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Über dieses Buch
Fassung in aktueller RechtschreibungWilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden ist ein spät vollendeter Roman von Johann Wolfgang von Goethe. Er gilt als die persönlichste aller Goethe'schen Dichtungen. 1821 erschien die erste Fassung, 1829 die vollständige.Als Vorlage für diese digitale Ausgabe dienten folgende Veröffentlichungen: -Sämtliche Werke, Insel-Verlag, Leipzig, 1982-Wilhelm Meisters Wanderjahre, Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1961-Verlag Gottfried Basse, Quedlinburg und Leipzig, 1821Null Papier Verlag
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Information
Zweites Buch
Erstes Kapitel
Die Wallfahrenden hatten nach Vorschrift den Weg genommen und fanden glücklich die Grenze der Provinz, in der sie so manches Merkwürdige erfahren sollten; beim ersten Eintritt gewahrten sie sogleich der fruchtbarsten Gegend, welche an sanften Hügeln den Feldbau, auf höhern Bergen die Schafzucht, in weiten Talflächen die Viehzucht begünstigte. Es war kurz vor der Ernte und alles in größter Fülle; das, was sie jedoch gleich in Verwunderung setzte, war, dass sie weder Frauen noch Männer, wohl aber durchaus Knaben und Jünglinge beschäftigt sahen, auf eine glückliche Ernte sich vorzubereiten, ja auch schon auf ein fröhliches Erntefest freundliche Anstalt zu treffen. Sie begrüßten einen und den anderen und fragten nach dem Obern, von dessen Aufenthalt man keine Rechenschaft geben konnte. Die Adresse ihres Briefs lautete: »An den Obern, oder die Dreie.« Auch hierin konnten sich die Knaben nicht finden; man wies die Fragenden jedoch an einen Aufseher, der eben das Pferd zu besteigen sich bereitete; sie eröffneten ihre Zwecke; des Felix Freimütigkeit schien ihm zu gefallen, und so ritten sie zusammen die Straße hin.
Schon hatte Wilhelm bemerkt, dass in Schnitt und Farbe der Kleider eine Mannigfaltigkeit obwaltete, die der ganzen kleinen Völkerschaft ein sonderbares Ansehn gab; eben war er im Begriff, seinen Begleiter hiernach zu fragen, als noch eine wundersamere Bemerkung sich ihm auftat: alle Kinder, sie mochten beschäftigt sein, wie sie wollten, ließen ihre Arbeit liegen und wendeten sich mit besondern, aber verschiedenen Gebärden gegen die Vorbeireitenden, und es war leicht zu folgern, dass es dem Vorgesetzten galt. Die jüngsten legten die Arme kreuzweis über die Brust und blickten fröhlich gen Himmel, die mittlern hielten die Arme auf den Rücken und schauten lächelnd zur Erde, die dritten standen strack und mutig; die Arme niedergesenkt, wendeten sie den Kopf nach der rechten Seite und stellten sich in eine Reihe, anstatt dass jene vereinzelt blieben, wo man sie traf.
Als man darauf haltmachte und abstieg, wo eben mehrere Kinder nach verschiedener Weise sich aufstellten und von dem Vorgesetzten gemustert wurden, fragte Wilhelm nach der Bedeutung dieser Gebärden; Felix fiel ein und sagte munter: »Was für eine Stellung hab’ ich denn einzunehmen?« – »Auf alle Fälle«, versetzte der Aufseher, »zuerst die Arme über die Brust und ernsthaft-froh nach oben gesehen, ohne den Blick zu verwenden.« Er gehorchte, doch rief er bald: »Dies gefällt mir nicht sonderlich, ich sehe ja nichts da droben; dauert es lange? Doch ja!« rief er freudig, »ein paar Habichte fliegen von Westen nach Osten; das ist wohl ein gutes Zeichen?« – »Wienach du’s aufnimmst, je nachdem du dich beträgst«, versetzte jener; »jetzt mische dich unter sie, wie sie sich mischen.« Er gab ein Zeichen, die Kinder verließen ihre Stellung, ergriffen ihre Beschäftigung oder spielten wie vorher.
