Wilhelm Meisters Wanderjahre
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Wilhelm Meisters Wanderjahre

oder die Entsagenden

  1. 718 Seiten
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Wilhelm Meisters Wanderjahre

oder die Entsagenden

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Über dieses Buch

Fassung in aktueller RechtschreibungWilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden ist ein spät vollendeter Roman von Johann Wolfgang von Goethe. Er gilt als die persönlichste aller Goethe'schen Dichtungen. 1821 erschien die erste Fassung, 1829 die vollständige.Als Vorlage für diese digitale Ausgabe dienten folgende Veröffentlichungen: -Sämtliche Werke, Insel-Verlag, Leipzig, 1982-Wilhelm Meisters Wanderjahre, Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1961-Verlag Gottfried Basse, Quedlinburg und Leipzig, 1821Null Papier Verlag

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783962816650
Auflage
1
Zweites Buch

Erstes Kapitel

Die Wall­fah­ren­den hat­ten nach Vor­schrift den Weg ge­nom­men und fan­den glück­lich die Gren­ze der Pro­vinz, in der sie so man­ches Merk­wür­di­ge er­fah­ren soll­ten; beim ers­ten Ein­tritt ge­wahr­ten sie so­gleich der frucht­bars­ten Ge­gend, wel­che an sanf­ten Hü­geln den Feld­bau, auf hö­hern Ber­gen die Schaf­zucht, in wei­ten Tal­flä­chen die Vieh­zucht be­güns­tig­te. Es war kurz vor der Ern­te und al­les in größ­ter Fül­le; das, was sie je­doch gleich in Ver­wun­de­rung setz­te, war, dass sie we­der Frau­en noch Män­ner, wohl aber durch­aus Kna­ben und Jüng­lin­ge be­schäf­tigt sa­hen, auf eine glück­li­che Ern­te sich vor­zu­be­rei­ten, ja auch schon auf ein fröh­li­ches Ern­te­fest freund­li­che An­stalt zu tref­fen. Sie be­grüß­ten einen und den an­de­ren und frag­ten nach dem Obern, von des­sen Auf­ent­halt man kei­ne Re­chen­schaft ge­ben konn­te. Die Adres­se ih­res Briefs lau­te­te: »An den Obern, oder die Dreie.« Auch hier­in konn­ten sich die Kna­ben nicht fin­den; man wies die Fra­gen­den je­doch an einen Auf­se­her, der eben das Pferd zu be­stei­gen sich be­rei­te­te; sie er­öff­ne­ten ihre Zwe­cke; des Fe­lix Frei­mü­tig­keit schi­en ihm zu ge­fal­len, und so rit­ten sie zu­sam­men die Stra­ße hin.
Schon hat­te Wil­helm be­merkt, dass in Schnitt und Far­be der Klei­der eine Man­nig­fal­tig­keit ob­wal­te­te, die der gan­zen klei­nen Völ­ker­schaft ein son­der­ba­res An­sehn gab; eben war er im Be­griff, sei­nen Beglei­ter hier­nach zu fra­gen, als noch eine wun­der­sa­me­re Be­mer­kung sich ihm auf­tat: alle Kin­der, sie moch­ten be­schäf­tigt sein, wie sie woll­ten, lie­ßen ihre Ar­beit lie­gen und wen­de­ten sich mit be­son­dern, aber ver­schie­de­nen Ge­bär­den ge­gen die Vor­bei­rei­ten­den, und es war leicht zu fol­gern, dass es dem Vor­ge­setz­ten galt. Die jüngs­ten leg­ten die Arme kreuzweis über die Brust und blick­ten fröh­lich gen Him­mel, die mitt­lern hiel­ten die Arme auf den Rücken und schau­ten lä­chelnd zur Erde, die drit­ten stan­den strack und mu­tig; die Arme nie­der­ge­senkt, wen­de­ten sie den Kopf nach der rech­ten Sei­te und stell­ten sich in eine Rei­he, an­statt dass jene ver­ein­zelt blie­ben, wo man sie traf.
