19.–21. Jahrhundert:
Zwischen nationalem Diskurs und europäischer Integration Sprach-, Kirchen- und Identitätsgrenzen. Schleswig als komplizierter Fall
Lars N. Henningsen
„ ‚Only three people,’ said Palmerston, ‚have ever really understood the Schleswig-Holstein business – the Prince Consort, who is dead – a German professor, who has gone mad – and I, who have forgotten all about it.’”1 Das berühmte Diktum des britischen Premierministers Palmerston über die Schwierigkeiten des schleswigschen Problems trifft auch zu, wenn wir nicht die politischen, sondern die Sprach-, Kirchen- und Identitätsgrenzen im Herzogtum Schleswig vor 1864 betrachten. Bereits bei einem Blick auf dessen Außengrenzen mögen wir an Palmerstons Worte denken. Seit 811 galt die Eider als staatsrechtliche Grenze zwischen dem dänischen Lehen Schleswig und dem südlichen Nachbarn Holstein. Die Eider war allerdings nicht die Volksgrenze, denn diese lag innerhalb des schleswigschen Gebiets, auf einer groben Linie von Husum, das Danewerk entlang und weiter ostwärts in Richtung Eckernförde.2
Bis zum Danewerk und einschließlich des DänischenWohldes wurde das Land seit dem 13. Jahrhundert von Süden aus besiedelt – hier sind die Ortsnamen in der Hauptsache deutsch. Dänische Ortsnamen überwiegen nördlich des Danewerks. Das heisst: der südlichste Teil von Schleswig gehörte immer zum deutschen Kulturraum. Dänische Sprache und Identität im modernen Sinne treffen wir hier erst nach 1945.
Sprach- und Kirchengrenzen
Schon im Mittelalter stellte Schleswig in sprachlicher Hinsicht ein Grenzland dar. Über Flensburg schrieb etwa Christiern Pedersen, der dänische Bibelübersetzer König Christians III., im Jahre 1531: „Man spricht dort dänisch und deutsch gemischt.”3 Diese Aussage kann zweifellos auf das ganze Herzogtum erweitert werden. Eine gute Darstellung der Verhältnisse Mitte des 17. Jahrhunderts gibt Caspar Danckwerth in seiner „Newe Landesbeschreibung der zwey Hertzogthümer Schleswig und Holstein” aus dem Jahr 1652:
„Zu diesen unsern Zeiten wohnen in diesem Hertzogthume Dänen oder Jüthen, Sachsen und Friesen. Die Jüthen besitzen den grössesten Teihl daran, sintemal alles von Coldingen biß an den Schliestrohm und die Stadt Schleßwich Jütisch ist oder Dänische Völcker, so sich der Dänischen Sprache gebrauchen, etwa die Stadt Flenßburg außgenommen, so von Dänen und Teutschen untermenget. Die Stadt Schleßwich und was ferner von der Schley an biß an die Eyder und LevensAu belegen, wird mehrenteihls von Sachsen bewohnet, die gebrauchen sich der Niedersächsischen Sprache. … Von der Grenze oder Schodtburgischen Au an biß an Tundern wohnen abermahl lauter Jüthen, hernach aber kommen die Nord-Friesen, welche nicht allein die Marschländer von Tundern an biß an die Eyder inne haben, sondern auch einen Teihl auff der Geest oder dem Hohenlände besitzen. … Diese Einwohner reden zwar heut zu Tage gemeinlich Teutsch oder Niedersächsisch; die nach dem Norden belegene wissen auch ihre Dänische und daneben ihre Altfriesische Sprache zu reden, also daß selbige Leute trilingues dreyzüngig seyn.”4
Wenig hatte sich zu Danckwerths Zeit seit den vorangegangenen Jahrhunderten geändert und bezüglich der Umgangssprache sollte sich bis etwa 1800 nur wenig ändern.
