George Sand – Gesammelte Werke
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George Sand – Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

  1. 2,887 Seiten
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George Sand – Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

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George Sand (1.7.1804–8.6.1876), eigentlich Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, war eine französische Schriftstellerin, die neben Romanen auch zahlreiche gesellschaftskritische Beiträge veröffentlichte. Sie setzte sich durch ihre Lebensweise und mit ihren Werken sowohl für feministische als auch für sozialkritische Ziele ein.Null Papier Verlag

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783962816148
ConsueloI. Band

Erster Teil.

1.

Ja, ja, Mes­de­moi­sel­les, schüt­teln Sie die Köp­fe so viel es Ih­nen be­liebt; die bes­te und folg­sams­te von al­len ist – doch nein! ich nen­ne sie nicht; denn sie ist in mei­ner Klas­se das ein­zi­ge be­schei­de­ne Kind, und ich will sie nicht an eine so sel­te­ne Tu­gend brin­gen, wel­che ich Ih­nen eben wün­sche …
In no­mi­ne Pa­tris er Fi­lii et Spi­ri­tus sanc­ti sang die Co­stan­za mit trot­zi­ger Mie­ne.
A­men, ant­wor­te­ten im Cho­re die üb­ri­gen jun­gen Mäd­chen.
– Bö­se­wicht! sag­te die Clo­rin­da, in­dem sie dem Sing­meis­ter ein hüb­sches bö­ses Ge­sicht mach­te und ihm mit dem Stie­le ih­res Fä­chers einen lei­sen Schlag auf die kno­chi­gen und ge­run­zel­ten Fin­ger gab, wel­che noch aus­ge­streckt auf der Cla­via­tur der Or­gel ru­he­ten.
– Kommt mit! sag­te der alte Pro­fes­so­re mit dem er­fah­re­nen und ru­hi­gen We­sen ei­nes Man­nes, wel­cher seit vier­zig Jah­ren sechs Stun­den täg­lich alle Lau­nen und Schel­me­rei­en ver­schie­de­ner Ge­ne­ra­tio­nen von weib­li­chen Zög­lin­gen zu be­ste­hen hat. Er steck­te sei­ne Bril­le in das Fut­te­ral und sei­ne Ta­baks­do­se in die Ta­sche, ohne nach dem ei­fern­den und spot­ten­den Schwar­me auf­zu­bli­cken. Wahr ist es den­noch, setz­te er hin­zu, je­nes wohl­ge­sit­te­te, lern­be­gie­ri­ge, flei­ßi­ge, gute Kind, von dem ich sag­te, das sind Sie nicht, Si­gno­ra Clo­rin­da; und Sie nicht, Si­gno­ra Co­stan­za; Sie auch nicht, Si­gno­ra Zu­li­et­ta; die Ro­si­na eben so we­nig; und die Mi­che­la noch we­ni­ger …
– Dann bin ich’s … Nein, ich!… – Gar nicht, ich! … – Ich! – Ich! – rie­fen mit ih­ren flö­ten­den oder schnei­den­den Stim­men fünf­zig Blon­di­nen und Brü­net­ten und war­fen sich wie ein Flug Mö­ven auf eine arme Mu­schel, die das eb­ben­de Meer auf dem Stran­de im Trock­nen zu­rück­ge­las­sen hat.