Als man dar­auf halt­mach­te und ab­stieg, wo eben meh­re­re Kin­der nach ver­schie­de­ner Wei­se sich auf­stell­ten und von dem Vor­ge­setz­ten ge­mus­tert wur­den, frag­te Wil­helm nach der Be­deu­tung die­ser Ge­bär­den; Fe­lix fiel ein und sag­te mun­ter: »Was für eine Stel­lung hab’ ich denn ein­zu­neh­men?« – »Auf alle Fäl­le«, ver­setz­te der Auf­se­her, »zu­erst die Arme über die Brust und ernst­haft-froh nach oben ge­se­hen, ohne den Blick zu ver­wen­den.« Er ge­horch­te, doch rief er bald: »Dies ge­fällt mir nicht son­der­lich, ich sehe ja nichts da dro­ben; dau­ert es lan­ge? Doch ja!« rief er freu­dig, »ein paar Ha­bich­te flie­gen von Wes­ten nach Os­ten; das ist wohl ein gu­tes Zei­chen?« – »Wienach du’s auf­nimmst, je nach­dem du dich be­trägst«, ver­setz­te je­ner; »jetzt mi­sche dich un­ter sie, wie sie sich mi­schen.« Er gab ein Zei­chen, die Kin­der ver­lie­ßen ihre Stel­lung, er­grif­fen ihre Be­schäf­ti­gung oder spiel­ten wie vor­her.
»Mö­gen und kön­nen Sie mir«, sag­te Wil­helm dar­auf, »das, was mich hier in Ver­wun­de­rung setzt, er­klä­ren? Ich sehe wohl, dass die­se Ge­bär­den, die­se Stel­lun­gen Grü­ße sind, wo­mit man Sie emp­fängt.« – »Ganz rich­tig«, ver­setz­te je­ner, »Grü­ße, die mir so­gleich an­deu­ten, auf wel­cher Stu­fe der Bil­dung ein je­der die­ser Kna­ben steht.«
»Dür­fen Sie mir aber«, ver­setz­te Wil­helm, »die Be­deu­tung des Stu­fen­gangs wohl er­klä­ren? denn dass es ei­ner sei, lässt sich wohl ein­se­hen.« – »Dies ge­bührt Hö­he­ren, als ich bin«, ant­wor­te­te je­ner; »so viel aber kann ich ver­si­chern, dass es nicht lee­re Gri­mas­sen sind, dass viel­mehr den Kin­dern zwar nicht die höchs­te, aber doch eine lei­ten­de, fass­li­che Be­deu­tung über­lie­fert wird; zu­gleich aber ist je­dem ge­bo­ten, für sich zu be­hal­ten und zu he­gen, was man ihm als Be­scheid zu er­tei­len für gut fin­det; sie dür­fen we­der mit Frem­den noch un­ter ein­an­der selbst dar­über schwat­zen, und so mo­di­fi­ziert sich die Leh­re hun­dert­fäl­tig. Au­ßer­dem hat das Ge­heim­nis sehr große Vor­tei­le: denn wenn man dem Men­schen gleich und im­mer sagt, wor­auf al­les an­kommt, so denkt er, es sei nichts da­hin­ter. Ge­wis­sen Ge­heim­nis­sen, und wenn sie of­fen­bar wä­ren, muss man durch Ver­hül­len und Schwei­gen Ach­tung er­wei­sen, denn die­ses wirkt auf Scham und gute Sit­ten.« – »Ich ver­ste­he Sie«, ver­setz­te Wil­helm, »warum soll­ten wir das, was in kör­per­li­chen Din­gen so nö­tig ist, nicht auch geis­tig an­wen­den? Vi­el­leicht aber kön­nen Sie in ei­nem an­de­ren Be­zug mei­ne Neu­gier­de be­frie­di­gen. Die große Man­nig­fal­tig­keit in Schnitt und Far­be der Klei­der fällt mir auf, und doch seh’ ich nicht alle Far­ben, aber ei­ni­ge in al­len ih­ren Ab­stu­fun­gen, vom Hells­ten bis zum Dun­kels­ten. Doch be­mer­ke ich, dass hier kei­ne Be­zeich­nung der Stu­fen ir­gend­ei­nes Al­ters oder Ver­diens­tes ge­meint sein kann, in­dem die kleins­ten und größ­ten Kna­ben un­ter­mischt so an Schnitt als Far­be gleich sein kön­nen, aber die von glei­chen Ge­bär­den im Ge­wand nicht mit­ein­an­der über­ein­stim­men.