»Mögen und können Sie mir«, sagte Wilhelm darauf, »das, was mich hier in Verwunderung setzt, erklären? Ich sehe wohl, dass diese Gebärden, diese Stellungen Grüße sind, womit man Sie empfängt.« – »Ganz richtig«, versetzte jener, »Grüße, die mir sogleich andeuten, auf welcher Stufe der Bildung ein jeder dieser Knaben steht.«
»Dürfen Sie mir aber«, versetzte Wilhelm, »die Bedeutung des Stufengangs wohl erklären? denn dass es einer sei, lässt sich wohl einsehen.« – »Dies gebührt Höheren, als ich bin«, antwortete jener; »so viel aber kann ich versichern, dass es nicht leere Grimassen sind, dass vielmehr den Kindern zwar nicht die höchste, aber doch eine leitende, fassliche Bedeutung überliefert wird; zugleich aber ist jedem geboten, für sich zu behalten und zu hegen, was man ihm als Bescheid zu erteilen für gut findet; sie dürfen weder mit Fremden noch unter einander selbst darüber schwatzen, und so modifiziert sich die Lehre hundertfältig. Außerdem hat das Geheimnis sehr große Vorteile: denn wenn man dem Menschen gleich und immer sagt, worauf alles ankommt, so denkt er, es sei nichts dahinter. Gewissen Geheimnissen, und wenn sie offenbar wären, muss man durch Verhüllen und Schweigen Achtung erweisen, denn dieses wirkt auf Scham und gute Sitten.« – »Ich verstehe Sie«, versetzte Wilhelm, »warum sollten wir das, was in körperlichen Dingen so nötig ist, nicht auch geistig anwenden? Vielleicht aber können Sie in einem anderen Bezug meine Neugierde befriedigen. Die große Mannigfaltigkeit in Schnitt und Farbe der Kleider fällt mir auf, und doch seh’ ich nicht alle Farben, aber einige in allen ihren Abstufungen, vom Hellsten bis zum Dunkelsten. Doch bemerke ich, dass hier keine Bezeichnung der Stufen irgendeines Alters oder Verdienstes gemeint sein kann, indem die kleinsten und größten Knaben untermischt so an Schnitt als Farbe gleich sein können, aber die von gleichen Gebärden im Gewand nicht miteinander übereinstimmen.« – »Auch was dies betrifft«, versetzte der Begleitende, »darf ich mich nicht weiter auslassen; doch müsste ich mich sehr irren, oder Sie werden über alles, wie Sie nur wünschen mögen, aufgeklärt von uns scheiden.«
Man verfolgte nunmehr die Spur des Obern, welche man gefunden zu haben glaubte; nun aber musste dem Fremdling notwendig auffallen, dass, je weiter sie ins Land kamen, ein wohllautender Gesang ihnen immer mehr entgegentönte. Was die Knaben auch begannen, bei welcher Arbeit man sie auch fand, immer sangen sie, und zwar schienen es Lieder jedem Geschäft besonders angemessen und in gleichen Fällen überall dieselben. Traten mehrere Kinder zusammen, so begleiteten sie sich wechselweise; gegen Abend fanden sich auch Tanzende, deren Schritte durch Chöre belebt und geregelt wurden. Felix stimmte vom Pferde herab mit ein, und zwar nicht ganz unglücklich, Wilhelm vergnügte sich an dieser die Gegend belebenden Unterhaltung.
