Schachnovelle
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Schachnovelle

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Die Schachnovelle ist eine Novelle von Stefan Zweig, die er zwischen 1938 und 1941 im brasilianischen Exil schrieb. Es ist sein letztes und zugleich bekanntestes Werk.2012 bezeichnete der Germanist Rüdiger Görner die Novelle als einen "Glücksfall ausgereifter Erzählkunst".Die Geschichte spielt an Bord eines Passagierdampfers von New York nach Buenos Aires. Der Ich-Erzähler, ein österreichischer Emigrant, erfährt, dass der amtierende Schachweltmeister Mirko Czentovic mit an Bord ist. Er versucht, mit Czentovic Kontakt aufzunehmen.Null Papier Verlag

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783962816414
Auflage
1

Schachnovelle

1942/1943
Auf dem großen Pas­sa­gier­damp­fer, der um Mit­ter­nacht von New York nach Bue­nos Ai­res ab­ge­hen soll­te, herrsch­te die üb­li­che Ge­schäf­tig­keit und Be­we­gung der letz­ten Stun­de. Gäs­te vom Land dräng­ten durch­ein­an­der, um ih­ren Freun­den das Ge­leit zu ge­ben, Te­le­gra­fen­boys mit schie­fen Müt­zen schos­sen Na­men aus­ru­fend durch die Ge­sell­schafts­räu­me, Kof­fer und Blu­men wur­den ge­schleppt, Kin­der lie­fen neu­gie­rig trepp­auf und trepp­ab, wäh­rend das Or­che­s­ter un­er­schüt­ter­lich zur Decks­how spiel­te. Ich stand im Ge­spräch mit ei­nem Be­kann­ten et­was ab­seits von die­sem Ge­tüm­mel auf dem Pro­me­na­den­deck, als ne­ben uns zwei- oder drei­mal Blitz­licht scharf auf­sprüh­te – an­schei­nend war ir­gend­ein Pro­mi­nen­ter knapp vor der Ab­fahrt noch rasch von Re­por­tern in­ter­viewt und fo­to­gra­fiert wor­den. Mein Freund blick­te hin und lä­chel­te. »Sie ha­ben da einen ra­ren Vo­gel an Bord, den Czen­to­vic.« Und da ich of­fen­bar ein ziem­lich ver­ständ­nis­lo­ses Ge­sicht zu die­ser Mit­tei­lung mach­te, füg­te er er­klä­rend bei: »Mir­ko Czen­to­vic, der Welt­schach­meis­ter. Er hat ganz Ame­ri­ka von Ost nach West mit Tur­nier­spie­len ab­ge­klap­pert und fährt jetzt zu neu­en Tri­um­phen nach Ar­gen­ti­ni­en.«
In der Tat er­in­ner­te ich mich nun die­ses jun­gen Welt­meis­ters und so­gar ei­ni­ger Ein­zel­hei­ten im Zu­sam­men­hang mit sei­ner ra­ke­ten­haf­ten Kar­rie­re; mein Freund, ein auf­merk­sa­me­rer Zei­tungs­le­ser als ich, konn­te sie mit ei­ner gan­zen Rei­he von An­ek­do­ten er­gän­zen. Czen­to­vic hat­te sich vor etwa ei­nem Jahr mit ei­nem Schla­ge ne­ben die be­währ­tes­ten Alt­meis­ter der Schach­kunst, wie Al­je­chin, Ca­pa­b­lan­ca, Tar­ta­kower, Las­ker, Bo­gol­ju­bow, ge­stellt. Seit dem Auf­tre­ten des sie­ben­jäh­ri­gen Wun­der­kin­des Rze­cew­ski bei dem Schach­tur­nier 1922 in New York hat­te noch nie der Ein­bruch ei­nes völ­lig Un­be­kann­ten in die ruhm­rei­che Gil­de der­art all­ge­mei­nes Auf­se­hen er­regt. Denn Czen­to­vics in­tel­lek­tu­el­le Ei­gen­schaf­ten schie­nen ihm kei­nes­wegs solch eine blen­den­de Kar­rie­re von vorn­her­ein zu weis­sa­gen. Bald si­cker­te das Ge­heim­nis durch, dass die­ser Schach­meis­ter in sei­nem Pri­vat­le­ben au­ßer­stan­de war, in ir­gend­ei­ner Spra­che einen Satz ohne or­tho­gra­fi­schen Feh­ler zu schrei­ben, und wie ei­ner sei­ner ver­är­ger­ten Kol­le­gen in­grim­mig spot­te­te, »sei­ne Un­bil­dung war auf al­len Ge­bie­ten gleich uni­ver­sell«. Sohn ei­nes blut­ar­men süd­sla­wi­schen Do­nau­schif­fers, des­sen win­zi­ge Bar­ke ei­nes Nachts von ei­nem Ge­trei­de­damp­fer über­rannt wur­de, war der da­mals Zwölf­jäh­ri­ge nach dem Tode sei­nes Va­ters vom Pfar­rer des ab­ge­le­ge­nen Or­tes aus Mit­leid auf­ge­nom­men wor­den, und der gute Pa­ter be­müh­te sich red­lich, durch häus­li­che Nach­hil­fe wettz­u­ma­chen, was das maul­fau­le, dump­fe, breit­stir­ni­ge Kind in der Dorf­schu­le nicht zu er­ler­nen ver­moch­te.