« – »Auch was dies be­trifft«, ver­setz­te der Beglei­ten­de, »darf ich mich nicht wei­ter aus­las­sen; doch müss­te ich mich sehr ir­ren, oder Sie wer­den über al­les, wie Sie nur wün­schen mö­gen, auf­ge­klärt von uns schei­den.«
Man ver­folg­te nun­mehr die Spur des Obern, wel­che man ge­fun­den zu ha­ben glaub­te; nun aber muss­te dem Fremd­ling not­wen­dig auf­fal­len, dass, je wei­ter sie ins Land ka­men, ein wohl­lau­ten­der Ge­sang ih­nen im­mer mehr ent­ge­gen­tön­te. Was die Kna­ben auch be­gan­nen, bei wel­cher Ar­beit man sie auch fand, im­mer san­gen sie, und zwar schie­nen es Lie­der je­dem Ge­schäft be­son­ders an­ge­mes­sen und in glei­chen Fäl­len über­all die­sel­ben. Tra­ten meh­re­re Kin­der zu­sam­men, so be­glei­te­ten sie sich wech­sel­wei­se; ge­gen Abend fan­den sich auch Tan­zen­de, de­ren Schrit­te durch Chö­re be­lebt und ge­re­gelt wur­den. Fe­lix stimm­te vom Pfer­de her­ab mit ein, und zwar nicht ganz un­glück­lich, Wil­helm ver­gnüg­te sich an die­ser die Ge­gend be­le­ben­den Un­ter­hal­tung.
»Wahr­schein­lich«, so sprach er zu sei­nem Ge­fähr­ten, »wen­det man vie­le Sorg­falt auf sol­chen Un­ter­richt, denn sonst könn­te die­se Ge­schick­lich­keit nicht so weit aus­ge­brei­tet und so voll­kom­men aus­ge­bil­det sein.« – »Al­ler­dings«, ver­setz­te je­ner, »bei uns ist der Ge­sang die ers­te Stu­fe der Bil­dung, al­les an­de­re schließt sich dar­an und wird da­durch ver­mit­telt. Der ein­fachs­te Ge­nuss so­wie die ein­fachs­te Leh­re wer­den bei uns durch Ge­sang be­lebt und ein­ge­prägt, ja selbst was wir über­lie­fern von Glau­bens- und Sit­ten­be­kennt­nis, wird auf dem Wege des Ge­san­ges mit­ge­teilt; an­de­re Vor­tei­le zu selbst­tä­ti­gen Zwe­cken ver­schwis­tern sich so­gleich: denn in­dem wir die Kin­der üben, Töne, wel­che sie her­vor­brin­gen, mit Zei­chen auf die Ta­fel schrei­ben zu ler­nen und nach An­lass die­ser Zei­chen so­dann in ih­rer Keh­le wie­der­zu­fin­den, fer­ner den Text dar­un­ter­zu­fü­gen, so üben sie zu­gleich Hand, Ohr und Auge und ge­lan­gen schnel­ler zum Recht- und Schön­schrei­ben, als man denkt, und da die­ses al­les zu­letzt nach rei­nen Ma­ßen, nach ge­nau be­stimm­ten Zah­len aus­ge­übt und nach­ge­bil­det wer­den muss, so fas­sen sie den ho­hen Wert der Mess- und Re­chen­kunst viel ge­schwin­der als auf jede an­de­re Wei­se. Des­halb ha­ben wir denn un­ter al­lem Denk­ba­ren die Mu­sik zum Ele­ment un­se­rer Er­zie­hung ge­wählt, denn von ihr lau­fen gleich­ge­bahn­te Wege nach al­len Sei­ten.«