Die Mu­schel, näm­lich der Mae­stro (und für­wahr, kein tref­fen­de­res Gleich­nis lie­ße sich für ihn er­den­ken, mit sei­nen ecki­gen Be­we­gun­gen, sei­nen schil­lern­den Au­gen, sei­nen rot­ge­fleck­ten Ba­cken und be­son­ders sei­ner wei­ßen, sich in tau­send stei­fen, spit­zi­gen Löck­chen kräu­seln­den Per­rücke), der Mae­stro, sag’ ich, drei­mal wie­der auf die Or­gel­bank zu­rück­ge­drückt, so oft er sich er­hob um hin­weg­zu­ge­hen, aber im­mer ru­hig und un­er­schüt­tert, ganz wie eine von den Stür­men ge­wieg­te und ab­ge­här­te­te Mu­schel, ließ sich lan­ge bit­ten; dass er die­je­ni­ge sei­ner Schü­le­rin­nen nen­nen möch­te, wel­che er, mit sei­nen Lob­sprü­chen sonst so karg, dies­mal da­mit über­häuft hat­te. End­lich, in­dem er tat, als ob er den Bit­ten, die sei­ne Schlau­heit her­vor­ge­ru­fen, nur mit Wi­der­stre­ben wi­che, griff er nach dem Ma­gis­ter­sta­be, der ihm zum Takt­schla­gen diente, und trenn­te und teil­te mit­tels des­sel­ben sei­nen un­dis­zi­pli­nier­ten Hau­fen in zwei Rei­hen ab. End­lich schritt er zwi­schen die­sem dop­pel­ten Spa­lie­re leich­ter Köpf­chen hin­durch und blieb am Ende des Or­gel­cho­res vor ei­nem klei­nen We­sen ste­hen, das, die El­len­bo­gen auf die Knie ge­stützt, die Fin­ger in den Ohren, um nicht von dem Lärm ge­stört zu wer­den, sei­ne Auf­ga­be halb­laut, um nie­man­den zu stö­ren, ler­nend, und zu­sam­men­ge­bückt wie ein Äff­chen, auf ei­ner Stu­fe saß; mit fei­er­li­cher und tri­um­phie­ren­der Mie­ne blieb er ste­hen, den Fuß und den Arm vor­ge­streckt, wie Pa­ris der den Ap­fel reicht, hier nicht der Schöns­ten, aber der Folg­sams­ten.
– Con­sue­lo? die Spa­nie­rin? rie­fen in der ers­ten Über­ra­schung die jun­gen Cho­ris­tin­nen wie aus ei­nem Mun­de, dann brach ein all­ge­mei­nes, ho­me­ri­sches Ge­läch­ter aus und lock­te die Röte des Ver­drus­ses und des Zor­nes auf die ma­je­stä­ti­sche Stirn des Leh­rers. Die klei­ne Con­sue­lo, de­ren ver­stopf­te Ohren von der gan­zen Un­ter­re­dung nichts ge­hört hat­ten, und de­ren zer­streu­te Au­gen aufs Ge­ra­te­wohl um­her­blick­ten ohne et­was zu se­hen, so ver­tieft war sie in ihre Ar­beit, – Con­sue­lo merk­te An­fangs nicht im ge­rings­ten auf all den Tu­mult, und als sie end­lich die Auf­merk­sam­keit wahr­nahm, wel­che sie er­regt hat­te, ließ sie ihre Hän­de aus den Ohren auf ih­ren Schoß und ihr Heft von ih­rem Scho­ße auf die Erde fal­len; starr vor Er­stau­nen saß sie da, ver­wirrt nicht, doch ein we­nig er­schreckt, und zu­letzt stand sie auf und blick­te hin­ter sich, um zu se­hen, ob etwa dort ir­gend et­was Son­der­ba­res oder Lä­cher­li­ches wäre, das statt ih­rer zu ei­ner so lär­men­den Lus­tig­keit An­lass ge­ben moch­te.
– Con­sue­lo, sag­te der Mae­stro, in­dem er sie ohne wei­te­re Er­klä­rung bei der Hand nahm, komm her, mein gu­tes Kind, und sin­ge mir das Sal­ve Re­gi­na von Per­go­le­se, das du seit vier­zehn Ta­gen übst und wor­an die Clo­rin­de schon ein Jahr lernt.