Aber die An­stren­gun­gen blie­ben ver­geb­lich. Mir­ko starr­te die ihm schon hun­dert­mal er­klär­ten Schrift­zei­chen im­mer wie­der fremd an; auch für die sim­pels­ten Un­ter­richts­ge­gen­stän­de fehl­te sei­nem schwer­fäl­lig ar­bei­ten­den Ge­hirn jede fest­hal­ten­de Kraft. Wenn er rech­nen soll­te, muss­te er noch mit vier­zehn Jah­ren je­des Mal die Fin­ger zu Hil­fe neh­men, und ein Buch oder eine Zei­tung zu le­sen, be­deu­te­te für den schon halb­wüch­si­gen Jun­gen noch be­son­de­re An­stren­gung. Da­bei konn­te man Mir­ko kei­nes­wegs un­wil­lig oder wi­der­spens­tig nen­nen. Er tat ge­hor­sam, was man ihm ge­bot, hol­te Was­ser, spal­te­te Holz, ar­bei­te­te mit auf dem Fel­de, räum­te die Kü­che auf und er­le­dig­te ver­läss­lich, wenn auch mit ver­är­gern­der Lang­sam­keit, je­den ge­for­der­ten Dienst. Was den gu­ten Pfar­rer aber an dem quer­köp­fi­gen Kna­ben am meis­ten ver­dross, war sei­ne to­ta­le Teil­nahms­lo­sig­keit. Er tat nichts ohne be­son­de­re Auf­for­de­rung, stell­te nie eine Fra­ge, spiel­te nicht mit an­de­ren Bur­schen und such­te von selbst kei­ne Be­schäf­ti­gung, so­fern man sie nicht aus­drück­lich an­ord­ne­te; so­bald Mir­ko die Ver­rich­tun­gen des Haus­halts er­le­digt hat­te, saß er stur im Zim­mer her­um mit je­nem lee­ren Blick, wie ihn Scha­fe auf der Wei­de ha­ben, ohne an den Ge­scheh­nis­sen rings um ihn den ge­rings­ten An­teil zu neh­men. Wäh­rend der Pfar­rer abends, die lan­ge Bau­ern­pfei­fe schmau­chend, mit dem Gen­dar­me­rie­wacht­meis­ter sei­ne üb­li­chen drei Schach­par­ti­en spiel­te, hock­te der blond­sträh­ni­ge Bur­sche stumm da­ne­ben und starr­te un­ter sei­nen schwe­ren Li­dern an­schei­nend schläf­rig und gleich­gül­tig auf das ka­rier­te Brett.
Ei­nes Win­ter­abends klin­gel­ten, wäh­rend die bei­den Part­ner in ihre täg­li­che Par­tie ver­tieft wa­ren, von der Dorf­stra­ße her die Glöck­chen ei­nes Schlit­tens rasch und im­mer ra­scher her­an. Ein Bau­er, die Müt­ze mit Schnee über­stäubt, stapf­te has­tig her­ein, sei­ne alte Mut­ter läge im Ster­ben, und der Pfar­rer möge ei­len, ihr noch recht­zei­tig die letz­te Ölung zu er­tei­len. Ohne zu zö­gern, folg­te ihm der Pries­ter. Der Gen­dar­me­rie­wacht­meis­ter, der sein Glas Bier noch nicht aus­ge­trun­ken hat­te, zün­de­te sich zum Ab­schied eine neue Pfei­fe an und be­rei­te­te sich eben vor, die schwe­ren Schaft­s­tie­fel an­zu­zie­hen, als ihm auf­fiel, wie un­ent­wegt der Blick Mir­kos auf dem Schach­brett mit der an­ge­fan­ge­nen Par­tie haf­te­te.