Wil­helm such­te sich noch wei­ter zu un­ter­rich­ten und ver­barg sei­ne Ver­wun­de­rung nicht, dass er gar kei­ne In­stru­men­tal­mu­sik ver­neh­me. »Die­se wird bei uns nicht ver­nach­läs­sigt«, ver­setz­te je­ner, »aber in einen be­son­dern Be­zirk, in das an­mu­tigs­te Berg­tal, ein­ge­schlos­sen ge­übt; und da ist denn wie­der da­für ge­sorgt, dass die ver­schie­de­nen In­stru­men­te in aus­ein­an­der­lie­gen­den Ort­schaf­ten ge­lehrt wer­den. Be­son­ders die Mis­s­tö­ne der An­fän­ger sind in ge­wis­se Ein­sie­de­lei­en ver­wie­sen, wo sie nie­mand zur Verzweif­lung brin­gen: denn Ihr wer­det selbst ge­ste­hen, dass in der woh­lein­ge­rich­te­ten bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft kaum ein trau­ri­ger Lei­den zu dul­den sei, als das uns die Nach­bar­schaft ei­nes an­ge­hen­den Flö­ten- oder Vio­lin­spie­lers auf­dringt.
Un­se­re An­fän­ger ge­hen, aus ei­ge­ner löb­li­cher Ge­sin­nung, nie­mand läs­tig sein zu wol­len, frei­wil­lig län­ger oder kür­zer in die Wüs­te und be­ei­fern sich, ab­ge­son­dert, um das Ver­dienst, der be­wohn­ten Welt nä­her­tre­ten zu dür­fen, wes­halb je­dem von Zeit zu Zeit ein Ver­such, her­an­zu­tre­ten, er­laubt wird, der sel­ten miss­lingt, weil wir Scham und Scheu bei die­ser wie bei un­sern üb­ri­gen Ein­rich­tun­gen gar wohl he­gen und pfle­gen dür­fen. Dass Eu­rem Sohn eine glück­li­che Stim­me ge­wor­den, freut mich in­nigst, für das üb­ri­ge sorgt sich um de­sto leich­ter.«
Nun wa­ren sie zu ei­nem Ort ge­langt, wo Fe­lix ver­wei­len und sich an der Um­ge­bung prü­fen soll­te, bis man zur förm­li­chen Auf­nah­me ge­neigt wäre; schon von wei­tem hör­ten sie einen freu­di­gen Ge­sang; es war ein Spiel, wor­an sich die Kna­ben in der Fei­er­stun­de dies­mal er­götz­ten. Ein all­ge­mei­ner Chor­ge­sang er­scholl, wozu je­des Glied ei­nes wei­ten Krei­ses freu­dig, klar und tüch­tig an sei­nem Tei­le zu­stimm­te, den Win­ken des Re­geln­den ge­hor­chend. Die­ser über­rasch­te je­doch öf­ters die Sin­gen­den, in­dem er durch ein Zei­chen den Chor­ge­sang auf­hob und ir­gend­ei­nen ein­zel­nen Teil­neh­men­den, ihn mit dem Stäb­chen be­rüh­rend, auf­for­der­te, so­gleich al­lein ein schick­li­ches Lied dem ver­hal­len­den Ton, dem vor­schwe­ben­den Sin­ne an­zu­pas­sen. Schon zeig­ten die meis­ten viel Ge­wandt­heit, ei­ni­ge, de­nen das Kunst­stück miss­lang, ga­ben ihr Pfand wil­lig hin, ohne ge­ra­de aus­ge­lacht zu wer­den. Fe­lix war Kind ge­nug, sich gleich un­ter sie zu mi­schen, und zog sich noch so leid­lich aus der Sa­che. So­dann ward ihm je­ner ers­te Gruß zu­ge­eig­net; er leg­te so­gleich die Hän­de auf die Brust, blick­te auf­wärts, und zwar mit so schnacki­scher Mie­ne, dass man wohl be­mer­ken konn­te, ein ge­hei­mer Sinn da­bei sei ihm noch nicht auf­ge­gan­gen.