Die Kultursprache, d.h. die Sprache in Kirche, Schule und Verwaltung, folgte anderen Grenzen. Das Bistum Schleswig mit der Stadt Schleswig als Sitz des Bischofs und später des Generalsuperintendenten umfasste den südlichen Teil des Herzogtums, im Nordwesten bis an die Stadt Tondern heran und im Nordosten bis an den Kolding-Fjord. Die Inseln Alsen und Aerö gehörten hingegen zum Bistum Odense und der nordwestliche Teil ab Tondern zum Bistum Ribe. Diese kirchlichen Verwaltungsgrenzen hatten auch Auswirkungen auf die Sprachentwicklung. Im Gebiet der Bistümer Ribe und Odense galt die dänische Kirchensprache; hier waren Kirchensprache und Sprache der Bevölkerung also identisch. In der Schleswiger Bischofsstadt und den dortigen kirchlichen Ausbildungsstätten sowie in der Kirchenverwaltung war die Sprache Niederdeutsch – und natürlich Latein. In den Kirchen des Schleswiger Sprengels entwickelten sich die Dinge naturgemäß ähnlich; hier wurde Niederdeutsch gesprochen und seit etwa der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch Hochdeutsch. Nur im nordöstlichen Teilgebiet des Schleswiger Sprengels verhielt es sich anders. So wurde am Haderslebener Domkapitel seit 1309 eine Predigerschule betrieben, an der die Pastoren für die dänischsprachigen Kirchspiele um Hadersleben ausgebildet wurden. Denn hier war Dänisch Schulsprache und entwickelte sich dadurch auch zur Kirchensprache.5
Mitte des 16. Jahrhunders hatte sich mithin eine durch die Sprache definierte Kulturgrenze quer durch das Herzogtum gebildet. Südlich einer Linie, die südlich von Tondern begann und bis nördlich von Bau und Flensburg führte, herrschte die deutsche Sprache in Kirche und Schule vor, nördlich davon die dänische Kirchensprache. Das galt zumindest für die ländlichen Regionen, denn auch im Norden war in allen Städten die Kirchensprache weitgehend Deutsch. Nur in den Landgebieten des nördlichen Schleswig bestand also zwischen Kirchen- und Umgangssprache Übereinstimmung.6
Diese regionalen Unterschiede erwiesen sich für die Arbeit der Pastoren und später auch der Lehrer nicht gerade als förderlich. Besonders die Pietisten des 18. Jahrhunderts, die gern einen „lebenden” und nicht nur den „rechten” Glauben verwirklichen wollten, waren sich darüber im klaren, dass eine fehlende Übereinstimmung von Kirchen- und Schulsprache in der Bevölkerung problematisch war. Die zeitgenössischen Visitationsberichte bezeugen das in Hülle und Fülle. In seinem Visitationsbericht über die Landschaft Angeln aus der Zeit um 1760 schreibt etwa der Generalsuperintent Adam Struensee:
„Als ein Haupt-Hindernis der Beförderung der Erkenntniß göttlicher Wahrheiten bei vielen Gemeinden ist ohne Zweifel dieses [anzusehen], daß in Angeln von allen Einwohnern die dänische Sprache in ihren Häusern und im privat-Umgang geredet wird. Da nun der Gottesdienst in teutscher Sprache geschiehet, und die Kinder fast gar keine Gelegenheit haben teutsch zu reden und verstehen zu lernen: so sind sie bey heranwachsenden Jahren nicht im Stande, den wahren Nutzen für ihre Seele von dem öffentlichen Gottesdienste zu erlangen.”7 Auch eine Pastorenwahl von 1845 im südlich von Tondern gelegenen Humtrup ist vor diesem Hintergrund aufschlussreich. Die Schwägerin des Wahlkandidaten Heinrich Nicolai Schultz schreibt in einem Brief über dessen Erfahrungen mit der deutschen Predigt unter der dänischsprechenden Bevölkerung:
„Sie reden alle Dänisch, allen Unterricht und Predigten bekommen sie aber in deutscher Sprache. Der Schullehrer und der Propst in Tondern erklärten, daß nur ganz wenige ein Wort verstehen konnten. Er war überzeugt, daß sie den Pastor nicht nach dem Inhalt seiner Rede wählten, sondern nach dem Eindruck, den seine Stimme und sein Benehmen auf sie machten.”8