»Na, willst du sie zu Ende spie­len?«, spaß­te er, voll­kom­men über­zeugt, dass der schläf­ri­ge Jun­ge nicht einen ein­zi­gen Stein auf dem Brett rich­tig zu rücken ver­stün­de. Der Kna­be starr­te scheu auf, nick­te dann und setz­te sich auf den Platz des Pfar­rers. Nach vier­zehn Zü­gen war der Gen­dar­me­rie­wacht­meis­ter ge­schla­gen und muss­te zu­dem ein­ge­ste­hen, dass kei­nes­wegs ein ver­se­hent­lich nach­läs­si­ger Zug sei­ne Nie­der­la­ge ver­schul­det habe. Die zwei­te Par­tie fiel nicht an­ders aus.
»Bi­le­ams Esel!«, rief er­staunt bei sei­ner Rück­kehr der Pfar­rer aus, dem we­ni­ger bi­bel­fes­ten Gen­dar­me­rie­wacht­meis­ter er­klä­rend, schon vor zwei­tau­send Jah­ren hät­te sich ein ähn­li­ches Wun­der er­eig­net, dass ein stum­mes We­sen plötz­lich die Spra­che der Weis­heit ge­fun­den habe. Trotz der vor­ge­rück­ten Stun­de konn­te der Pfar­rer sich nicht ent­hal­ten, sei­nen halb an­al­pha­be­ti­schen Fa­mu­lus zu ei­nem Zwei­kampf her­aus­zu­for­dern. Mir­ko schlug auch ihn mit Leich­tig­keit. Er spiel­te zäh, lang­sam, un­er­schüt­ter­lich, ohne ein ein­zi­ges Mal die ge­senk­te brei­te Stirn vom Bret­te auf­zu­he­ben. Aber er spiel­te mit un­wi­der­leg­ba­rer Si­cher­heit; we­der der Gen­dar­me­rie­wacht­meis­ter noch der Pfar­rer wa­ren in den nächs­ten Ta­gen im­stan­de, eine Par­tie ge­gen ihn zu ge­win­nen. Der Pfar­rer, bes­ser als ir­gend­je­mand be­fä­higt, die sons­ti­ge Rück­stän­dig­keit sei­nes Zög­lings zu be­ur­tei­len, wur­de nun ernst­lich neu­gie­rig, wie weit die­se ein­sei­ti­ge son­der­ba­re Be­ga­bung ei­ner stren­ge­ren Prü­fung stand­hal­ten wür­de. Nach­dem er Mir­ko bei dem Dorf­bar­bier die strup­pi­gen stroh­blon­den Haa­re hat­te schnei­den las­sen, um ihn ei­ni­ger­ma­ßen prä­sen­ta­bel zu ma­chen, nahm er ihn in sei­nem Schlit­ten mit in die klei­ne Nach­bar­stadt, wo er im Café des Haupt­plat­zes eine Ecke mit en­ra­gier­ten Schach­spie­lern wuss­te, de­nen er selbst er­fah­rungs­ge­mäß nicht ge­wach­sen war. Es er­reg­te bei der an­säs­si­gen Run­de nicht ge­rin­ges Stau­nen, als der Pfar­rer den fünf­zehn­jäh­ri­gen stroh­blon­den und rot­ba­cki­gen Bur­schen in sei­nem nach in­nen ge­tra­ge­nen Schafs­pelz und schwe­ren, ho­hen Schaft­s­tie­feln in das Kaf­fee­haus schob, wo der Jun­ge be­frem­det mit scheu nie­der­ge­schla­ge­nen Au­gen in ei­ner Ecke ste­hen blieb, bis man ihn zu ei­nem der Schach­ti­sche hin­rief. In der ers­ten Par­tie wur­de Mir­ko ge­schla­gen, da er die so­ge­nann­te Si­zi­lia­ni­sche Er­öff­nung bei dem gu­ten Pfar­rer nie ge­se­hen hat­te. In der zwei­ten Par­tie kam er schon ge­gen den bes­ten Spie­ler auf Re­mis. Von der drit­ten und vier­ten an schlug er sie alle, einen nach dem an­de­ren.