Der an­ge­neh­me Ort, die gute Auf­nah­me, die mun­tern Ge­spie­len, al­les ge­fiel dem Kna­ben so wohl, dass es ihm nicht son­der­lich wehe tat, sei­nen Va­ter ab­rei­sen zu se­hen; fast blick­te er dem weg­ge­führ­ten Pfer­de schmerz­li­cher nach; doch ließ er sich be­deu­ten, da er ver­nahm, dass er es im ge­gen­wär­ti­gen Be­zirk nicht be­hal­ten kön­ne; man ver­sprach ihm da­ge­gen, er sol­le, wo nicht das­sel­be, doch ein glei­ches, mun­ter und wohl­ge­zo­gen, un­er­war­tet wie­der­fin­den.
Da sich der Obe­re nicht er­rei­chen ließ, sag­te der Auf­se­her: »Ich muss Euch nun ver­las­sen, mei­ne Ge­schäf­te zu ver­fol­gen; doch will ich Euch zu den Drei­en brin­gen, die un­sern Hei­lig­tü­mern vor­ste­hen, Euer Brief ist auch an sie ge­rich­tet, und sie zu­sam­men stel­len den Obern vor.« Wil­helm hät­te ge­wünscht, von den Hei­lig­tü­mern im Voraus zu ver­neh­men, je­ner aber ver­setz­te: »Die Dreie wer­den Euch, zu Er­wi­de­rung des Ver­trau­ens, dass Ihr uns Eu­ren Sohn über­lasst, nach Weis­heit und Bil­lig­keit ge­wiss das Nö­tigs­te er­öff­nen. Die sicht­ba­ren Ge­gen­stän­de der Ver­eh­rung, die ich Hei­lig­tü­mer nann­te, sind in einen be­son­dern Be­zirk ein­ge­schlos­sen, wer­den mit nichts ge­mischt, durch nichts ge­stört; nur zu ge­wis­sen Zei­ten des Jah­res lässt man die Zög­lin­ge, den Stu­fen ih­rer Bil­dung ge­mäß, dort ein­tre­ten, um sie his­to­risch und sinn­lich zu be­leh­ren, da sie denn ge­nug­sa­men Ein­druck mit weg­neh­men, um, bei Aus­übung ih­rer Pf­licht, eine Zeit lang dar­an zu zeh­ren.«
Nun stand Wil­helm am Tor ei­nes mit ho­hen Mau­ern um­ge­be­nen Tal­wal­des; auf ein ge­wis­ses Zei­chen er­öff­ne­te sich die klei­ne Pfor­te, und ein erns­ter, an­sehn­li­cher Mann emp­fing un­sern Freund. Die­ser fand sich in ei­nem großen, herr­li­chen grü­nen­den Raum, von Bäu­men und Bü­schen vie­ler­lei Art be­schat­tet, kaum dass er statt­li­che Mau­ern und an­sehn­li­che Ge­bäu­de durch die­se dich­te und hohe Na­tur­pflan­zung hin­durch be­mer­ken konn­te; ein freund­li­cher Empfang von den Drei­en, die sich nach und nach her­bei­fan­den, lös­te sich end­lich in ein Ge­spräch auf, wozu je­der das Sei­ni­ge bei­trug, des­sen In­halt wir je­doch in der Kür­ze zu­sam­men­fas­sen.