Con­sue­lo ging, ohne zu ant­wor­ten, ohne Furcht, ohne Stolz, ohne Ver­le­gen­heit, mit dem Sing­leh­rer an die Or­gel; die­ser setz­te sich und gab mit tri­um­phie­ren­den Bli­cken sei­ner jun­gen Schü­le­rin den Ton an. Rein, ein­fach, ohne An­stren­gung sang Con­sue­lo und es klan­gen un­ter den tie­fen Wöl­bun­gen der Ka­the­dra­le hin die Töne der schöns­ten Stim­me, die je­mals dort er­schol­len war. Sie sang das Sal­ve Re­gi­na ohne sich des kleins­ten Ge­dächt­nis­feh­lers schul­dig zu ma­chen und ohne einen Ton zu wa­gen, der nicht un­ta­del­haft rein und voll ge­riet und im­mer am rech­ten Orte aus­ge­hal­ten oder los­ge­las­sen; sie folg­te nur ganz wil­len­los, aber mit der größ­ten Pünkt­lich­keit den An­wei­sun­gen, wel­che der ein­sich­ti­ge Leh­rer ihr ge­ge­ben hat­te, und führ­te mit ih­ren ge­wal­ti­gen Mit­teln die wohl­be­dach­ten und rich­ti­gen In­ten­tio­nen des treff­li­chen Man­nes aus; so leis­te­te sie mit der Uner­fah­ren­heit und Un­be­wusst­heit ei­nes Kin­des was wohl Kennt­nis, Fer­tig­keit und Be­geis­te­rung ei­ner vollen­de­ten Sän­ge­rin nicht voll­bracht hät­ten: sie sang mit Voll­kom­men­heit.
Recht gut, mein Kind, sag­te der alte Meis­ter, der mit sei­nem Lobe stets spar­sam war. Du hast mit Auf­merk­sam­keit stu­diert und du hast mit Be­wusst­sein ge­sun­gen. Das nächs­te Mal sollst du mir die Can­ta­te von Scar­lat­ti wie­der­ho­len, die ich dir ein­ge­übt habe.
Si, Si­gnor Pro­fes­so­re, ant­wor­te­te Con­sue­lo. Kann ich nun ge­hen?
– Ja, mein Kind. Mes­de­moi­sel­les, die Stun­de ist aus.
Con­sue­lo nahm ihre Hef­te, ih­ren Blei­stift und ih­ren klei­nen Fä­cher von schwar­zem Pa­pier, den ste­ten Beglei­ter der Spa­nie­rin wie der Ve­ne­zia­ne­rin, den sie zwar fast nie­mals brauch­te, aber im­mer bei sich hat­te, und tat das al­les in einen klei­nen Ko­ber. Dann ver­schwand sie hin­ter den Or­gel­pfei­fen, schlüpf­te be­händ wie ein Mäu­schen über die dunkle Trep­pe, die in die Kir­che hin­ab­führt, knie­te an dem Mit­tel­schiff vor­über­ei­lend einen Au­gen­blick nie­der, und eben als sie die Kir­che ver­las­sen woll­te, traf sie bei dem Weih­was­ser einen schö­nen Herrn, wel­cher ihr lä­chelnd den We­del reich­te. Wäh­rend sie nahm, schau­te sie ihm ge­ra­d’ ins Ge­sicht mit der Un­be­fan­gen­heit ei­nes klei­nen Mäd­chens, das sei­ne Weib­lich­keit noch nicht weiß und fühlt, und misch­te so ko­misch ihre Be­kreu­zi­gung mit ih­rem Dank, dass der jun­ge Herr zu la­chen an­hob. Con­sue­lo lach­te eben­falls; aber auf ein­mal, als ob es ihr ein­fie­le, dass sie er­war­tet wer­de, fing sie an zu lau­fen und hat­te im Au­gen­bli­cke Tür­schwel­le, Stu­fen und Vor­hal­le der Kir­che hin­ter sich ge­las­sen.
