si­gnie­ren wie ein Rei­sen­der, der über einen Berg muss; frei­lich, wäre der Berg nicht da, so wäre der Weg viel be­que­mer und kür­zer; er ist nun aber da, und man soll hin­über!« –
Mein Al­ter spürt auch wohl den Vor­zug, den mir der Graf vor ihm gibt, und das är­gert ihn, und er er­greift jede Ge­le­gen­heit, Übels ge­gen mich vom Gra­fen zu re­den, ich hal­te, wie na­tür­lich, Wi­der­part, und da­durch wird die Sa­che nur schlim­mer. Ges­tern gar brach­te er mich auf, denn ich war mit ge­meint: zu so Welt­ge­schäf­ten sei der Graf ganz gut, er habe vie­le Leich­tig­keit zu ar­bei­ten und füh­re eine gute Fe­der, doch an gründ­li­cher Ge­lehr­sam­keit man­gle es ihm wie al­len Bel­le­tris­ten. Dazu mach­te er eine Mie­ne, als ob er sa­gen woll­te: »Fühlst du den Stich?« Aber es tat bei mir nicht die Wir­kung; ich ver­ach­te­te den Men­schen, der so den­ken und sich so be­tra­gen konn­te. Ich hielt ihm stand und focht mit ziem­li­cher Hef­tig­keit. Ich sag­te, der Graf sei ein Mann, vor dem man Ach­tung ha­ben müs­se, we­gen sei­nes Cha­rak­ters so­wohl als we­gen sei­ner Kennt­nis­se. »Ich habe«, sag­t’ ich, »nie­mand ge­kannt, dem es so ge­glückt wäre, sei­nen Geist zu er­wei­tern, ihn über un­zäh­li­ge Ge­gen­stän­de zu ver­brei­ten und doch die­se Tä­tig­keit fürs ge­mei­ne Le­ben zu be­hal­ten.« – Das wa­ren dem Ge­hir­ne spa­ni­sche Dör­fer, und ich emp­fahl mich, um nicht über ein wei­te­res Derai­son­ne­ment noch mehr Gal­le zu schlu­cken.
Und dar­an seid ihr alle schuld, die ihr mich in das Joch ge­schwatzt und mir so viel von Ak­ti­vi­tät vor­ge­sun­gen habt. Ak­ti­vi­tät! Wenn nicht der mehr tut, der Kar­tof­feln legt und in die Stadt rei­tet, sein Korn zu ver­kau­fen, als ich, so will ich zehn Jah­re noch mich auf der Ga­lee­re ab­ar­bei­ten, auf der ich nun an­ge­schmie­det bin.
Und das glän­zen­de Elend, die Lan­ge­wei­le un­ter dem gars­ti­gen Vol­ke, das sich hier ne­ben ein­an­der sieht! Die Rang­sucht un­ter ih­nen, wie sie nur wa­chen und auf­pas­sen, ein­an­der ein Schritt­chen ab­zu­ge­win­nen; die elen­des­ten, er­bärm­lichs­ten Lei­den­schaf­ten, ganz ohne Röck­chen. Da ist ein Weib, zum Exem­pel, die je­der­mann von ih­rem Adel und ih­rem Lan­de un­ter­hält, so­dass je­der Frem­de den­ken muss: Das ist eine När­rin, die sich auf das biss­chen Adel und auf den Ruf ih­res Lan­des Wun­der­strei­che ein­bil­det. – Aber es ist noch viel är­ger: eben das Weib ist hier aus der Nach­bar­schaft eine Amt­schrei­ber­s­toch­ter. – Sieh, ich kann das Men­schen­ge­schlecht nicht be­grei­fen, das so we­nig Sinn hat, um sich so platt zu pro­sti­tu­ie­ren.
Zwar ich mer­ke täg­lich mehr, mein Lie­ber, wie tö­richt man ist, an­de­re nach sich zu be­rech­nen. Und weil ich so viel mit mir selbst zu tun habe und die­ses Herz so stür­misch ist – ach ich las­se gern die an­de­ren ih­res Pfa­des ge­hen, wenn sie mich auch nur könn­ten ge­hen las­sen.
Was mich am meis­ten neckt, sind die fa­ta­len bür­ger­li­chen Ver­hält­nis­se. Zwar weiß ich so gut als ei­ner, wie nö­tig der Un­ter­schied der Stän­de ist, wie viel Vor­tei­le er mir selbst ver­schafft: nur soll er mir nicht eben ge­ra­de im Wege ste­hen, wo ich noch ein we­nig Freu­de, einen Schim­mer von Glück auf die­ser Erde ge­nie­ßen könn­te. Ich lern­te neu­lich auf dem Spa­zier­gan­ge ein Fräu­lein von B… ken­nen, ein lie­bens­wür­di­ges Ge­schöpf, das sehr vie­le Na­tur mit­ten in dem stei­fen Le­ben er­hal­ten hat. Wir ge­fie­len uns in un­se­rem Ge­sprä­che, und da wir schie­den, bat ich sie um Er­laub­nis, sie bei sich se­hen zu dür­fen. Sie ge­stat­te­te mir das mit so vie­ler Frei­mü­tig­keit, dass ich den schick­li­chen Au­gen­blick kaum er­war­ten konn­te, zu ihr zu ge­hen. Sie ist nicht von hier und wohnt bei ei­ner Tan­te im Hau­se. Die Phy­sio­gno­mie der Al­ten ge­fiel mir nicht. Ich be­zeig­te ihr viel Auf­merk­sam­keit, mein Ge­spräch war meist an sie ge­wandt, und in min­der als ei­ner hal­b­en Stun­de hat­te ich so ziem­lich weg, was mir das Fräu­lein nach­her selbst ge­stand: dass die lie­be Tan­te in ih­rem Al­ter Man­gel von al­lem, kein an­stän­di­ges Ver­mö­gen, kei­nen Geist und kei­ne Stüt­ze hat als die Rei­he ih­rer Vor­fah­ren, kei­nen Schirm als den Stand, in den sie sich ver­pa­li­sa­diert, und kein Er­get­zen, als von ih­rem Stock­werk her­ab über die bür­ger­li­chen Häup­ter weg­zu­se­hen. In ih­rer Ju­gend soll sie schön ge­we­sen sein und ihr Le­ben weg­ge­gau­kelt, erst mit ih­rem Ei­gen­sin­ne man­chen ar­men Jun­gen ge­quält, und in den rei­fern Jah­ren sich un­ter den Ge­hor­sam ei­nes al­ten Of­fi­ziers ge­duckt ha­ben, der ge­gen die­sen Preis und einen leid­li­chen Un­ter­halt das eher­ne Jahr­hun­dert mit ihr zu­brach­te und starb. Nun sieht sie im ei­ser­nen sich al­lein und wür­de nicht an­ge­sehn, wär’ ihre Nich­te nicht so lie­bens­wür­dig.