»Da Ihr uns Eu­ren Sohn ver­traut«, sag­ten sie, »sind wir schul­dig, Euch tiefer in un­ser Ver­fah­ren hin­ein­bli­cken zu las­sen. Ihr habt man­ches Äu­ßer­li­che ge­se­hen, wel­ches nicht so­gleich sein Ver­ständ­nis mit sich führt; was da­von wünscht Ihr vor al­lem auf­ge­schlos­sen?«
»An­stän­di­ge, doch selt­sa­me Ge­bär­den und Grü­ße hab’ ich be­merkt, de­ren Be­deu­tung ich zu er­fah­ren wünsch­te; bei euch be­zieht sich ge­wiss das Äu­ße­re auf das In­ne­re, und um­ge­kehrt; lasst mich die­sen Be­zug er­fah­ren.«
»Wohl­ge­bor­ne, ge­sun­de Kin­der«, ver­setz­ten jene, »brin­gen viel mit; die Na­tur hat je­dem al­les ge­ge­ben, was er für Zeit und Dau­er nö­tig hät­te; die­ses zu ent­wi­ckeln, ist un­se­re Pf­licht, öf­ters ent­wi­ckelt sich’s bes­ser von selbst. Aber eins bringt nie­mand mit auf die Welt, und doch ist es das, wor­auf al­les an­kommt, da­mit der Mensch nach al­len Sei­ten zu ein Mensch sei. Könnt Ihr es selbst fin­den, so sprecht es aus.« Wil­helm be­dach­te sich eine kur­ze Zeit und schüt­tel­te so­dann den Kopf.
Jene, nach ei­nem an­stän­di­gen Zau­dern, rie­fen: »Ehr­furcht!« Wil­helm stutz­te. »Ehr­furcht!« hieß es wie­der­holt. »Al­len fehlt sie, viel­leicht Euch selbst.
Drei­er­lei Ge­bär­de habt Ihr ge­se­hen, und wir über­lie­fern eine drei­fa­che Ehr­furcht, die, wenn sie zu­sam­men­fließt und ein Gan­zes bil­det, erst ihre höchs­te Kraft und Wir­kung er­reicht. Das ers­te ist Ehr­furcht vor dem, was über uns ist. Jene Ge­bär­de, die Arme kreuzweis über die Brust, einen freu­di­gen Blick gen Him­mel, das ist, was wir un­mün­di­gen Kin­dern auf­le­gen und zu­gleich das Zeug­nis von ih­nen ver­lan­gen, dass ein Gott da dro­ben sei, der sich in El­tern, Leh­rern, Vor­ge­setz­ten ab­bil­det und of­fen­bart. Das zwei­te: Ehr­furcht vor dem, was un­ter uns ist. Die auf den Rücken ge­fal­te­ten, gleich­sam ge­bun­de­nen Hän­de, der ge­senk­te, lä­cheln­de Blick sa­gen, dass man die Erde wohl und hei­ter zu be­trach­ten habe; sie gibt Ge­le­gen­heit zur Nah­rung; sie ge­währt un­säg­li­che Freu­den; aber un­ver­hält­nis­mä­ßi­ge Lei­den bringt sie. Wenn ei­ner sich kör­per­lich be­schä­dig­te, ver­schul­dend oder un­schul­dig, wenn ihn an­de­re vor­sätz­lich oder zu­fäl­lig ver­letz­ten, wenn das ir­di­sche Wil­len­lo­se ihm ein Leid zu­füg­te, das be­denk’ er wohl: denn sol­che Ge­fahr be­glei­tet ihn sein Le­ben lang. Aber aus die­ser Stel­lung be­frei­en wir un­sern Zög­ling bald­mög­lichst, so­gleich wenn wir über­zeugt sind, dass die Leh­re die­ses Grads ge­nug­sam auf ihn ge­wirkt habe; dann aber hei­ßen wir ihn sich er­man­nen, ge­gen Ka­me­ra­den ge­wen­det nach ih­nen sich rich­ten. Nun steht er strack und kühn, nicht etwa selbstisch ver­ein­zelt; nur in Ver­bin­dung mit sei­nes­glei­chen macht er Fron­te ge­gen die Welt. Wei­ter wüss­ten wir nichts hin­zu­zu­fü­gen.«