Un­ter­des­sen steck­te der Pro­fes­sor sei­ne Bril­le zum zwei­ten Male in sei­ne große Wes­ten­ta­sche, und sprach da­bei zu den Schü­le­rin­nen, wel­che ihn schwei­gend um­ga­ben:
– Schä­men Sie sich, mei­ne schö­nen De­moi­sel­les! sag­te er. Die­ses klei­ne Mäd­chen, die jüngs­te un­ter Ih­nen, die jüngs­te mei­ner Klas­se, ist die ein­zi­ge, die ein Solo or­dent­lich sin­gen kann, und in den Chö­ren lässt sie sich durch alle Dumm­hei­ten, wel­che Sie rechts und links ma­chen, nicht ir­re­füh­ren, son­dern ich höre sie im­mer rich­tig und si­cher wie einen Kla­vier­ton. Ei­fer und Aus­dau­er be­sitzt sie, und au­ßer­dem was Sie alle, wie Sie da sind, nicht ha­ben und nie­mals ha­ben wer­den: Be­wusst­sein!
– Aha! hat er sein Schlag­wort noch los­ge­las­sen! rief Co­stan­za, als er hin­aus war. Er hat es bloß neun und drei­ßig­mal wäh­rend der Stun­de an­ge­bracht, und er wäre wahr­haf­tig krank ge­wor­den, wenn ihm das vier­zigs­te ent­gan­gen wäre.
– Ein rech­tes Wun­der, wenn die Con­sue­lo Fort­schrit­te macht, sag­te Zu­li­et­ta. Sie ist so arm. Sie hat an wei­ter nichts zu den­ken als wie sie nur ge­schwind et­was ler­ne, um ihr Brot zu ver­die­nen.
– Ihre Mut­ter soll eine Zi­geu­ne­rin ge­we­sen sein, setz­te Mi­che­li­na hin­zu, und die Klei­ne hör’ ich, hat auf Gas­sen und Land­stra­ßen ge­sun­gen, ehe sie hier­her kam. Eine schö­ne Stim­me hat sie, das kann man nicht be­strei­ten; aber sie hat nicht ein Fünk­chen Geist, das arme Ding. Sie lernt aus­wen­dig, sie folgt skla­visch den An­wei­sun­gen des Pro­fes­sors, und dann tut ihre gute Lun­ge das Üb­ri­ge.
– Mag ihre Lun­ge noch so gut sein, und hät­te sie noch so viel Geist oben­ein, sag­te die schö­ne Clo­rin­da, so möch­te ich doch nicht mit ihr tau­schen, wenn ich mei­ne Ge­stalt für die ih­ri­ge hin­ge­ben müss­te.
– Da wür­dest Du auch nicht so gar viel ver­lie­ren, ent­geg­ne­te die Co­stan­za, wel­che nie­mals große Lust hat­te, Clo­rin­dens Schön­heit an­zu­er­ken­nen.
– Nein! schön ist sie nicht, sag­te eine an­de­re, sie ist gelb wie eine Os­ter­ker­ze und ihre großen Au­gen sind so nichts­sa­gend, auch ist sie im­mer so schlecht an­ge­zo­gen: ge­wiss, ganz gars­tig ist sie. – Ar­mes Mäd­chen! o, es ist ein recht großes Un­glück für sie, das al­les. Kein Ver­mö­gen, kei­ne Rei­ze!
So en­de­te Con­sue­lo’s Lob; durch die­ses Be­dau­ern hiel­ten sich die an­de­ren für die Be­wun­de­rung schad­los, wel­che ih­nen der Ge­sang des Mäd­chens ab­ge­nö­tigt hat­te.

2.