Den 8. Januar 1772

Was das für Men­schen sind, de­ren gan­ze See­le auf dem Ze­re­mo­ni­ell ruht, de­ren Dich­ten und Trach­ten jah­re­lang da­hin geht, wie sie um einen Stuhl wei­ter hin­auf bei Ti­sche sich ein­schie­ben wol­len! Und nicht, dass sie sonst kei­ne An­ge­le­gen­heit hät­ten: nein, viel­mehr häu­fen sich die Ar­bei­ten, eben weil man über den klei­nen Ver­drieß­lich­kei­ten von Be­för­de­rung der wich­ti­gen Sa­chen ab­ge­hal­ten wird. Vo­ri­ge Wo­che gab es bei der Schlit­ten­fahrt Hän­del, und der gan­ze Spaß wur­de ver­dor­ben.
Die To­ren, die nicht se­hen, dass es ei­gent­lich auf den Platz gar nicht an­kommt, und dass der, der den ers­ten hat, so sel­ten die ers­te Rol­le spielt! Wie man­cher Kö­nig wird durch sei­nen Mi­nis­ter, wie man­cher Mi­nis­ter durch sei­nen Se­kre­tär re­giert! Und wer ist dann der Ers­te? Der, dünkt mich, der die an­de­ren über­sieht und so viel Ge­walt oder List hat, ihre Kräf­te und Lei­den­schaf­ten zu Aus­füh­rung sei­ner Pla­ne an­zu­span­nen.