Nun er­eig­nen sich in ei­ner klei­nen süd­sla­wi­schen Pro­vinz­stadt höchst sel­ten auf­re­gen­de Din­ge; so wur­de das ers­te Auf­tre­ten die­ses bäu­er­li­chen Cham­pi­ons für die ver­sam­mel­ten Ho­no­ra­tio­ren un­ver­züg­lich zur Sen­sa­ti­on. Ein­stim­mig wur­de be­schlos­sen, der Wun­der­kna­be müss­te un­be­dingt noch bis zum nächs­ten Tage in der Stadt blei­ben, da­mit man die an­de­ren Mit­glie­der des Schach­klubs zu­sam­men­ru­fen und vor al­lem den al­ten Gra­fen Sim­c­zic, einen Fa­na­ti­ker des Schach­spiels, auf sei­nem Schlos­se ver­stän­di­gen kön­ne. Der Pfar­rer, der mit ei­nem ganz neu­en Stolz auf sei­nen Pfleg­ling blick­te, aber über sei­ner Ent­decker­freu­de doch sei­nen pflicht­ge­mä­ßen Sonn­tags­got­tes­dienst nicht ver­säu­men woll­te, er­klär­te sich be­reit, Mir­ko für eine wei­te­re Pro­be zu­rück­zu­las­sen. Der jun­ge Czen­to­vic wur­de auf Kos­ten der Scha­che­cke im Ho­tel ein­quar­tiert und sah an die­sem Abend zum ers­ten Mal ein Was­ser­klo­sett. Am fol­gen­den Sonn­tagnach­mit­tag war der Schach­raum über­füllt. Mir­ko, un­be­weg­lich vier Stun­den vor dem Brett sit­zend, be­sieg­te, ohne ein Wort zu spre­chen oder auch nur auf­zu­schau­en, einen Spie­ler nach dem an­de­ren; schließ­lich wur­de eine Si­mul­tan­par­tie vor­ge­schla­gen. Es dau­er­te eine Wei­le, ehe man dem Un­be­lehr­ten be­greif­lich ma­chen konn­te, dass bei ei­ner Si­mul­tan­par­tie er al­lein ge­gen die ver­schie­de­nen Spie­ler zu kämp­fen hät­te. Aber so­bald Mir­ko die­sen Usus be­grif­fen, fand er sich rasch in die Auf­ga­be, ging mit sei­nen schwe­ren, knar­ren­den Schu­hen lang­sam von Tisch zu Tisch und ge­wann schließ­lich sie­ben von den acht Par­ti­en.
Nun be­gan­nen große Be­ra­tun­gen. Ob­wohl die­ser neue Cham­pi­on im stren­gen Sin­ne nicht zur Stadt ge­hör­te, war doch der hei­mi­sche Na­tio­nal­stolz leb­haft ent­zün­det. Vi­el­leicht konn­te end­lich die klei­ne Stadt, de­ren Vor­han­den­sein auf der Land­kar­te kaum je­mand bis­her wahr­ge­nom­men, zum ers­ten Mal sich die Ehre er­wer­ben, einen be­rühm­ten Mann in die Welt zu schi­cken. Ein Agent na­mens Kol­ler, sonst nur Chan­son­net­ten und Sän­ge­rin­nen für das Ka­ba­rett der Gar­ni­son ver­mit­telnd, er­klär­te sich be­reit, so­fern man den Zu­schuss für ein Jahr leis­te, den jun­gen Men­schen in Wien von ei­nem ihm be­kann­ten aus­ge­zeich­ne­ten klei­nen Meis­ter fach­mä­ßig in der Schach­kunst aus­bil­den zu las­sen. Graf Sim­c­zic, dem in sech­zig Jah­ren täg­li­chen Schach­spie­les nie ein so merk­wür­di­ger Geg­ner ent­ge­gen­ge­tre­ten war, zeich­ne­te so­fort den Be­trag. Mit die­sem Tage be­gann die er­staun­li­che Kar­rie­re des Schif­fer­soh­nes.