»Es leuch­tet mir ein!« ver­setz­te Wil­helm; »des­we­gen liegt die Men­ge wohl so im ar­gen, weil sie sich nur im Ele­ment des Miss­wol­lens und Miss­re­dens be­hagt; wer sich die­sem über­lie­fert, ver­hält sich gar bald ge­gen Gott gleich­gül­tig, ver­ach­tend ge­gen die Welt, ge­gen sei­nes­glei­chen ge­häs­sig; das wah­re, ech­te, un­ent­behr­li­che Selbst­ge­fühl aber zer­stört sich in Dün­kel und An­ma­ßung. Er­lau­ben Sie mir des­sen­un­ge­ach­tet«, fuhr Wil­helm fort, »ein ein­zi­ges ein­zu­wen­den: Hat man nicht von je­her die Furcht ro­her Völ­ker vor mäch­ti­gen Na­tur­er­schei­nun­gen und sonst un­er­klär­li­chen, ah­nungs­vol­len Er­eig­nis­sen für den Keim ge­hal­ten, wor­aus ein hö­he­res Ge­fühl, eine rei­ne­re Ge­sin­nung sich stu­fen­wei­se ent­wi­ckeln soll­te?« Hier­auf er­wi­der­ten jene: »Der Na­tur ist Furcht wohl ge­mäß, Ehr­furcht aber nicht; man fürch­tet ein be­kann­tes oder un­be­kann­tes mäch­ti­ges We­sen, der Star­ke sucht es zu be­kämp­fen, der Schwa­che zu ver­mei­den, bei­de wün­schen es los­zu­wer­den und füh­len sich glück­lich, wenn sie es auf kur­ze Zeit be­sei­tigt ha­ben, wenn ihre Na­tur sich zur Frei­heit und Un­ab­hän­gig­keit ei­ni­ger­ma­ßen wie­der her­stell­te. Der na­tür­li­che Mensch wie­der­holt die­se Ope­ra­ti­on Mil­lio­nen Mal in sei­nem Le­ben, von der Furcht strebt er zur Frei­heit, aus der Frei­heit wird er in die Furcht ge­trie­ben und kommt um nichts wei­ter. Sich zu fürch­ten ist leicht, aber be­schwer­lich; Ehr­furcht zu he­gen ist schwer, aber be­quem. Un­gern ent­schließt sich der Mensch zur Ehr­furcht, oder viel­mehr ent­schließt sich nie dazu; es ist ein hö­he­rer Sinn, der sei­ner Na­tur ge­ge­ben wer­den muss und der sich nur bei be­son­ders Be­güns­tig­ten aus sich selbst ent­wi­ckelt, die man auch des­we­gen von je­her für Hei­li­ge, für Göt­ter ge­hal­ten. Hier liegt die Wür­de, hier das Ge­schäft al­ler ech­ten Re­li­gio­nen, de­ren es auch nur dreie gibt, nach den Ob­jek­ten, ge­gen wel­che sie ihre An­dacht wen­den.«
Die Män­ner hiel­ten inne, Wil­helm schwieg eine Wei­le nach­den­kend; da er in sich aber die An­ma­ßung nicht fühl­te, den Sinn je­ner son­der­ba­ren Wor­te zu deu­ten, so bat er die Wür­di­gen, in ih­rem Vor­tra­ge fort­zu­fah­ren, worin sie ihm denn auch so­gleich will­fahr­ten. »Kei­ne Re­li­gi­on«, sag­ten sie, »die sich auf Furcht grün­det, wird un­ter uns ge­ach­tet. Bei der Ehr­furcht, die der Mensch in sich wal­ten lässt, kann er, in­dem er Ehre gibt, sei­ne Ehre be­hal­ten, er ist nicht mit sich selbst ver­un­eint wie in je­nem Fal­le. Die Re­li­gi­on, wel­che auf Ehr­furcht vor dem, was über uns ist, be­ruht, nen­nen wir die eth­ni­sche, es ist die Re­li­gi­on der Völ­ker und die ers­te glück­li­che Ab­lö­sung von ei­ner nie­dern Furcht; alle so­ge­nann­ten heid­nischen Re­li­gio­nen sind von die­ser Art, sie mö­gen üb­ri­gens Na­men ha­ben, wie sie wol­len. Die zwei­te Re­li­gi­on, die sich auf jene Ehr­furcht g...

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