»Wahrscheinlich«, so sprach er zu seinem Gefährten, »wendet man viele Sorgfalt auf solchen Unterricht, denn sonst könnte diese Geschicklichkeit nicht so weit ausgebreitet und so vollkommen ausgebildet sein.« – »Allerdings«, versetzte jener, »bei uns ist der Gesang die erste Stufe der Bildung, alles andere schließt sich daran und wird dadurch vermittelt. Der einfachste Genuss sowie die einfachste Lehre werden bei uns durch Gesang belebt und eingeprägt, ja selbst was wir überliefern von Glaubens- und Sittenbekenntnis, wird auf dem Wege des Gesanges mitgeteilt; andere Vorteile zu selbsttätigen Zwecken verschwistern sich sogleich: denn indem wir die Kinder üben, Töne, welche sie hervorbringen, mit Zeichen auf die Tafel schreiben zu lernen und nach Anlass dieser Zeichen sodann in ihrer Kehle wiederzufinden, ferner den Text darunterzufügen, so üben sie zugleich Hand, Ohr und Auge und gelangen schneller zum Recht- und Schönschreiben, als man denkt, und da dieses alles zuletzt nach reinen Maßen, nach genau bestimmten Zahlen ausgeübt und nachgebildet werden muss, so fassen sie den hohen Wert der Mess- und Rechenkunst viel geschwinder als auf jede andere Weise. Deshalb haben wir denn unter allem Denkbaren die Musik zum Element unserer Erziehung gewählt, denn von ihr laufen gleichgebahnte Wege nach allen Seiten.«
Wilhelm suchte sich noch weiter zu unterrichten und verbarg seine Verwunderung nicht, dass er gar keine Instrumentalmusik vernehme. »Diese wird bei uns nicht vernachlässigt«, versetzte jener, »aber in einen besondern Bezirk, in das anmutigste Bergtal, eingeschlossen geübt; und da ist denn wieder dafür gesorgt, dass die verschiedenen Instrumente in auseinanderliegenden Ortschaften gelehrt werden. Besonders die Misstöne der Anfänger sind in gewisse Einsiedeleien verwiesen, wo sie niemand zur Verzweiflung bringen: denn Ihr werdet selbst gestehen, dass in der wohleingerichteten bürgerlichen Gesellschaft kaum ein trauriger Leiden zu dulden sei, als das uns die Nachbarschaft eines angehenden Flöten- oder Violinspielers aufdringt.
Unsere Anfänger gehen, aus eigener löblicher Gesinnung, niemand lästig sein zu wollen, freiwillig länger oder kürzer in die Wüste und beeifern sich, abgesondert, um das Verdienst, der bewohnten Welt nähertreten zu dürfen, weshalb jedem von Zeit zu Zeit ein Versuch, heranzutreten, erlaubt wird, der selten misslingt, weil wir Scham und Scheu bei dieser wie bei unsern übrigen Einrichtungen gar wohl hegen und pflegen dürfen. Dass Eurem Sohn eine glückliche Stimme geworden, freut mich innigst, für das übrige sorgt sich um desto leichter.«
Nun waren sie zu einem Ort gelangt, wo Felix verweilen und sich an der Umgebung prüfen sollte, bis man zur förmlichen Aufnahme geneigt wäre; schon von weitem hörten sie einen freudigen Gesang; es war ein Spiel, woran sich die Knaben in der Feierstunde diesmal ergötzten. Ein allgemeiner Chorgesang erscholl, wozu jedes Glied eines weiten Kreises freudig, klar und tüchtig an seinem Teile zustimmte, den Winken des Regelnden gehorchend. Dieser überraschte jedoch öfters die Singenden, indem er durch ein Zeichen den Chorgesang aufhob und irgendeinen einzelnen Teilnehmenden, ihn mit dem Stäbchen berührend, aufforderte, sogleich allein ein schickliches Lied dem verhallenden Ton, dem vorschwebenden Sinne anzupassen. Schon zeigten die meisten viel Gewandtheit, einige, denen das Kunststück misslang, gaben ihr Pfand willig hin, ohne gerade ausgelacht zu werden. Felix war Kind genug, sich gleich unter sie zu mischen, und zog sich noch so leidlich aus der Sache. Sodann ward ihm jener erste Gruß zugeeignet; er legte sogleich die Hände auf die Brust, blickte aufwärts, und zwar mit so schnackischer Miene, dass man wohl bemerken konnte, ein geheimer Sinn dabei sei ihm noch nicht aufgegangen.
Der angenehme Ort, die gute Aufnahme, die muntern Gespielen, alles gefiel dem Knaben so wohl, dass es ihm nicht sonderlich wehe tat, seinen Vater abreisen zu sehen; fast blickte er dem weggeführten Pferde schmerzlicher nach; doch ließ er sich bedeuten, da er vernahm, dass er es im gegenwärtigen Bezirk nicht behalten könne; man versprach ihm dagegen, er solle, wo nicht dasselbe, doch ein gleiches, munter und wohlgezogen, unerwartet wiederfinden.