Es trug sich die­ses in Ve­ne­dig zu, vor etwa hun­dert Jah­ren und zwar in der Kir­che der Men­di­can­ti, als eben der be­rühm­te Mae­stro Por­po­ra da­selbst die Pro­ben der großen Ve­s­per­mu­sik be­schloss, wel­che er zu Ma­riä Him­mel­fahrt nächs­ten Sonn­tag aus­zu­füh­ren hat­te. Die jun­gen Cho­ris­tin­nen, die so wa­cker von ihm aus­ge­schol­ten wur­den, wa­ren Frei­schü­le­rin­nen je­ner Scuo­la, wel­che die Re­pu­blik un­ter­hielt, um jun­ge Mäd­chen dar­in aus­zu­bil­den und spä­ter aus­zu­stat­ten – soit pour le ma­ria­ge, soit pour le cloître, sagt Jean Jac­ques Rous­seau, der ih­ren herr­li­chen Ge­sang ge­ra­de auch um jene Zeit und in der­sel­ben Kir­che be­wun­dert hat. Ge­wiss er­in­nerst du dich, lie­ber Le­ser! sei­ner Schil­de­rung und der rei­zen­den Epi­so­de im 7. Bu­che der Con­fes­si­ons. Ich wer­de mich wohl hü­ten, die­se Paar Sei­ten, die ent­zückend sind, dir hier ab­zu­schrei­ben, denn die mei­ni­gen wür­dest du da­nach nicht wie­der in die Hand neh­men mö­gen; und ich an dei­ner Stel­le, lie­ber Le­ser, wür­de es eben so ma­chen. Ich will nun hof­fen, dass du die Con­fes­si­ons nicht ge­ra­de bei der Hand hast, und in mei­ner Ge­schich­te fort­fah­ren.
Nicht alle die­se jun­gen Mäd­chen wa­ren gleich arm, und es ist kein Zwei­fel, dass der äu­ßerst ge­wis­sen­haf­ten Ver­wal­tung un­ge­ach­tet man­che mit ein­schlüpf­ten, für wel­che es weit mehr eine Spe­ku­la­ti­on als ein Be­dürf­nis war, auf Kos­ten der Re­pu­blik ih­ren Un­ter­richt in der Kunst und eine Aus­stat­tung zu er­hal­ten. Da­her er­laub­ten es sich man­che die hei­li­gen Ge­set­ze der Gleich­heit zu ver­ges­sen, un­ter de­ren An­ru­fung es ih­nen ge­lun­gen war, sich auf die­sel­ben Bän­ke mit ih­ren wirk­lich ar­men Schwes­tern zu steh­len. Man­che ent­zo­gen sich dann wohl wie­der der erns­ten Be­stim­mung, wel­che die Re­pu­blik ih­nen zu­ge­dacht hat­te, und ver­zich­te­ten, nach­dem sie den Vor­teil des un­ent­geld­li­chen Un­ter­richts ge­nos­sen hat­ten, auf die Mit­gift, um an­der­wei­tig sich ein glän­zen­de­res Loos zu be­rei­ten. Die Ver­wal­tung hat­te es nicht ver­mei­den kön­nen, zu den Lehr­stun­den bis­wei­len auch die Kin­der ar­mer Künst­ler zu­zu­las­sen, de­nen ihr un­stä­tes Le­ben kei­nen län­ge­ren Auf­ent­halt in Ve­ne­dig ge­stat­te­te. Zu die­ser Klas­se ge­hör­te die klei­ne Con­sue­lo. Sie war in Spa­ni­en ge­bo­ren und von dort nach Ita­li­en ge­kom­men, ich weiß nicht ob über St. Pe­ters­burg oder Con­stan­ti­no­pel, Me­xi­ko, Archan­gel oder auf ei­nem Wege, noch di­rek­ter, nach Zi­geu­ner­art, als die ge­nann­ten.