Am 20. Januar

Ich muss Ih­nen schrei­ben, lie­be Lot­te, hier in der Stu­be ei­ner ge­rin­gen Bau­ern­her­ber­ge, in die ich mich vor ei­nem schwe­ren Wet­ter ge­flüch­tet habe. So­lan­ge ich in dem trau­ri­gen Nest D…, un­ter dem frem­den, mei­nem Her­zen ganz frem­den Vol­ke her­um­zie­he, habe ich kei­nen Au­gen­blick ge­habt, kei­nen, an dem mein Herz mich ge­hei­ßen hät­te, Ih­nen zu schrei­ben; und jetzt in die­ser Hüt­te, in die­ser Ein­sam­keit, in die­ser Ein­schrän­kung, da Schnee und Schlos­sen wi­der mein Fens­ter­chen wü­ten, hier wa­ren Sie mein ers­ter Ge­dan­ke. Wie ich her­ein­trat, über­fiel mich Ihre Ge­stalt, Ihr An­den­ken, o Lot­te! So hei­lig, so warm! Gu­ter Gott! Der ers­te glück­li­che Au­gen­blick wie­der.
Wenn Sie mich sä­hen, mei­ne Bes­te, in dem Schwall von Zer­streu­ung! Wie aus­ge­trock­net mei­ne Sin­ne wer­den! Nicht einen Au­gen­blick der Fül­le des Her­zens, nicht eine se­li­ge Stun­de! Nichts! Nichts! Ich ste­he wie vor ei­nem Ra­ri­tä­ten­kas­ten und sehe die Männ­chen und Gäul­chen vor mir her­um­rücken, und fra­ge mich oft, ob es nicht op­ti­scher Be­trug ist. Ich spie­le mit, viel­mehr, ich wer­de ge­spielt wie eine Ma­rio­net­te und fas­se manch­mal mei­nen Nach­bar an der höl­zer­nen Hand und schau­de­re zu­rück. Des Abends neh­me ich mir vor, den Son­nen­auf­gang zu ge­nie­ßen, und kom­me nicht aus dem Bet­te; am Tage hof­fe ich, mich des Mond­scheins zu er­freu­en, und blei­be in mei­ner Stu­be. Ich weiß nicht recht, warum ich auf­ste­he, warum ich schla­fen gehe.
Der Sau­er­teig, der mein Le­ben in Be­we­gung setz­te, fehlt; der Reiz, der mich in tie­fen Näch­ten mun­ter er­hielt, ist hin, der mich des Mor­gens aus dem Schla­fe weck­te, ist weg.
Ein ein­zig weib­li­ches Ge­schöpf habe ich hier ge­fun­den, eine Fräu­lein von B…, sie gleicht Ih­nen, lie­be Lot­te, wenn man Ih­nen glei­chen kann. »Ei!« wer­den Sie sa­gen, »der Mensch legt sich auf nied­li­che Kom­pli­men­te!« Ganz un­wahr ist es nicht. Seit ei­ni­ger Zeit bin ich sehr ar­tig, weil ich doch nicht an­ders sein kann, habe viel Witz, und die Frau­en­zim­mer sa­gen, es wüss­te nie­mand so fein zu lo­ben als ich (und zu lü­gen, set­zen Sie hin­zu, denn ohne das geht es nicht ab, ver­ste­hen Sie?). Ich woll­te von Fräu­lein B… re­den. Sie hat viel See­le, die voll aus ih­ren blau­en Au­gen her­vor­blickt. Ihr Stand ist ihr zur Last, der kei­nen der Wün­sche ih­res Her­zens be­frie­digt. Sie sehnt sich aus dem Ge­tüm­mel, und wir ver­fan­ta­sie­ren man­che Stun­de in länd­li­chen Sze­nen von un­ge­misch­ter Glück­se­lig­keit; ach! und von Ih­nen! Wie oft muss sie Ih­nen hul­di­gen, muss nicht, tut es frei­wil­lig, hört so gern von Ih­nen, liebt Sie. – O säß’ ich zu Ihren Fü­ßen in dem lie­ben, ver­trau­li­chen Zim­mer­chen, und un­se­re klei­nen Lie­ben wälz­ten sich mit­ein­an­der um mich her­um, und wenn sie Ih­nen zu laut wür­den, woll­te ich sie mit ei­nem schau­er­li­chen Mär­chen um mich zur Ruhe ver­sam­meln.
Die Son­ne geht herr­lich un­ter über der schnee­glän­zen­den Ge­gend, der Sturm ist hin­über ge­zo­gen, und ich – muss mich wie­der in mei­nen Kä­fig sper­ren. – Adieu! Ist Al­bert bei Ih­nen? Und wie –? Gott ver­zei­he mir die­se Fra­ge!