Da sich der Obere nicht erreichen ließ, sagte der Aufseher: »Ich muss Euch nun verlassen, meine Geschäfte zu verfolgen; doch will ich Euch zu den Dreien bringen, die unsern Heiligtümern vorstehen, Euer Brief ist auch an sie gerichtet, und sie zusammen stellen den Obern vor.« Wilhelm hätte gewünscht, von den Heiligtümern im Voraus zu vernehmen, jener aber versetzte: »Die Dreie werden Euch, zu Erwiderung des Vertrauens, dass Ihr uns Euren Sohn überlasst, nach Weisheit und Billigkeit gewiss das Nötigste eröffnen. Die sichtbaren Gegenstände der Verehrung, die ich Heiligtümer nannte, sind in einen besondern Bezirk eingeschlossen, werden mit nichts gemischt, durch nichts gestört; nur zu gewissen Zeiten des Jahres lässt man die Zöglinge, den Stufen ihrer Bildung gemäß, dort eintreten, um sie historisch und sinnlich zu belehren, da sie denn genugsamen Eindruck mit wegnehmen, um, bei Ausübung ihrer Pflicht, eine Zeit lang daran zu zehren.«
Nun stand Wilhelm am Tor eines mit hohen Mauern umgebenen Talwaldes; auf ein gewisses Zeichen eröffnete sich die kleine Pforte, und ein ernster, ansehnlicher Mann empfing unsern Freund. Dieser fand sich in einem großen, herrlichen grünenden Raum, von Bäumen und Büschen vielerlei Art beschattet, kaum dass er stattliche Mauern und ansehnliche Gebäude durch diese dichte und hohe Naturpflanzung hindurch bemerken konnte; ein freundlicher Empfang von den Dreien, die sich nach und nach herbeifanden, löste sich endlich in ein Gespräch auf, wozu jeder das Seinige beitrug, dessen Inhalt wir jedoch in der Kürze zusammenfassen.
»Da Ihr uns Euren Sohn vertraut«, sagten sie, »sind wir schuldig, Euch tiefer in unser Verfahren hineinblicken zu lassen. Ihr habt manches Äußerliche gesehen, welches nicht sogleich sein Verständnis mit sich führt; was davon wünscht Ihr vor allem aufgeschlossen?«
»Anständige, doch seltsame Gebärden und Grüße hab’ ich bemerkt, deren Bedeutung ich zu erfahren wünschte; bei euch bezieht sich gewiss das Äußere auf das Innere, und umgekehrt; lasst mich diesen Bezug erfahren.«
»Wohlgeborne, gesunde Kinder«, versetzten jene, »bringen viel mit; die Natur hat jedem alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig hätte; dieses zu entwickeln, ist unsere Pflicht, öfters entwickelt sich’s besser von selbst. Aber eins bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei. Könnt Ihr es selbst finden, so sprecht es aus.« Wilhelm bedachte sich eine kurze Zeit und schüttelte sodann den Kopf.
Jene, nach einem anständigen Zaudern, riefen: »Ehrfurcht!« Wilhelm stutzte. »Ehrfurcht!« hieß es wiederholt. »Allen fehlt sie, vielleicht Euch selbst.