Nach ei­nem hal­b­en Jah­re be­herrsch­te Mir­ko sämt­li­che Ge­heim­nis­se der Schach­tech­nik, al­ler­dings mit ei­ner selt­sa­men Ein­schrän­kung, die spä­ter in den Fach­krei­sen viel be­ob­ach­tet und be­spöt­telt wur­de. Denn Czen­to­vic brach­te es nie dazu, auch nur eine ein­zi­ge Schach­par­tie aus­wen­dig – oder wie man fach­ge­mäß sagt: blind – zu spie­len. Ihm fehl­te voll­kom­men die Fä­hig­keit, das Schlacht­feld in den un­be­grenz­ten Raum der Fan­ta­sie zu stel­len. Er muss­te im­mer das schwarz-wei­ße Kar­ree mit den vierund­sech­zig Fel­dern und zwei­und­drei­ßig Fi­gu­ren hand­greif­lich vor sich ha­ben; noch zur Zeit sei­nes Wel­truh­mes führ­te er stän­dig ein zu­sam­men­leg­ba­res Ta­schen­schach mit sich, um, wenn er eine Meis­ter­par­tie re­kon­stru­ie­ren oder ein Pro­blem für sich lö­sen woll­te, sich die Stel­lung op­tisch vor Au­gen zu füh­ren. Die­ser an sich un­be­trächt­li­che De­fekt ver­riet einen Man­gel an ima­gi­na­ti­ver Kraft und wur­de in dem en­gen Krei­se eben­so leb­haft dis­ku­tiert, wie wenn un­ter Mu­si­kern ein her­vor­ra­gen­der Vir­tuo­se oder Di­ri­gent sich un­fä­hig ge­zeigt hät­te, ohne auf­ge­schla­ge­ne Par­ti­tur zu spie­len oder zu di­ri­gie­ren. Aber die­se merk­wür­di­ge Ei­gen­heit ver­zö­ger­te kei­nes­wegs Mir­kos stu­pen­den Auf­stieg. Mit sieb­zehn Jah­ren hat­te er schon ein Dut­zend Schach­prei­se ge­won­nen, mit acht­zehn sich die un­ga­ri­sche Meis­ter­schaft, mit zwan­zig end­lich die Welt­meis­ter­schaft er­obert. Die ver­we­gens­ten Cham­pi­ons, je­der Ein­zel­ne an in­tel­lek­tu­el­ler Be­ga­bung, an Fan­ta­sie und Kühn­heit ihm un­er­mess­lich über­le­gen, er­la­gen eben­so sei­ner zä­hen und kal­ten Lo­gik wie Na­po­le­on dem schwer­fäl­li­gen Ku­tu­sow, wie Han­ni­bal dem Fa­bi­us Cunc­ta­tor, von dem Li­vi­us be­rich­tet, dass er gleich­falls in sei­ner Kind­heit der­art auf­fäl­li­ge Züge von Phleg­ma und Im­be­zil­li­tät ge­zeigt habe. So ge­sch­ah es, dass in die il­lus­t­re Ga­le­rie der Schach­meis­ter, die in ih­ren Rei­hen die ver­schie­dens­ten Ty­pen in­tel­lek­tu­el­ler Über­le­gen­heit ver­ei­nigt – Phi­lo­so­phen, Ma­the­ma­ti­ker, kal­ku­lie­ren­de, ima­gi­nie­ren­de und oft schöp­fe­ri­sche Na­tu­ren – zum ers­ten Mal ein völ­li­ger Out­si­der der geis­ti­gen Welt ein­brach, ein schwe­rer, maul­fau­ler Bau­ern­bur­sche, aus dem auch nur ein ein­zi­ges pu­bli­zis­tisch brauch­ba­res Wort her­aus­zu­lo­cken selbst den ge­ris­sens­ten Jour­na­lis­ten nie ge­lang. Frei­lich, was Czen­to­vic den Zei­tun­gen an ge­schlif­fe­nen Sen­ten­zen vor­ent­hielt, er­setz­te er bald reich­lich durch An­ek­do­ten über sei­ne Per­son. Denn ret­tungs­los wur­de mit der Se­kun­de, da er vom Schach­bret­te auf­stand, wo er Meis­ter oh­ne­glei­chen war, Czen­to­vic zu ei­ner gro­tes­ken und bei­na­he ko­mi­schen Fi­gur; trotz sei­nes fei­er­li­chen schwar­zen An­zu­ges, sei­ner pom­pö­sen Kra­wat­te mit der et­was auf­dring­li­chen Per­len­na­del und sei­ner müh­sam ma­ni­kür­ten Fin­ger blieb er in sei­nem Ge­ha­ben und sei­nen Ma­nie­ren der­sel­be be­schränk­te Bau­ern­jun­ge, der im Dorf ...

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