Den 8. Februar

Wir ha­ben seit acht Ta­gen das ab­scheu­lichs­te Wet­ter, und mir ist es wohl­tä­tig. Denn so lang ich hier bin, ist mir noch kein schö­ner Tag am Him­mel er­schie­nen, den mir nicht je­mand ver­dor­ben oder ver­lei­det hät­te. Wenn’s nun recht reg­net und stö­bert und frös­telt und taut: Ha! Denk’ ich, kann’s doch zu Hau­se nicht schlim­mer wer­den, als es drau­ßen ist, oder um­ge­kehrt, und so ist’s gut. Geht die Son­ne des Mor­gens auf und ver­spricht einen fei­nen Tag, er­wehr’ ich mir nie­mals aus­zu­ru­fen: Da ha­ben sie doch wie­der ein himm­li­sches Gut, worum sie ein­an­der brin­gen kön­nen! Es ist nichts, worum sie ein­an­der nicht brin­gen. Ge­sund­heit, gu­ter Name, Freu­dig­keit, Er­ho­lung! Und meist aus Al­bern­heit, Un­be­griff und Enge und, wenn man sie an­hört, mit der bes­ten Mei­nung. Manch­mal möcht’ ich sie auf den Kni­en bit­ten, nicht so ra­send in ihre ei­ge­nen Ein­ge­wei­de zu wü­ten.

Am 17. Februar

Ich fürch­te, mein Ge­sand­ter und ich hal­ten es zu­sam­men nicht mehr lan­ge aus. Der Mann ist ganz und gar un­er­träg­lich. Sei­ne Art zu ar­bei­ten und Ge­schäf­te zu trei­ben ist so lä­cher­lich, dass ich mich nicht ent­hal­ten kann, ihm zu wi­der­spre­chen und oft eine Sa­che nach mei­nem Kopf und mei­ner Art zu ma­chen, das ihm denn, wie na­tür­lich, nie­mals recht ist. Dar­über hat er mich neu­lich bei Hofe ver­klagt, und der Mi­nis­ter gab mir einen zwar sanf­ten Ver­weis, aber es war doch ein Ver­weis, und ich stand im Be­grif­fe, mei­nen Ab­schied zu be­geh­ren, als ich einen Pri­vat­brief1 von ihm er­hielt, einen Brief, vor dem ich nie­der­ge­kniet, und den ho­hen, ed­len, wei­sen Sinn an­ge­be­tet habe. Wie er mei­ne all­zu große Emp­find­lich­keit zu­recht­wei­set, wie er mei­ne über­spann­ten Ide­en von Wirk­sam­keit, von Ein­fluss auf an­de­re, von Durch­drin­gen in Ge­schäf­ten als ju­gend­li­chen gu­ten Mut zwar ehrt, sie nicht aus­zu­rot­ten, nur zu mil­dern und da­hin zu lei­ten sucht, wo sie ihr wah­res Spiel ha­ben, ihre kräf­ti­ge Wir­kung tun kön­nen. Auch bin ich auf acht Tage ge­stärkt und in mir selbst ei­nig ge­wor­den. Die Ruhe der See­le ist ein herr­li­ches Ding und die Freu­de an sich selbst. Lie­ber Freund, wenn nur das Klein­od nicht eben so zer­brech­lich wäre, als es schön und kost­bar ist.

  1. Man hat aus Ehr­furcht für die­sen treff­li­chen Herrn ge­dach­ten Brief und einen an­de­ren, des­sen wei­ter hin­ten er­wähnt wird, die­ser Samm­lung ent­zo­gen, weil man nicht glaub­te, eine sol­che Kühn­heit durch den wärms­ten Dank des Pub­li­kums ent­schul­di­gen zu kön­nen. <<<

Am 20. Februar

Gott seg­ne euch, mei­ne Lie­ben, geb’ euch alle die gu­ten Tage, die er mir ab­zieht!
Ich dan­ke dir, Al­bert, dass du mich be­tro­gen hast: ich war­te­te auf Nach­richt, wann euer Hoch­zeits­tag sein wür­de, und hat­te mir vor­ge­nom­men, fei­er­lichst an dem­sel­ben Lot­tens Schat­ten­riss von der Wand zu neh­men und ihn un­ter an­de­re Pa­pie­re zu be­gra­ben. Nun seid ihr ein Paar, und ihr Bild ist noch hier! Nun, so soll es blei­ben! Und warum nicht? Ich weiß, ich bin ja auch bei euch, bin dir un­be­scha­det in Lot­tens Her­zen, habe, ja ich habe den zwei­ten Platz dar­in und will und muss ihn be­hal­ten. O ich wür­de ra­send wer­den, wenn sie ver­ges­sen könn­te – Al­bert, in dem Ge­dan­ken liegt eine Höl­le. Al­bert, leb’ wohl! Leb’ wohl, En­gel des Him­mels! Leb’ wohl, Lot­te!