Auch die Verwaltungssprache war mit der Umgangssprache und teilweise auch der Kirchensprache nicht identisch, denn seit dem späten Mittelalter war Niederdeutsch, seit Ende des 16. Jahrhunderts Hochdeutsch die Amtssprache. Allein als Gerichtssprache im Bereich der Harden konnte sich das Dänische in Teilen Nordschleswigs bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts erhalten. Seit studierte Juristen seit den 1740er Jahren die Posten der Hardesvögte übernahmen, verschwand das Dänische aber auch hier bis in die 1820er Jahre.9 Nur die Kirche nördlich der kirchlichen Sprachgrenze blieb in den Landgemeinden der letzte Zufluchtsort für das Dänische. Die Amtssprache der Pastoren untereinander und mit ihren Vorgesetzten war jedoch überall in den Kirchspielen des Schleswiger Generalsuperintendur – auch nördlich der Sprachgrenze – deutsch.10
Die Sprachverhältnisse waren lange Zeit recht stabil und erst um 1800 konnte die deutsche Umgangssprache auf Kosten des Dänischen allmählich Fortschritte verbuchen. Es begann in Angeln, wo zwischen 1800 und 1850 das Dänische als Umgangssprache mehr oder weniger verschwand. Eine der wichtigsten Ursachen hierfür stellte der Ausbau eines effektiven Volksschulwesens mit deutscher Unterrichtssprache durch die Schulreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts dar. In einem Brief betonte etwa der Schleswiger Amtmann Schack Staffelt im Jahre 1825 ganz klar die Bedeutung der Schule für den Sprachwandel:
„Zu beklagen ist, dass die alte dänische Mundart in Angeln mehr und mehr hinstirbt, besonders nachdem die Schulen besser werden und das Hochdeutsche in den Unterricht eingeführt wird. Früher benutzten die Angler immer Dänisch untereinander, nur mit anderen sprachen sie Niederdeutsch, jetzt aber prahlt der Angler Landmann mit seiner hochdeutschen Sprache.”11
Andere Faktoren, insbesondere die Verbürgerlichung der Bauern, spielten auch eine Rolle. Auf der ärmeren Geest verlief dieser Prozeß entsprechend langsamer. Hier behauptete sich das Dänische als Umgangssprache länger.
Der allgemeine Rückgang der dänischen Umgangssprache vermittelte der Sprachenfrage Aktualität. Bereits im 18. Jahrhundert war von dänischer Seite mehrfach überlegt worden, die sprachlichen Verhältnisse im Herzogtum zu regulieren und das Dänische zu stärken. König Christian VI. ließ entsprechend im Jahre 1739 die sprachlichen Verhältnisse untersuchen und eine Verordnung erlassen, wonach alle Pastoren und Schullehrer Kenntnisse sowohl der deutschen als auch der dänischen Sprache besitzen sollten. Die Auswirkungen waren indes begrenzt. 1807 wurde wiederum bestimmt, dass fortan alle Verordnungen in beiden Sprachen publiziert werden sollten; und im Jahre 1810 ordnete Friedrich VI. eine Untersuchung an, die feststellen sollte, ob das Dänische als Kirchen-, Schul- und Gerichtssprache dort eingeführt werden könne, wo es Umgangssprache war. Die Beamten rieten aber von einer solchen Reform ab, und die Sache wurde eingestellt. Das Interesse an der Sprachfrage stieg gleichwohl seit Beginn des 19. Jahrhunderts stetig an. 1815 wurde beispielsweise eine Preisaufgabe über die Geschichte der dänischen Sprache in Schleswig ausgeschrieben, und in den 1830er Jahren erfuhren die Sprachverhältnisse mehrfach wissenschaftliche Untersuchung und Kartierung.12
Die Sprachenfrage wurde schließlich von dänischgesinnten Kreisen in Kopenhagen aufgegriffen, so von der Gesellschaft für den rechten Gebrauch der Pressefreiheit (1836), vom Verein zur Förderung dänischer Lektüre in Schleswig (1839) oder von der 1838 in Hadersleben gegründeten dänischen Zeitung „Dannevirke”. Seit 1836 war das Sprachenproblem auch Gegenstand lebhafter Debatten in den Ständeversammlungen. Noch in jenem Jahr wurde von einem Deputierten aus Nordschleswig der Antrag auf Einführung dänischer Obrigkeitsund Rechtssprache, dort wo sie Unterrichtssprache war, d.h. auf dem Land in Nordschleswig, gestellt. 1838 wurde dieser Sprachantrag in der Schleswiger Ständeversamm...