Zi­geu­ne­rin war sie nur durch Le­bens­wei­se und nach dem Re­de­ge­brauch, von Ab­kunft war sie we­der ir­gend­wie Gi­ta­na, noch Hin­du, noch Is­rae­li­tin; sie war von rei­nem spa­ni­schem Blu­te, von mau­ri­schem Ur­sprung ohne Zwei­fel, denn sie war so ziem­lich braun und ihr gan­zes We­sen war von ei­ner Ruhe, wie sol­che nicht den um­her­schwei­fen­den Stäm­men ei­gen ist. Ich will hier­mit von die­sen Stäm­men nichts Übles ge­sagt ha­ben. Hät­te ich mir Con­sue­lo’s Ge­stalt er­dacht, so weiß ich nicht, ob ich sie nicht von Is­rael hät­te aus­ge­hen las­sen: so aber war sie von der Rip­pe Is­ma­els ent­stammt, ihr gan­zes We­sen ver­riet das. Ich habe sie nicht ge­se­hen, denn hun­dert Jah­re bin ich noch nicht alt, aber man hat es mir ver­si­chert, und ich wüss­te nicht, was sich da­wi­der sa­gen lie­ße. Je­ner Wech­sel von fie­bri­schem Un­ge­stüm und stump­fer Ab­span­nung, wel­cher die Zin­ga­rel­le be­zeich­net, war ihr fremd. Sie hat­te nichts von der ge­schmei­di­gen Neu­gier und der un­er­müd­li­chen Zu­dring­lich­keit ei­ner bet­teln­den Eb­brea. Sie war so still wie das Was­ser der La­gu­nen und zu­gleich so ämsig wie die leich­ten Gon­deln, wel­che die Flä­che des­sel­ben un­abläs­sig durch­fur­chen.
Da sie schnell wuchs und da sich ihre Mut­ter in großer Dürf­tig­keit be­fand, so trug sie Klei­der, wel­che ihr im­mer um ein Jahr zu kurz wa­ren: ih­ren lan­gen vier­zehn­jäh­ri­gen Bei­nen gab dies eine sol­che Art von wil­der Gra­zie und Dreis­tig­keit des Schrei­tens, dass es zu­gleich lus­tig und trau­rig an­zu­se­hen war. Ihr Fuß ließ nicht er­ken­nen, ob er klein sei, so plump war er be­klei­det. Ihr Wuchs da­ge­gen, um­spannt von dem zu eng ge­wor­de­nen und an al­len Näh­ten durch­bro­che­nen Leib­chen, zeig­te sich schlank und bieg­sam wie eine Pal­me, aber form­los, nicht ge­run­det, nicht ver­füh­re­risch. Das arme Mäd­chen dach­te dar­an nicht. Sie war es ge­wohnt, sich »Affe«, »Citro­ne«, »Mu­lat­tin« von den blon­den, wei­ßen und völ­li­gen Töch­tern der Adria schel­ten zu hö­ren. Ihr run­des, blei­ches, un­be­deu­ten­des Ge­sicht wür­de nie­man­den auf­ge­fal­len sein, wenn nicht ihr kur­z­es, dich­tes, hin­ter den Ohren zu­rück­ge­wor­fe­nes Haar und ihr ernst­haf­ter, auf kei­nem Ge­gen­stan­de ver­wei­len­der Blick die­sem Ge­sich­te eine ei­ge­ne, nicht ge­ra­de an­ge­neh­me Son­der­bar­keit ge­ge­ben hät­ten.
Ein Äu­ße­res, das nie miss­fällt, ver­liert mehr und mehr die Fä­hig­keit, zu ge­fal­len. Wer ein sol­ches hat, wird durch die Gleich­gül­tig­keit an­de­rer gleich­gül­tig ge­gen sich selbst ge­macht und nimmt eine Ver­nach­läs­si­gung der Hal­tung an, wel­che im­mer mehr die Auf­merk­sam­keit von ihm ab­wen­det. Die Schön­heit nimmt sich in Acht, rich­tet sich ein, hält auf sich, be­trach­tet sich und stellt sich gleich­sam stets sich selbst in ei­nem ein­ge­bil­de­ten Spie­gel vor Au­gen. Die Häss­lich­keit ver­gisst sich und lässt sich ge­hen. Doch gibt es zwei ver­schie­de­ne Ar­ten: die eine fühlt sich von Al­len ver­wor­fen und sträubt sich da­wi­der in ste­ter Re­gung von Wut und Neid – das ist die wah­re, die un­be­ding­te Häss­lich­keit; die an­de­re ist un­be­fan­gen, sorg­los, hat sich be­schie­den, scheu­et nicht das Ur­teil und sucht es nicht, ge­winnt aber die Her­zen, in­dem sie den Au­gen wehe tut – so war Con­sue­lo’s Häss­lich­keit. Wohl­tä­ter, die sich ih­rer an­nah­men, mein­ten wohl zu­erst: wie Scha­de, dass sie nicht hübsch ist! be­san­nen sich dann und nah­men den Kopf des Kin­des so ver­trau­lich, wie man der Schön­heit nicht be­geg­net, in die Höhe.