Den 15. März

Ich habe einen Ver­druss ge­habt, der mich von hier weg­trei­ben wird. Ich knir­sche mit den Zäh­nen! Teu­fel! Er ist nicht zu er­set­zen, und ihr seid doch al­lein schuld dar­an, die ihr mich sporn­tet und triebt und quäl­tet, mich in einen Pos­ten zu be­ge­ben, der nicht nach mei­nem Sin­ne war. Nun habe ich’s! Nun habt ih­r’s! Und dass du nicht wie­der sagst, mei­ne über­spann­ten Ide­en ver­dür­ben al­les, so hast du hier, lie­ber Herr, eine Er­zäh­lung, plan und nett, wie ein Chro­ni­ken­schrei­ber das auf­zeich­nen wür­de.
Der Graf von C… liebt mich, dis­tin­guiert mich, das ist be­kannt, das habe ich dir schon hun­dert­mal ge­sagt. Nun war ich ges­tern bei ihm zu Ta­fel, eben an dem Tage, da abends die no­ble Ge­sell­schaft von Her­ren und Frau­en bei ihm zu­sam­men­kommt, an die ich nie ge­dacht habe, auch mir nie auf­ge­fal­len ist, dass wir Su­bal­ter­nen nicht hin­ein­ge­hö­ren. Gut. Ich spei­se bei dem Gra­fen, und nach Ti­sche gehn wir in dem großen Saal auf und ab, ich rede mit ihm, mit dem Obris­ten B…, der dazu kommt, und so rückt die Stun­de der Ge­sell­schaft her­an. Ich den­ke, Gott weiß, an nichts. Da tritt her­ein die über­gnä­di­ge Dame von S… mit ih­rem Herrn Ge­mahl und wohl aus­ge­brü­te­ten Gäns­lein Toch­ter mit der fla­chen Brust und nied­li­chem Schnür­lei­be, ma­chen en passant ihre her­ge­brach­ten, hoch­ade­li­gen Au­gen und Nas­lö­cher, und wie mir die Na­ti­on von Her­zen zu­wi­der ist, woll­te ich mich eben emp­feh­len und war­te­te nur, bis der Graf vom gars­ti­gen Ge­wä­sche frei wäre, als mei­ne Fräu­lein B… her­ein­trat. Da mir das Herz im­mer ein biss­chen auf­geht, wenn ich sie sehe, blieb ich eben, stell­te mich hin­ter ih­ren Stuhl und be­merk­te erst nach ei­ni­ger Zeit, dass sie mit we­ni­ger Of­fen­heit als sonst, mit ei­ni­ger Ver­le­gen­heit mit mir re­de­te. Das fiel mir auf. Ist sie auch wie all das Volk, dacht’ ich, und war an­ge­sto­chen und woll­te ge­hen, und doch blieb ich, weil ich sie ger­ne ent­schul­digt hät­te und es nicht glaub­te und noch ein gut Wort von ihr hoff­te und – was du willst. Un­ter­des­sen füll­te sich die Ge­sell­schaft. Der Baron F… mit der gan­zen Gar­de­ro­be von den Krö­nungs­zei­ten Franz des Ers­ten her, der Ho­frat R…, hier aber in qua­li­ta­te Herr von R… ge­nannt, mit sei­ner tau­ben Frau etc., den übel four­nier­ten J… nicht zu ver­ges­sen, der die Lücken sei­ner alt­frän­ki­schen Gar­de­ro­be mit neu­mo­di­schen Lap­pen aus­flickt, das kommt zu Hauf, und ich rede mit ei­ni­gen mei­ner Be­kannt­schaft, die alle sehr la­ko­nisch sind. Ich dach­te – und gab nur auf mei­ne B… acht. Ich merk­te nicht, dass die Wei­ber am Ende des Saa­l­es sich in die Ohren flüs­ter­ten, dass es auf die Män­ner zir­ku­lier­te, dass Frau von S… mit dem Gra­fen re­de­te (das al­les hat mir Fräu­lein B… nach­her er­zählt), bis end­lich der Graf auf mich los­ging und mich in ein Fens­ter nahm. – »Sie wis­sen«, sag­t’ er, »un­se­re wun­der­b...

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  9. Zweites Buch
  10. Das weitere Verlagsprogramm