Dreierlei Gebärde habt Ihr gesehen, und wir überliefern eine dreifache Ehrfurcht, die, wenn sie zusammenfließt und ein Ganzes bildet, erst ihre höchste Kraft und Wirkung erreicht. Das erste ist Ehrfurcht vor dem, was über uns ist. Jene Gebärde, die Arme kreuzweis über die Brust, einen freudigen Blick gen Himmel, das ist, was wir unmündigen Kindern auflegen und zugleich das Zeugnis von ihnen verlangen, dass ein Gott da droben sei, der sich in Eltern, Lehrern, Vorgesetzten abbildet und offenbart. Das zweite: Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist. Die auf den Rücken gefalteten, gleichsam gebundenen Hände, der gesenkte, lächelnde Blick sagen, dass man die Erde wohl und heiter zu betrachten habe; sie gibt Gelegenheit zur Nahrung; sie gewährt unsägliche Freuden; aber unverhältnismäßige Leiden bringt sie. Wenn einer sich körperlich beschädigte, verschuldend oder unschuldig, wenn ihn andere vorsätzlich oder zufällig verletzten, wenn das irdische Willenlose ihm ein Leid zufügte, das bedenk’ er wohl: denn solche Gefahr begleitet ihn sein Leben lang. Aber aus dieser Stellung befreien wir unsern Zögling baldmöglichst, sogleich wenn wir überzeugt sind, dass die Lehre dieses Grads genugsam auf ihn gewirkt habe; dann aber heißen wir ihn sich ermannen, gegen Kameraden gewendet nach ihnen sich richten. Nun steht er strack und kühn, nicht etwa selbstisch vereinzelt; nur in Verbindung mit seinesgleichen macht er Fronte gegen die Welt. Weiter wüssten wir nichts hinzuzufügen.«
»Es leuchtet mir ein!« versetzte Wilhelm; »deswegen liegt die Menge wohl so im argen, weil sie sich nur im Element des Misswollens und Missredens behagt; wer sich diesem überliefert, verhält sich gar bald gegen Gott gleichgültig, verachtend gegen die Welt, gegen seinesgleichen gehässig; das wahre, echte, unentbehrliche Selbstgefühl aber zerstört sich in Dünkel und Anmaßung. Erlauben Sie mir dessenungeachtet«, fuhr Wilhelm fort, »ein einziges einzuwenden: Hat man nicht von jeher die Furcht roher Völker vor mächtigen Naturerscheinungen und sonst unerklärlichen, ahnungsvollen Ereignissen für den Keim gehalten, woraus ein höheres Gefühl, eine reinere Gesinnung sich stufenweise entwickeln sollte?« Hierauf erwiderten jene: »Der Natur ist Furcht wohl gemäß, Ehrfurcht aber nicht; man fürchtet ein bekanntes oder unbekanntes mächtiges Wesen, der Starke sucht es zu bekämpfen, der Schwache zu vermeiden, beide wünschen es loszuwerden und fühlen sich glücklich, wenn sie es auf kurze Zeit beseitigt haben, wenn ihre Natur sich zur Freiheit und Unabhängigkeit einigermaßen wieder herstellte. Der natürliche Mensch wiederholt diese Operation Millionen Mal in seinem Leben, von der Furcht strebt er zur Freiheit, aus der Freiheit wird er in die Furcht getrieben und kommt um nichts weiter. Sich zu fürchten ist leicht, aber beschwerlich; Ehrfurcht zu hegen ist schwer, aber bequem. Ungern entschließt sich der Mensch zur Ehrfurcht, oder vielmehr entschließt sich nie dazu; es ist ein höherer Sinn, der seiner Natur gegeben werden muss und der sich nur bei besonders Begünstigten aus sich selbst entwickelt, die man auch deswegen von jeher für Heilige, für Götter gehalten. Hier liegt die Würde, hier das Geschäft aller echten Religionen, deren es auch nur dreie gibt, nach den Objekten, gegen welche sie ihre Andacht wenden.«
Die Männer hielten inne, Wilhelm schwieg eine Weile nachdenkend; da er in sich aber die Anmaßung nicht fühlte, den Sinn jener sonderbaren Worte zu deuten, so bat er die Würdigen, in ihrem Vortrage fortzufahren, worin sie ihm denn auch sogleich willfahrten. »Keine Religion«, sagten sie, »die sich auf Furcht gründet, wird unter uns geachtet. Bei der Ehrfurcht, die der Mensch in sich walten lässt, kann er, indem er Ehre gibt, seine Ehre behalten, er ist nicht mit sich selbst veruneint wie in jenem Falle. Die Religion, welche auf Ehrfurcht vor dem, was über uns ist, beruht, nennen wir die ethnische, es ist die Religion der Völker und die erste glückliche Ablösung von einer niedern Furcht; alle sogenannten heidnischen Religionen sind von dieser Art, sie mögen übrigens Namen haben, wie sie wollen. Die zweite Religion, die sich auf jene Ehrfurcht g...
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