»Man sieht dir’s am Ge­sicht an, Klei­ne!« sag­ten sie nun, »du bist ein gu­tes Ge­schöpf.«
Dar­über freu­te sich Con­sue­lo, ob­gleich sie recht gut wuss­te, dass dies hieß: »und bist eben wei­ter nichts.«
In­des­sen blieb der schö­ne, jun­ge Herr, wel­cher ihr Weih­was­ser ge­reicht hat­te, bei dem Weih­kes­sel ste­hen und ließ die jun­gen »Sco­la­ri« eine nach der an­de­ren an sich vor­über­ge­hen. Er be­trach­te­te eine jede mit Auf­merk­sam­keit, und als die schöns­te von ih­nen, die Clo­rin­da, her­bei­kam, teil­te er ihr das ge­weih­te Was­ser mit den Fin­gern mit, um des Ver­gnü­gens wil­len, die ih­ri­gen zu be­rüh­ren. Das jun­ge Mäd­chen wur­de rot vor Stolz und warf im Wei­ter­ge­hen ihm je­nen halb scheu­en halb dreis­ten Blick zu, wel­cher der Aus­druck we­der des Selbst­ver­trau­ens noch der Scham ist.
Nach­dem sie alle in das In­ne­re des Klos­ters ein­ge­tre­ten wa­ren, wen­de­te sich der ga­lan­te Pa­tri­zi­er wie­der dem Schif­fe zu und re­de­te den Pro­fes­sor an, der in­zwi­schen lang­sa­mer von der Em­po­re her­ab­ge­stie­gen war.
– Beim Leib des Bac­chus, rief er, lie­ber Meis­ter! ihr müsst mir sa­gen, wel­che von eu­ren Ele­ven das Sal­ve Re­gi­na ge­sun­gen hat.
– Und wes­we­gen be­gehrt ihr das zu wis­sen, Graf Zus­ti­nia­ni? ent­geg­ne­te der Pro­fes­sor, wäh­rend sie mit­ein­an­der aus der Kir­che tra­ten.
– Um euch mein Kom­pli­ment zu ma­chen, ant­wor­te­te der Pa­tri­zi­er. Seit lan­ger Zeit ver­fol­ge ich eure Ve­s­per­mu­si­ken, und bis in die Pro­ben so­gar, denn es ist euch be­kannt, wie sehr ich di­let­tan­te der hei­li­gen Mu­sik bin – aber heut zum ers­ten male habe ich ein Stück vom Per­go­le­se mit sol­cher Voll­kom­men­heit sin­gen hö­ren; und die Stim­me an­lan­gend, so ist es wahr­haf­tig die schöns­te, die ich Zeit mei­nes Le­bens ge­hört habe.
– Glaub’s wohl, beim Christ! ver­setz­te der Pro­fes­sor und nahm mit Be­ha­gen und mit Wür­de eine große Pri­se Ta­bak.
– Sagt mir also den Na­men die­ses himm­li­schen We­sens, das mich so hoch ent­zückt hat. Wie barsch ihr auch seid, und wie­wohl ihr ewig klagt, so muss man doch ge­ste­hen, dass ihr aus eu­rer Schu­le eine der bes­ten in ganz Ita­li­en ge­...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Danke
  5. Newsletter abonnieren
  6. Consuelo
  7. Die Gräfin von Rudolstadt
  8. Die Grille oder die kleine Fadette
  9. Die Marquise
  10. Indiana
  11. Lavinia - Pauline - Kora
  12. Literaturverzeichnis
  13. Index
  14. Das weitere Verlagsprogramm